Franziskaner Mission 1 | 2021

»Erleuchte die Finsternis ...« Das Kreuzbild von San Damiano in Assisi Im Bekehrungsprozess des Heiligen Franziskus von Assisi spielt das Kreuzbild der Kapelle San  Damiano, das ihn anspricht, zusammen mit der Aussätzigen-Begegnung und dem in Porti- uncula gehörten Evangelium von der Jüngersendung, eine entscheidende Rolle. Die nähere Betrachtung des Kreuzes erhellt, wie der weitere Lebensweg durch diese Ikone geprägt wird. Nachdem sein Jugendtraum Ritter zu werden geplatzt war, seine Gesundheit durch einen längeren Kerkeraufenthalt nach einer verlorenen Schlacht ange- schlagen ist und er in einer Sinnkrise nach neuen Werten sucht, soll Franziskus diese Worte vor dem Kreuzbild in der verfallenen Kapelle von San Damiano gebetet haben: »Erleuchte die Finsternis meines Herzens!« Woraufhin ihn der Ge­ kreuzigte angesprochen habe: »Siehst du nicht, dass mein Haus in Verfall gerät? Geh also hin und stelle es mir wieder her!« Wenn von Franziskus selbst auch kein Bericht über dieses Ereignis überliefert ist, so wird es doch von den Biographen als eine der entscheidenden Begebenheiten seiner Bekehrungs- und Berufungsgeschichte erzählt. Zeitgleich ereignet sich die Begegnung mit den Aussätzigen, welche Franziskus selbst in seinem Testament als das entscheidende Bekehrungserlebnis anführt und im glei- chen Atemzug mit seiner Verehrung des Kreuzes Christi an den Anfang seines Le- bensrückblickes stellt. Da die Begegnung mit dem Gekreuzigten von San Damiano ein wichtiges Element für Franziskus’ Berufungsgeschichte darstellt, lohnt sich eine vertiefende Betrachtung dieser Kreuzikone. Schon ein erster Blick auf dieses Kreuzbild lässt erkennen, dass es sich nicht um eine klassische Kreuzesdarstel- lung handelt, wie es uns in Europa ver- traut ist. Tatsächlich handelt es sich um eine Ikone, die im Laufe des 12. Jahrhun- derts von einem syrischen Mönch, der wohl dem orthodox-orientalischen Ritus angehörte, gemalt wurde. Eine größere Ansiedlung dieser aus dem Vorderen Orient aufgrund der Kriegshandlungen geflüchteten Mönche gab es auf dem TEXT: Johannes B. Freyer ofm | FOTO: FM-Archiv Monteluco bei Spoleto. Dieser Berg wurde auch bis ins 15. Jahrhundert hinein der Monte Athos des Westens genannt. Von den Mönchen wurden viele dieser Kreuzikonen in Umbrien verbreitet. Ikone des Johannesevangeliums In der Spiritualität dieser orientalischen Mönche spielte die Theologie des Jo- hannesevangeliums eine herausragende Rolle. So folgt die Darstellung der Ikone von San Damiano auch den großen Linien der Johannestheologie. Die wich- tigsten Aussagen der Botschaft dieses Evangeliums sind auf diesem Kreuzbild unter dem Motto ›die Verherrlichung des Christusmysteriums‹ (Joh 17,1-8) dargestellt. Die Abbildungen folgen der Botschaft des Johannesevangeliums vom Wort Gottes, das als Licht der Welt durch die Liebe die Finsternis überwin- det und alle, die an Christus glauben, zu Kindern Gottes macht (Joh Prolog sowie Kap. 15). Fast wie ein Echo erklingt diese Kunde im Gebet des Franziskus: »Er- leuchte die Finsternis meines Herzens und schenke mir rechten Glauben, sichere Hoffnung und vollkommene Liebe.« Die verschiedenen Szenen des Kreuzbildes basieren besonders auf den johanneischen Abschiedsreden Jesu (Joh Kap. 13-17). Die Aussagen dieser Texte werden in den Schriften des Franziskus direkt oder indirekt zitiert, von ihm me- ditiert und in die konkrete Lebenssituati- on der Brüder und Schwestern übertra- gen. Dabei kristallisieren sich fünf große Themen heraus, die sich Franziskus wohl auch über die Betrachtung des Kreuzbildes erschlossen haben und die er in seine Lebensform übernahm: Die Perikope von der Fußwaschung (Joh 13) liegt der Ausprägung der Auto- rität und der Ausübung von Ämtern als Dienst in der Gemeinschaft der Minder- brüder zugrunde; die Selbstaussagen Jesu »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« und ihre Ausdeutung durch den Evangelisten (Joh 14) prägen die Spiritualität der Gottesbeziehung der Brüder und Schwestern; das Liebes- und Freundesgebot (Joh 15) soll die Beziehungen zwischen den Brüdern und den Schwestern formen; der durch Jesus angekündigte Gottesgeist (Joh 16), auf dem Kreuzbild als ausgestreckter Finger Gottes dargestellt (nach der 3. Strophe des »Veni Creator Spiritus« von Rabanus Maurus, 9. Jahrhundert), soll die Bruder- schaft leiten und führen; das sogenann- te hohepriesterliche Gebet Jesu für die Jünger (Joh. 17) beeinflusst nicht nur das Gebetsleben des Franziskus, seiner Brüder und Schwestern, darüber hinaus charakterisiert es auch die Beziehung zur und den Umgang mit der Welt, die eben nicht nur Gott zugewandt ist. Evangelium und Aussätzige Die Betrachtung der Kreuzikone in einer wichtigen Stunde seines Lebens scheint Franziskus veranlasst zu haben, sich tiefer mit der Botschaft des Johannes- evangeliums auseinanderzusetzen. Vor allem die sogenannten Abschiedsre- den Jesu, die auf dem Kreuz von San Damiano bildlich angedeutet werden, haben dann das Gebetsleben und den Lebensstil des ersten Brüder- und Schwesternkreises geprägt, wie es die Franziskusschriften deutlich belegen. Dabei wird auch offensichtlich, wie Franziskus sich dem Wort der Heiligen Schrift angenähert hat. 6

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