Franziskaner Mission 3 | 2021

Spätestens seit Sigmund Freud wissen wir, dass Aggressivität ein wichtiger Im- puls der Persönlichkeitsentwicklung ist. Als Ausdruck des Todestriebs ist sie eine zerstörerische Kraft, die sich sowohl nach außen wie auch nach innen wenden kann. Wenn sie dem Schöpferischen, der Selbstbehauptung und Lebenserhal- tung dient, ist Aggressivität hingegen Ausdruck des Lebenstriebs. Schon Kleinkinder nutzen ihre Aggressivität: Wenn sie Durst, Hunger oder Schmerz verspüren, weisen sie lautstark darauf hin, dass sie Bedürf- nisse haben, die unbedingt und sofort zu befriedigen sind. Im Verlauf seiner Sozialisierung, während es heranwächst, erfährt das Kind, dass Andere und Ande- res ihm Grenzen setzen, dass es durch die sogenannte Alterität oder Andersheit begrenzt ist. Kinder lernen, sich von ihren unmittelbaren Bedürfnissen zu befreien und werden zu Subjekten. Sie unterwerfen sich anderen Imperativen und richten ihre Aggressivität dabei neu aus. Diese Erfahrung der Begrenztheit machen Kinder, so nennt das die Psycho- analyse, durch die Begegnung mit der »väterlichen Funktion«. Damit ist der Übergang des Kleinkindes, das in einer Art Naturzustand lebt, in den Kulturzu- stand eingeleitet. Sprache als Geschenk Der »Verlust von Natur« geht mit einem mehrfachen Gewinn einher: Im Tausch gegen den absoluten und damit uner- reichbaren Genuss, dem das Subjekt entsagt, schenkt die Kultur ihm die Spra- che. Die Sprache öffnet ihm die Tür zu einem symbolischen Universum: Durch die Sprache wird man fähig, in der Welt zu sprechen, zu handeln und gemein- sam mit anderen an gesellschaftlichen und politischen Ordnungen teilzuhaben. Auch wenn sich das Subjekt durch die Sprache von den Dingen und ihrem Wesen entfernt, erlaubt sie ihm doch, die Dinge zu benennen, von ihnen zu sprechen. So kann es den Mangel, den Verlust der Natur verwinden und dem Verlust einen mehrfachen Sinn geben. Daraus entsteht »Kultur«. Der Mensch, der seinen Naturzu- stand verloren hat – und erst das macht ihn ja zum Subjekt –, wird von der Spra- che dazu getrieben, die Welt und seine Affekte zu benennen. Die Psychoanalyse würde von einem Gesetz des Begehrens sprechen: Das seiner Natur entledigte Subjekt wird dazu angetrieben, Bindun- gen zu anderen aufzubauen, die – eben- falls der Sprache unterworfen – mit ihm eine gemeinsame Welt schaffen. Freud nennt das »Kulturarbeit«. Das Gesetz des Begehrens treibt das Subjekt zur Alterität und zur Soli- darität, zu Lebensinvestitionen. Es stellt seine Aggressivität in den Dienst der Zivilisation. Und es schützt vor primitiv­ sten totalitären Anwandlungen, die das Subjekt auf sich selbst zurückwerfen und glauben lassen könnten, es sei das Maß aller Dinge: Solidarität wäre dann un- denkbar, andere würden ihm als Objekt oder Bedrohung erscheinen. Zusammen- fassend könnte man sagen: Während das Gesetz des Begehrens zur Begeg- nung aufruft, führt der Trieb, die eigene Totalität zu genießen, in die Einsamkeit. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit den psychischen Folgen des Übergangs von einer von Produktionsprozessen bestimmten Gesellschaft zu einer Gesellschaft, die der Dynamik des Konsums unterworfen ist. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Auflösung der Bindungen, die vorher fähig waren, Menschen um gemeinsame Ideale zu versammeln. Dargestellt wird, wie der Neoliberalismus im Verbund mit den neuen Medien einem übersteigerten Individualismus Vortrieb leistet, in dem der andere zur Bedrohung oder zu einem zu konsumierenden Objekt wird. Das Durchtrennen solidarischer Bande leistet Hasstiraden und Gewalt Vorschub. In Hass verstrickt Brasilianische Psychologen über Gründe von Gewalt Teil von Gemeinschaft Bis vor wenigen Jahren lebten wir in gesellschaftlichen Ordnungen, die das Gesetz des Begehrens stützten, durch Ideale, die – auf alle und jedes einzelne Subjekt bezogen – einen transzendenten Ort hatten. Subjekte teilten ihre Ideale, knüpften Bande. Gelingen konnte das mit Hilfe der großen religiösen Narrative, verschiedener Ideologien, der Politik und ihren Institutionen. Subjekte waren Teil TEXT: Dr. William César Castilho Pereira und Domingos Barroso da Costa | FOTO: Jonathan Stutz /stock.adobe.com 10

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