Franziskaner Mission 3 | 2021

»Hüte Dich vor Gerechtigkeit!« Justiz und Selbstjustiz in Bolivien Aber es geht nicht nur um das Fehlen von Gewaltenteilung. Es geht auch um das Ausmaß der Korruption auf allen Ebenen und die Straffreiheit derjenigen, die Geld haben und sich freikaufen können. Ein weiteres ernstes Problem ist die schleppende Bearbeitung von Straf- verfahren. Eine große Mehrheit der Ge- fangenen sitzt ohne rechtskräftiges Urteil in Haft. Viele warten jahrelang auf eine Gerichtsverhandlung. Nach fünf Jahren müssen die Menschen aus der Untersu- chungshaft entlassen werden, warten dann noch Jahre zuhause oder an ihrem Arbeitsplatz darauf, dass eines Tages ihr Prozess abgeschlossen sein wird. Selbstjustiz Diese Situation führte dazu, dass in die neue politische Verfassung des boliviani- schen Staates, die 2009 in einer Volksab- stimmung bestätigt wurde, die Möglich- keit der Gemeinschaftsjustiz eingeführt wurde. Diese »Ursprüngliche indigene Gerichtsbarkeit der Landbevölkerung« hat die Probleme aber nicht gelöst. Obwohl sie in ländlichen Gebieten eher akzeptiert wird, wird sie oft als Gelegen- heit zur Rache an persönlichen Feinden missbraucht. Ohne konkrete Rechtsvorschriften zu berücksichtigen, wird in vielen Fällen auf frühere Gepflogenheiten zurückgegriffen und Rechtsangelegenheiten direkt durch Lynchen (Erhängen oder Verbrennen) der auf frischer Tat Ertappten oder sogar nur verdächtigen Personen gelöst. Das hat mehrmals zum Tod unschuldiger Menschen geführt! Schon Mahatma Gandhi sagte: »Auge um Auge (2. Mose 21:24) und die ganze Welt wird erblinden.« Noch heute aber wird die Ge- meinschaftsjustiz von vielen verteidigt oder zumindest kaum in Frage gestellt oder kritisiert. Es wird als Vorteil ange- sehen, dass sie effektiver ist als andere Formen der bolivianischen Justiz, indem der Geschädigte sofort gesühnt wird. In Meinungsumfragen zum Thema Selbstjustiz wurde festgestellt, dass im ländlichen Raum eine größere Akzeptanz herrscht als in Sädten. Die Gründe sind immer die gleichen: die mangelnde Glaubwürdig- keit des Justizsystems, die wachsende Unsicherheit der Bürgerinnen und Bürger und die wahrgenommene Straffreiheit für Kriminelle. Für viele Menschen ist »eine schlechte Vereinbarung besser als ein gutes Urteil«, denn selten gewinnt die Wahrheit, sondern das Geld, das eine der Parteien bezahlt. Ein bekanntes bolivianisches Sprichwort sagt: »Hüte dich vor der bolivianischen Gerechtigkeit.« Denn: Die Justiz in Bolivien verfügt nicht über genügend Personal und Ressourcen. Das System ist krank – bürokratisch, ineffizient, korrupt und der Exekutive unter- geordnet. Das führt dazu, dass die Bevölkerung weder den Richtern noch den Anwälten traut. TEXT: Carmelo Galdóz ofm | FOTO: picture alliance/AP Photo/Juan Karita Straßenszene in El Alto in Bolivien. Auf dem Schild an der Hauswand die Warnung: »Nachbarn in Alarm­ bereitschaft. Verdächtige Autos und Menschen werden verbrannt.« 28

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