Franziskaner Mission 1 | 2022

Eine Geburtsfistel ist das Ergebnis einer langen oder stockenden Geburt, die oft mehrere Tage dauert, wenn das ungeborene Kind nicht durch das Becken hindurch kann. Das Kind liegt zum Beispiel in der falschen Position oder das Becken der jungen Mutter ist nicht vollständig entwickelt und zu schmal. Der Druck, den der Kopf des ungeborenen Kindes über einen ungewöhnlich langen Zeitraum auf die Blut- gefäße ausübt, schneidet die Blut- und Sauerstoff- zufuhr der Unterleibsorgane der Frau ab. Das führt zum Absterben des betroffenen Gewebes. Dadurch entsteht eine Öffnung zwischen Vagina und Blase oder Darm. Die Folge davon ist, dass Urin und/oder Stuhl unkontrolliert in die Vagina austreten. In den Industrieländern würde eine Frau mit einem solchen Geburtsstillstand rechtzeitig per Kaiserschnitt entbunden. In armen Ländern wird dies kaum praktiziert. Ausgestoßene Frauen Millionen von Frauen und jungen Mädchen in den Entwicklungsländern leben infolge einer Geburtsfis- tel in Armut und als Ausgestoßene ihrer Gesellschaft. Sie werden von ihrem Ehemann, ihrer Familie und ihrer Gemeinschaft verstoßen. Das Kind, das sie erwarteten, ist oft ungeboren gestorben. Eine Geburtsfistel kann immense soziale und psychische Folgen für die betroffenen Frauen haben. Da die Frau unkontrolliert Urin und Stuhl verliert und einen starken Geruch verbreitet, kann sie ge- sellschaftlich isoliert, stigmatisiert und diskriminiert werden. Sie kann von den religiösen Praktiken in der Gemeinschaft ausgeschlossen werden, da sie als unrein gilt und sowohl von ihrer Familie als auch von der Gemeinschaft abgelehnt wird. Waschen und Hygiene sind ein Problem in Wüsten- oder sehr trockenen Regionen der Welt, wo Wasser unter Umständen kilometerweit transportiert werden muss und daher ein wertvolles Produkt ist, das nicht für häufiges Waschen verschwendet werden darf. Viele Ehemänner verlassen ihre Frauen, sodass diese in extremer Armut ohne jegliche Exis- tenzgrundlage zurückbleiben. Die Frauen können auch körperlichen und verbalen Misshandlungen ausgesetzt sein, die ihnen großes Leid zufügen. Der Tod des ungeborenen Kindes, um das sie vielleicht noch trauern, und die Tatsache, dass sie keine wei- teren Kinder zur Welt bringen können, hinterlassen bei diesen Frauen ebenfalls tiefe seelische Narben. Ihre wichtige soziale Rolle in der Gemeinschaft als Mutter, die Kinder aufzieht, wurde ihnen ebenfalls genommen. Geburtsfisteln sind völlig vermeidbar – vorausgesetzt, dass geeignete medizinische und geburtshilfliche Einrichtungen einschließlich der Möglichkeit zum Notkaiserschnitt zur Verfügung stehen. Die Geburtsfistel kann auch im Nachhinein medizinisch behandelt werden, indem man die Per- foration chirurgisch schließt, Kontinenz erreicht und sogar die Fruchtbarkeit wieder herstellt. Genauso wichtig ist die Wiedereingliederung der Patientin in die Gemeinschaft. Information und Prävention Unsere Ordensgemeinschaft, die Kongregation der »Schwestern vom Guten Hirten«, setzt sich bei den Vereinten Nationen (UN) in Genf dafür ein, das Thema Geburtsfistel aus der Menschenrechtsper- spektive anzugehen. So können wir viel tun, um gefährdeten Mädchen und Frauen zu helfen. Bei unserer Arbeit bei der UN – zusammen mit »Francis- cans International« – konzentrieren wir uns auf die Stärkung von Frauen, die Förderung der Gleichbe- rechtigung der Geschlechter, die Bereitstellung von Informationen und die Sensibilisierung für die Würde der Frauen. Dafür geben wir Stellungnahmen vor dem Menschenrechtsrat ab, wir arbeiten mit dem Amt des Hochkommissars für Menschenrechte zu- sammen und wir machen Lobbyarbeit bei Regierun- gen, um der Prävention mehr Gewicht zu verleihen. Unser Ziel ist es, auf die Problematik der Geburtsfistel aufmerksam zu machen und darauf hinzuwirken, sie durch vorbeugende Maßnahmen erst gar nicht entstehen zu lassen. Nun möchte ich einer betroffenen Frau aus Kenia das Wort geben, die ihre Geschichte erzählt: Heilung für Anna »Mein Name ist Anna John aus dem Bezirk Kitui in Kenia. Im Jahr 2007 erlitt ich eine Geburtsfistel. Seit- Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass etwa zwei Millionen Frauen an einer Geburtsfistel leiden. Laut den Zahlen der WHO kommen jährlich 50.000 bis 100.000 neue Fälle hinzu. Vermeidbares Leid Einsatz für Frauenrechte weltweit TEXT UND FOTO: Mirjam Silvia Beike RGS 30

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