Franziskaner Mission 3 | 2020

Corona, Kirchen und der liebe Gott Inspirationen für eine bessere Zukunft Die Corona-Pandemie hat alles verändert. Stimmt das? Man könnte auch sagen: Das Virus hat auf vieles hingewiesen, was schon lange da war, was wir aber nicht sehen wollten. Es hat wie ein Brennglas zur Schlagzeile vergrößert, was wir sonst gerne als Kleingedrucktes überlesen. Wir wissen, dass es prekäre Arbeitsver- hältnisse gibt, moderne Sklavenmärkte, aber erst als das Virus in der fleischverar- beitenden Industrie auftauchte, konnten wir nicht mehr einfach wegschauen. Wir kennen Statistiken über Gewalt im familiären Bereich, aber erst als Schulen während des Lockdowns Sorgentelefone einrichteten, wurde uns klar, dass diese Gewalt vielleicht auch nebenan ge- schieht. Es ist bekannt, dass Fake News und krude Verschwörungstheorien zum Handwerkszeug von Populisten und religiösen Fundamentalisten gehören, aber erst in Corona-Zeiten erschrecken wir, wie schnell das zur Ausgrenzung von Menschen und politischer Instabili- tät führen kann. COVID-19 als Brennglas – das gilt gerade auch für die Kirchen. Systemrelevant? Der Corona-Ausbruch legte von heute auf morgen alles lahm, was nicht »sys- temrelevant« war. Plötzlich wurden auch keine öffentlichen Gottesdienste mehr gefeiert, Gemeindegruppen konnten sich nicht treffen, Seelsorgerinnen hat- ten keinen Zugang zu Krankenhäusern und Hospizen. Dass die Kirchen hier verantwortungsbewusst vorgingen, um nicht Gesundheit und Leben zu gefähr- den, war richtig. Zugleich aber wurde auch mit einem Schlag deutlich, wie wenig »systemrelevant« wir inzwischen sind. Zur Not geht es auch ohne Sakra- mente und gemeinsames Gebet. Früher einmal war gerade in der Not die Kirche mit ihrer Botschaft wichtig. Wofür sind wir Christen (noch) da? Wer braucht uns? Was fehlt, wenn Kirche ausfällt? Immer mehr Menschen scheinbar nichts! Jahrhunderte- lang hat die Kirche den Wert der TEXT: Cornelius Bohl ofm | FOTO: Mazur Travel - stock.adobe.com sonntäglichen Eucharistie gepredigt und auch in härtesten Verfolgungszei- ten daran festgehalten, nun ging es scheinbar auch ohne. Seit Anfang des Christentums gehört die Erfahrung lebendiger Gemeinschaft zum Wesen der Kirche, nun saßen plötzlich die Gläubigen allein vor ihrem Laptop. Es ist uns wichtig, dass Liturgie von der lebendigen Teilnahme aller Mitfeiernden lebt, nun zelebrierten Priester in leeren Kirchen, so als brauche der klerikale Ritus gar kein »Volk«. Das, so dachten wir, wäre doch endlich überwunden. Schließlich stellt die Pandemie Gott selbst auf den Prüfstand. Mitten in unserem scheinbar nach allen Seiten hin abgesicherten und planbaren Leben hat das Virus vielen Menschen über Nacht den Boden unter den Füßen weggeris- sen und die Brüchigkeit unserer Existenz bloßgelegt: Wir sind verwundbar. Wir haben nicht alles im Griff. Ja, und auch das – wir sind sterblich! Plötzlich stapel- ten sich die Toten nicht in irgendeinem Krisengebiet am anderen Ende der Welt, sondern vor der Haustür, in Norditalien. Die Erfahrung von Endlichkeit, die Frage nach dem Warum, die Suche nach Halt und Sinn, das war bislang der Boden, auf dem die Tröstungen der Religion wuchsen. Auch das scheint vorbei. Heil erwarteten wir wohl eher von Virologen und Politikern. Es ist gut, dass die Kirche, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Pandemie nicht einem strafenden Gott zugeschrieben hat. Der Glaube ist in der Moderne angekommen. Da allerdings scheint man ihn nicht mehr zu brauchen. Es gibt kein Zurück Wird es einen Impfstoff gegen COVID- 19 geben? Hoffentlich. Wird dann alles wieder so sein wie zuvor? Hoffentlich nicht! Es gibt kein Zurück. Leben geht immer vorwärts. Ich bin un- sicher, ob die Pandemie einen glo- balen Lernprozess auslöst. Schnell und gerne fallen wir bei den ersten Lockerungen der Schutzmaßnah- men in alte Muster zurück. Den- noch: Wenn ich durch das Brennglas COVID-19 auf uns Christen schaue, entdecke ich durchaus Inspirationen für eine etwas andere Zukunft: • Bisher waren Krisen meistens lokal begrenzt. Die Corona-Pademie ist global. Sie verweist auf die Gefährdungen einer globalen Ver- netzung. Aber sie zeigt auch, dass niemand sich allein retten kann. Die entscheidende spirituelle Frage ist nicht, ob Gott straft, sondern ob wir solidarisch sind. • Es ist schon eine pervertierte Situa- tion: Jesus hat den Menschen Nähe geschenkt und damit den nahen Gott erfahrbar gemacht. Nähe ist heilsam. Heute ist Nähe gleich dop- pelt verdächtig und gefährlich: durch die Missbrauchsskandale und durch das Virus. Wird es uns Christen gelin- gen, verantwortungsbewusst Nähe zu leben und eine echte Pastoral der Nähe zu entwickeln? • »Ecclesia de eucharistia« heißt eine Enzyklika von Johannes Paul II.: Kirche entsteht und lebt aus der Eucharistie. Aber sie ist mehr als die Feier der Eucharistie. Was ihr einem anderen Menschen tut, das habt ihr mir getan, sagt Jesus. Das ist auch Realpräsenz. Gegen alle ritualistische Verengung auf einen priesterzent- rierten Sakramentalismus gilt es, den ganzen Reichtum gottesdienstlicher Feiern und die Fülle möglicher Christusbegegnungen im Alltag wie- 6

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