Franziskaner Mission 2 | 2021

JHWHs Heiligkeitsgesetz Inspirationen für eine bessere Zukunft Die Bibel ist ein Lebensbuch, das voll ist von Lebensgeschichten ganz unterschiedlicher Menschen. Darin geht es um ihre Beziehung zueinander und mit ihrem Gott, entweder aus Sicht einer Gemeinschaft oder eines Individuums. Die biblischen Erzählungen stammen zwar aus längst vergangenen Jahren, aber sie sind unserer heutigen Wirklichkeit trotzdem sehr nah. Vor allem das Alte Testament enthält viel Lebenswirklichkeit, Lebens- und Welterfahrung, in der sich zumeist kollektive, aber auch individuelle Gotteserfahrung ereignet. Diesbezüglich hat das Alte Testament gegenüber dem Neuen Testament einen gewissen Überschuss. Viele Texte können in unsere Zeit hineinreden, sie sind wirtschafts- und sozialethisch und für die Konstituierung von Gemeinschaft bedeutsam. Die Situationen sind vielleicht nicht eins zu eins identisch, aber sie ähneln sich in der Struktur. Sie sind immer noch aktuell, auch wenn sich einige äußere und kulturelle Gegebenheiten verändert haben. Lebenserfahrung Es begegnen uns im Alten Testament Menschen, die ähnlich empfunden haben wie wir heute. Sie haben Freude und Leid, Hoffnung und Enttäu- schung, großes Vertrauen und quälende Zweifel erlebt, und sie haben über die Herkunft von Un- recht, Leid und Tod und über die eigenen Grenzen nachgedacht. Sie suchten nach dem Ziel und Sinn ihres Lebens und staunten über die Schönheit und die Wunder der Welt. Es geht immer wieder um Schuld und Versagen, Verstoßen- und Geliebt- Werden, Gottes Nähe und Ferne. Dies alles sind Grunderfahrungen menschlichen Lebens, die nicht nur Juden und Christen in gleicher Weise betreffen, sondern auch die Menschen damals und heute. Wo es um Geschichte geht, gibt es Wiederholun- gen, Vergleichbares und Strukturanalogien, aber auch immer etwas Neues, was danach geschehen ist. Das ist dann das Eigene unserer Erfahrungen und unserer Welt. Bedeutsam ist hierbei, dass die Erzähltradi­ tion Israels immer die Vergegenwärtigung ist. Wenn diese Geschichten erzählt werden, sind alle, die sie hören, in sie mit hineingenommen. Sie ereignen sich immer wieder aufs Neue und stiften Gemeinschaft. Die biblischen Geschichten sind also nicht nur Geschichten von vorgestern, sondern zugleich auch Geschichten von morgen und über- TEXT: Johannes Roth ofm | SYMBOLBILD: womue - stock.adobe.com morgen. Das gilt ebenso für die Gotteserfahrung, die in ihnen erzählt wird. Interessant ist, dass es im Alten Testament weniger um den Einzelnen geht, sondern mehr um das Volk Gottes, das Volk Israel. Die Erzählungen handeln meist von dem Weg des Gottesvolkes in der Geschichte sowie von seinen kollektiven und sozialen Problemen. Im Alten Testament sind viele Lebensbereiche benannt: Wirtschaft, Politik, Kultur, Religion, Sexualität, sozialer Friede und Unfriede. Gott erscheint hier wirklichkeits- und weltbezoge- ner als in der Welt des Neuen Testaments sowie in unserer heutigen Welt. Denn diese steht in der Gefahr, dass die Menschen sich selbst und Gott immer mehr privatisieren und individualisieren. Durch die Friedens- und Ökologiebewegung sowie die Befreiungstheologie wurde die politisch-soziale Struktur vieler alttestamentlicher Texte wiederent- deckt, vor allem die Themen Schöpfung, Prophetie, Knechtschaft und Befreiung. Gemeinschaftsgeist Am Buch Genesis ist gut erkennbar, dass im Alten Testament vor allem die Konstituierung der Men- schen als Gemeinschaft und als Volk Gottes zentral ist. Denn es ist in einer Art Fokussierung angelegt: Am Anfang wird in den Schöpfungserzählungen und der Urgeschichte der Beginn der gesamten Menschheit erzählt (Gen 1-11). Daraus wird das Volk Israel herausgenommen, genauer betrachtet und die Anfangsgeschichte Israels und seiner Nach- barvölker erzählt (Gen 12-36). Aus dem Volk Israel stammt die Familie Josefs, auf die sich der dritte Teil des Buches konzentriert (Gen 37-50). Man kann also sagen, dass das Buch Genesis vom Panorama ins Detail »heranzoomt«. Die Urgeschichte betrifft alle Menschen und steht deshalb am Anfang. Gottes Schöpfung wird durch die Ursünde der Menschen (Adam und Eva, Kain und Abel, Turmbau zu Babel) gestört. Die Erzelternerzählungen behandeln eine Fami- liengeschichte über drei Generationen hinweg (Abraham und Sara; Isaak und Rebekka; Jakob, Lea und Rahel). Diese Geschichte spielt hauptsächlich in Kanaan. Im Vordergrund stehen die Nachkom- 6

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