Franziskaner Mission 4 | 2020

Was sind Propheten? Eine biblische Begriffsannäherung Wenn wir heute von biblischen Propheten sprechen, denken wir vermutlich haupt­ sächlich an die Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel, vielleicht noch an Amos, Jona oder auch Elija. Im Alten Testament gibt es aber weitaus mehr Propheten als diese. Die Juden benennen sogar einen ganzen Teil ihrer Bibel mit dem Titel Prophe- ten (»Nebiim«). Er umfasst die Bücher Josua, Richter, 1 und 2 Samuel, 1 und 2 Könige, die in christlichen Bibel- ausgaben zu den Geschichtsbüchern zählen und als »Vordere Propheten« bezeichnet werden. Hinzukommen die drei großen Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel sowie die zwölf kleinen Propheten (Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja und Maleachi), die als »Hintere Propheten« bezeichnet werden. Darüber hinaus rechnen wir Christen die Klagelieder, Baruch und Daniel zu den Propheten. Die »Hinteren Propheten« werden in der christlichen Tradition Schriftpropheten oder klassische Prophe- ten genannt, wohingegen die »Vorderen Propheten« als vorklassische Propheten bezeichnet werden. Es wird deutlich, dass ein großer Teil sowohl des jüdischen als auch des christlichen Alten Testaments aus pro- phetischen Schriften besteht. Aber was bedeutet Prophetie im Alten Testament? Was zeichnet sie aus? Reiche Bedeutung Heute werden Menschen, die die Zu- kunft vorhersagen, landläufig als Pro- pheten bezeichnet. Allerdings ist dies eine Verengung einer ursprünglich rei- cheren Bedeutung. Im Alten Testament sind die Propheten vor allem Zeitkritiker, die von ihrer Zukunftserwartung her die Gegenwart analysieren. So beur- teilt zum Beispiel der Prophet Jesaja die Politik des jeweiligen Herrschers vor dem Hintergrund eines bestimmten Gottes- verständnisses. Er empfiehlt dem Volk Israel, nicht der eigenen Politik, sondern JHWH zu vertrauen: »Denn so spricht der GOTT, der Herr, der Heilige Israels: TEXT: Dr. Johannes Roth ofm | FOTO: P. Andreas Hermann Fritsch FSO Durch Umkehr und Ruhe werdet ihr gerettet, im Stillhalten und Vertrauen liegt eure Kraft.« (Jesaja 30,15) JHWH erweist sich als ein geschichtsmächtiger Gott, der die verfeindeten Völker Israels für seine Pläne benutzen, aber auch in die Schranken weisen kann. Das hebräische Wort »nabi« heißt so viel wie »berufener Redner«. Zusätzlich gibt es im Alten Testament weitere Titel, die für Propheten ver- wendet werden: »Gottesmann« und »Seher« oder »Schauer«. Der Titel »Gottesmann« impliziert die Fähigkeit zu wunderbaren Taten. So heilt zum Beispiel Elischa den syrischen Offizier Naaman von seinem Aussatz (vgl. 2 Könige 5). Der Titel »Seher/Schau- er« meint, dass diesen Propheten die Botschaft Gottes in einer Vision oder Audition in Ekstase verkündet wird. Samuel und Gad werden »Seher/Schau- er« genannt, wohingegen Amos und Jesaja sich selbst als solche bezeichnen. Der am meisten verwendete Titel ist aber »nabi«, der zum Beispiel Mose, Debora, Natan, Jeremia und Ezechiel gegeben wird. Die unterschiedlichen Titel deuten auf die vielfältigen Auf­ gaben der Propheten hin. Beamte oder freie Propheten Insgesamt gibt es vier Typen von Propheten: Ordens- oder Genossen­ schaftspropheten, Tempel- oder Kult­ propheten, Hofpropheten und freie, oppositionelle Einzelpropheten. Die Ordens- oder Genossen- schaftspropheten lebten in einer Art Konvent von Prophetenjüngern, die sich um eine herausragende Gestalt gruppierten. Durch Ekstase und Tanz stellten sie Kontakt zu Gott her. Ihre Hauptaufgabe war die Verkündigung 6

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