Franziskaner Mission 4 | 2020

Jesus in Nazaret Gemeinsame prophetische Tradition »Jesus kam auch nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging, wie gewohnt, am Sabbat in die Synagoge. Als er aufstand, um vorzulesen, reichte man ihm die Buchrolle des Propheten Jesaja. Er öffnete sie und fand die Stelle, wo geschrieben steht: ›Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.‹« Lukas 4,16-19 (vgl. Jesaja 61,1-2) Frag jemanden, ob er oder sie gerne Prophet sein würde, und du wirst spüren, ob du einen vor dir hast. Es gibt nicht den Berufswunsch Prophetin oder Prophet – dies gilt nur für die falschen Propheten. Die wahren Propheten versuchen sich zu weh- ren – gegen diesen ihren Auftrag, der nicht den gegenwärtigen Status quo festigen will und dies auch nicht kann, sondern genau dort einen unbe- quemen Hebel ansetzt. Jesus steht in dieser prophetischen Tradition, deren Ziel es letztlich ist, den Menschen zum Vertrauen auf Gott zu führen. Dort, wo Könige ihre Truppen zählen, werden sie von den Propheten gerügt – auch dort, wo die Herrscher Allianzen gegen Feinde schmieden wollen, fragen sie scharf nach: »Wollt ihr jetzt auf Gott vertrauen oder auf den Bündnis- partner?« Das prophetische Wort ist ein Stachel im Fleisch der Gleichgültigkeit. Es fordert Aufmerksam- keit, weil das Leben – so wie es ist – nicht weiter­ gehen kann. Mut zum Widerstand Die Worte, die Jesus aus der Schriftrolle vorliest, sind positive Formulierungen für einen heilsamen Wandel – und die Menschen in Nazaret sind begeistert: »Alle stimmten ihm zu und waren erstaunt über die Worte der Gnade, die aus seinem Mund hervorgingen.« (Lukas 4,22) Alle sind begeistert von Jesus, von seinen Worten, die endlich Freiheit und Heilung versprechen – doch noch im gleichen Absatz im Lukasevangelium wollen sie ihn töten. Prophetenschicksal: Sie begeistern und bringen Menschen in unglaublichen Widerstand. In den gnadenreichen Worten, die Jesus aus dem Buch Jesaja zitiert, steckt auch die Beschreibung der Missstände: Die Armen, die die frohe Botschaft hören, gibt es allezeit, und Reiche, die von Habgier besessen sind, sorgen dafür, dass es so bleibt. Einflussreiche Menschen, die sich auf die Seite der Armen stellen, werden zur Zielscheibe destruktiver Kritik und, gleich den biblischen Propheten, aus dem Weg geschafft. TEXT: René Walke ofm | FOTO: dietermann /pixelio.de 8

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