Franziskaner Mission 3 | 2021

Mutter Erde – Geschenk Gottes Weltanschauung der Mayavölker Der Autor Vicente Castro León gehört als Guatemalteke der mittelamerikanischen Franziskanerprovinz an. Er stammt aus der Maya- Kultur und arbeitet zurzeit als Seelsorger in der Pfarrgemeinde von Quiriguá-Izabal, Guatemala. Übersetzung aus dem Spanischen: Joaquín Garay ofm Alle Urvölker aus der Maya-Abstam- mung in Guatemala haben eine gemein- same Weltanschauung, die im Laufe der Geschichte vom christlichen Glauben durchdrungen wurde. Der Mensch ist mit anderen Lebewesen im ganzen Kosmos verbunden. Für die Mayas ist die Erde heilig. Der Mensch darf sich von der Erde ernähren; er soll die Ernte nicht als selbstverständlich annehmen, sondern als Geschenk Gottes und der Mutter Erde wahrnehmen. Alle Lebewesen – Tiere und Pflan- zen, aber auch Dinge – auf dieser Welt verfügen über eine Art Seele (»Nawal«). Aufgrund ihrer Existenz haben sie einen heiligen, spirituellen Kern, der ihnen Würde zugesteht und ein Recht auf Existenz verleiht. Alles verdankt sein Dasein Gott, der Vater und Mutter von allem ist. Durch die Aussaat des Maises oder das Absägen eines Baumes werden Lebewesen verletzt oder umgebracht und die Erde wird durch das Pflügen gestört – auch wenn es für das Wohl der Menschen geschieht. Daher erfordert es das Gebet, sich bei Gott zu bedan- ken und um Verzeihung und Erlaubnis für die Arbeit zu bitten. Das Gebet bei den Mayas ist nicht abstrakt, sondern besonders real und lebensnah. Gott wird in der ganzen Schöpfung wahrge- nommen. Beim Beten wird Gott als Herr und Besitzer, der Schöpfer und Gestalter aller Dinge angerufen. Zum Ritual gehören folgende Handlungen: Ein Maya-Priester wird aufgefordert, ein Gebet zu sprechen. Das Gebet wird mit einem Rauchopfer aus Kiefernharz, Blumen und Kerzen in verschiedenen Farben verrichtet. Der Maya-Priester weiß genau, dass das Gebet am Tag der Aussaat gesprochen werden muss. Er sorgt somit dafür, dass es Blumen, Früchte und eine gute Ernte gibt. Nach dem Gebet wird normaler- weise im Haus der Familie zum Mit- tagessen eingeladen. Eine Portion der Speisen wird an Baumstämme gelegt, damit die Tiere davon fressen können und die Ernte nicht misslingt. Bevor die Bauern das Feld betreten, knien sie nieder und rufen den Schöpfer aller Dinge an. Sie bitten die Tiere um Erlaub- nis, weil sie durch die Arbeit vielleicht gestört werden. Ähnlich ist es beim Fällen eines Baumes. Es wird ein Gebet ausge- sprochen, um eine optimale Nutzung des Holzes gewährleisten zu können. Nach der Ernte oder dem Fällen von Bäumen wird ein Fürbittgebet verrichtet. Als eine Art Wiedergutmachung wird der Tag TOJ – Auszahlung – gefeiert. Es handelt sich um ein Dankgebet für den Schöpfer und Gestalter, für die Mutter Erde, für die Tiere und Pflanzen.

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