Franziskaner Mission 4 | 2020

Liebe Leserinnen, liebe Leser! Warum haben wir uns für das Bild von Señora Manuela als Titelseite unserer diesjährigen Weih- nachtsausgabe entschieden? Ihr Gesicht steht für ihre persönliche Biographie, mit allen Facetten eines langen Lebens. Señora Manuela ist eine sehr gläubige Seniorin aus dem bolivianischen Concep- ción. Als Leibeigene eines Großgrundbesitzers hat sie viel durchleiden müssen. Heute spricht ihr aus- geglichener Blick, wie der einer weisen Prophetin, den jüngeren Generationen Mut und Entschlossen- heit zu. Im alttestamentlichen Buch Deuteronomi- um 32,7 heißt es ja: »Denk an die Tage der Vergan- genheit, lerne aus den Jahren der Geschichte! […] Frag die Alten, sie werden es dir sagen.« Dieser Einladung folgt auch Jesus. Als gläu- biger Jude geht er in seiner Heimatstadt Nazaret am Sabbat in die Synagoge. Man reicht ihm die Thorarolle und er trägt den Anfang des 61. Kapi­ tels aus dem Buch des Propheten Jesaja vor. Jesus stellt sich ausdrücklich in die Tradition der Pro- pheten: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen.« Vom Propheten Jesaja übernimmt Jesus hehre Ziele: Armen die frohe Botschaft bringen, Gefangenen die Entlassung verkünden, Blinden das Augenlicht schenken, Zerschlagene in Freiheit setzen und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufen. Nach dieser prophetischen Verkündigung schließt Jesus mit den Worten: »Heute hat sich das Schrift- wort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.« (Lk 4,21) Also kommt es dann zur Erfüllung von Propheten- worten, wenn nachfolgende Generationen diese aufgreifen, sich damit identifizieren und sie zu ihren eigenen Lebenszielen erklären. Man könnte eine solche Tradition mit einem Stafettenlauf vergleichen. Gottes Wille verhallt nicht ungehört, sondern wird mutig und dynamisch weiter gegeben. Ein konkretes Beispiel heute ist Señora Manuela. Sie ruft uns allen zu: Nur Mut! Sie hofft, dass auch wir entschieden prophetisch leben wollen, so wie die Propheten im Alten Testament, wie Jesus Christus, wie Klara und Franziskus von Assisi, wie mahnende Stimmen gegen Populismus und Fake News. Die Thorarolle zieht sich, wie ein roter Faden, durch diese Ausgabe. Ob in Deutschland, Bolivien, Uganda, Brasilien, der D.R. Kongo, Vietnam oder Indien – viele franziskanisch- klarianische Menschen belegen durch ihr Handeln, dass sie sich in die Tradition der Propheten gestellt haben und so dem Beispiel Jesu folgen. Gerade in Krisenzeiten ist es inspirierend und ermutigend, von vielen Orten der Welt zu hören, dass Gottes Wille nicht nur verkündigt, sondern auch heute noch verwirklicht wird. Pater Cornelius Bohl, Provinzial der deutschen Franziskaner, sagt zum Thema dieses Heftes: »Prophetinnen und Propheten sind Frauen und Männer, die aus einer klaren Entscheidung heraus leben: Sie kämpfen im Bewusstsein ihrer Verantwortung vor Gott für die Würde des Menschen, für Gerechtigkeit und Wahrheit. Und sie erheben prophetischen Widerspruch, wo Menschen ausge- grenzt, unterdrückt, ausgebeutet und missbraucht werden. Sie sagen klar ›Ja‹ und ebenso klar ›Nein‹. Sie legen ihren Finger in die Wunden einer Zeit und decken Lügen auf.« Die Franziskaner Mission ist dankbar für all die Schilderungen prophetischen Lebens und Handelns. Gerade am Ende dieses Corona-Jahres, das uns vor unerwartete Herausforderungen gestellt hat, schen- ken solche Beispiele uns – zusammen mit Señora Manuela (Emanuel: Gott mit uns) – die Sicherheit, dass wir mit unseren Hoffnungen und Träumen nicht alleine sind. Den Weihnachts- und Neujahrswün- schen von Pater Cornelius schließen wir uns gerne an: »Klarer hätte Gott nicht ›Ja‹ sagen können zu uns Menschen und zu dieser Welt als dadurch, dass er selbst in genau dieser Welt Mensch wird wie wir. Dieser Glaube lässt uns dann auch mit Zuversicht in ein neues Jahr gehen.« Frieden und alles Gute, Br. Augustinus Diekmann ofm Leiter der Franziskaner Mission Dortmund TITEL Das Bild von Alicja Piekarska zeigt Señora Manuela aus dem bolivia- nischen Concepción. Sie arbeitete fast ihr ganzes Leben als Leibeigene eines Großgrundbesitzers. Sie ist arm und lebt in einer Hütte ohne Strom, ohne fließendes Wasser. Manuela kann weder lesen noch schreiben. Sie weiß auch nicht genau, wie alt sie ist. Aber jede ihrer Falten erzählt einen Teil ihres Lebens. Ihr Name Manuela – »Gott ist mit uns« – wird für sie Programm. Sie teilt alles, Freud und Leid. Señora Manuela ist weise. Sie ermuntert uns alle, prophetisch zu leben. 3

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