Franziskaner Mission 1 | 2021

wurden allein im Stadtteil ›20. Oktober‹, in dem etwa 1.500 Familien leben, 20 Fälle von häuslicher Gewalt gemeldet. Die Justizbehörden verlangen von den Opfern, die Vorladung persönlich an die Beschuldigten zu überbringen. Dies ist für sie natürlich sehr gefährlich, da mit einer aggressiven Reaktion gerech- net werden muss. Auch werden häufig Staatsanwälte und Beamte im laufenden Verfahren ausgewechselt, was die Opfer noch mehr entmutigt. Es zwingt die Frauen dazu, die traumatischen Erfah- rungen erneut zu erleben, wenn sie den Prozess fortsetzen möchten.« Nach Angaben der Vereinten Nationen schließen nur fünf Prozent der Opfer das Gerichtsverfahren ab. In den meisten Fällen geben die Frauen auf, bevor sie Gerechtigkeit erlangen. Wenn es möglich ist, ein Beschwerde- verfahren einzuleiten, stellen wir leider fest, dass es nicht viele mit dem Gesetz 348 vertraute Mitarbeiter gibt, die den Opfern wirksamen Schutz und Beglei- tung im Verfahren garantieren können. Zum Beispiel wurde eines der weiblichen Opfer, das ich begleitete, nach dem Prozess brutal und ungestraft von ihrem Partner angegriffen, und wir mussten ihr bei der Flucht helfen, um ihr Leben und das ihrer beiden kleinen Kinder zu schützen. In einem anderen Fall flüchtete eine Frau in ein staatliches Heim, in dem es keine psychologische Betreuung und keine Grundversorgung gab, und sie die Kosten für Lebensmittel selber tragen musste. Aus diesem Grund kehrte die Frau zu ihrem Peiniger zurück, damit ihre Kinder zu Essen hatten und zur Schule gehen konnten. Die Anzeige eines Gewaltaktes bei der Polizei ist oft problematisch. Obwohl das Gesetz 348 eine Schlich- tung untersagt, wird den Frauen von den Polizeibeamten vorgeschlagen, sich mit dem Täter zu versöhnen, um die Probleme nicht zu verschärfen. Man beschuldigt sie dort zudem, für die Ge- walt selbst verantwortlich zu sein. Die Beamten fragen zum Beispiel: »Was hast In Bolivien gilt seit 2013 ein Gesetz zur Gewährleistung eines gewaltfreien Lebens von Frauen (Gesetz 348). Die Realität der Frauen hat sich jedoch seitdem nicht wesentlich geändert. Die Fallzahlen, die als Straftaten eingestuft sind, sind sehr hoch. Die fehlende wirtschaftliche Selb- ständigkeit der Frauen und die damit einhergehende finanzielle Abhängigkeit, ist ein relevanter Faktor dafür, dass die Frauen keinen Ausweg aus der Situation haben. Drohungen und psychische Er- niedrigung führen dazu, dass Frauen die körperliche Gewalt ertragen. Entgegen den gesetzlichen Bestimmungen haben die Gemeinden keine Frauenhäuser, in denen die Opfer Schutz suchen könn- ten. Beispielsweise gibt es in der Groß- stadt Cochabamba lediglich ein einziges Frauenhaus, das jedoch Mängel in der angebotenen Hilfe und der Unterbrin- gung aufweist. Nach Angaben der Generalstaats- anwaltschaft wird in Bolivien alle drei- einhalb Tage ein Femizid (Frauenmord) gemeldet. Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes im Jahr 2013 (26 Fälle) sind die erfassten Zahlen immer weiter ange- stiegen. Im Jahr 2020 wurden weit über 100 Fälle von Frauenmord registriert. Die »franziskanische Bewegung für Ge- rechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« (GFBS) betreut in Zusam- menarbeit mit RUN-Bolivien (Ordens- mitglieder mit beratendem Status bei den in Bolivien anwesenden Vereinten Nationen) Gruppen von Frauen, die Opfer von Gewalt wurden. Im vergan- genen Jahr haben wir hierüber einen Bericht in der UPR (Universal Periodic Review, Prüfverfahren für Menschen- rechtslage) der Vereinten Nationen vorgelegt. Eine der Leiterinnen, Señora Paulina Beltrán, hat dort ihre Erfahrun- gen bei der Begleitung von weiblichen Opfern von Gewalt geschildert: »Bei meiner Arbeit als Gemeindeleiterin hatte ich die Gelegenheit, viele Frauen zu begleiten, die körperliche Gewalt erlitten und es gewagt haben, ihre Peiniger zu melden. Im ersten Halbjahr 2019 Gewalt gegen Frauen in Bolivien du getan, um die Schläge zu provo- zieren?« Darüber hinaus übt auch das soziale Umfeld der Frauen Druck auf sie aus, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. Die Unkenntnis des rechtlichen Rahmens in der Bevölkerung ist ebenfalls eine Herausforderung. Insbesondere in länd- lichen Gebieten und in sozialen Brenn- punkten gibt es nur wenig Aufklärung über die eigentlich gesetzlich garan- tierten Möglichkeiten. Hinzu kommt, dass die ohnehin wenigen Schulungen ausschließlich auf Spanisch abgehal- ten werden, aber die Frauen oft nur die indigenen Sprachen der jeweiligen Region verstehen. Deshalb werden viele Fälle von Gewalt gegen Frauen nicht gemeldet und bleiben in der Statistik unsichtbar. Die franziskanische Bewegung »GFBS« betont, dass das jetzige Enga- gement zum Schutz der Frauenrechte in Bolivien nicht ausreicht. Es müssen kon- krete Maßnahmen zur Prävention, zum Opferschutz und zu Entschädigungen erfolgen. All das muss begleitet werden von Bildungs- und Trainingsprogram- men für Frauen, um die Hauptursachen dieses Problems anzugehen. Nur befä- higte Frauen, wirtschaftlich unabhängig und in ihren Rechten geschult, können sich mit Unterstützung staatlicher Insti- tutionen von allen Formen von Gewalt befreien. Auf der Agenda 2021–2025 stehen für uns deshalb wieder Projekte, die genau darauf abzielen. Als franziskanische Organisation möchten wir diese Frauen für ihre gott- geschenkte Menschenwürde sensibili- sieren. Die Autorin Manuela Isabel Urbina Ramírez ist Anthropologin und engagiert sich in der Sozialarbeit ihrer Gemeinde, der Franziskanerpfar- rei El Hospicio in Cochabamba. Seit 2014 ist sie zudem Mitglied der »franziskanischen Bewegung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« (GFBS) in Bolivien. Übersetzung aus dem Spanischen: Pia Wohlgemuth TEXT: Manuela Isabel Urbina Ramírez | RADIERUNG: Norbert Brust 26 | 27

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