Franziskaner Mission 2 | 2022

Anastasia, was haben Sie während des Völkermords erlebt und erlitten? Ich gehöre zum Volk der Tutsi und wurde von einem Nachbar, der dem Volk der Hutu angehört, ange- griffen: Mit einem Buschmesser rannte er auf mich zu und wollte mich töten. Er verletzte mich am Arm, ich konnte weglaufen und überlebte den Angriff. Einige Mitglieder meiner Familie konnten jedoch dem Tod nicht entkommen. Ich war schwer verletzt und emotional so tief getroffen, dass ich diesen Nachbarn bei passender Gelegenheit umbringen wollte. Es ergab sich aber keine Gelegenheit. Es war für mich unmöglich, ihm zu vergeben. Jedes Mal, wenn ich an seinem Haus vorbeikam oder seine Kinder sah und ich ihm verzeihen wollte, wurden meine Wun­ den neu aufgerissen. Da ich nicht bereit war, ihm zu vergeben, bekam ich andere gesundheitliche Probleme, zusätzlich zu meiner Arm- wunde, die über viele Jahre nicht heilen wollte. Wie kam es zur Versöhnung und Heilung der Wunden? Ich lernte einen Mann aus dem Hutu-Volk kennen: Wir liebten uns und heirateten. Er liebte auch meine Familie. Durch diese Heirat wurde mein Hass auf alle Hutus weniger. Aber der Hass auf den Nachbarn, der mich umbringen wollte, blieb weiterhin stark. Ich bat Bruder Joseph Bishyanuka um Rat, teilte ihm offen und ehrlich mein Denken und Fühlen mit. Er hat mir sehr geholfen. Als Bruder Joseph versetzt wurde, fand ich in Bruder Kizito Ngomanzungu einen neuen Ansprechpartner, dem ich vertrauen konnte. Er bemerkte, dass ich immer traurig war und fragte mich eines Tages: »Warum sind Sie stets so traurig?« Durch diese Frage begann meine spirituelle Reise mit ihm: Irgendwann lud er mich ein, einige Gebete zu sprechen, die schließlich mein Denken und Fühlen veränderten. Eins der Gebete ist: »Gelobt seist Du, mein Herr, für jene die verzei- hen … Selig, die ausharren in Frieden, denn Du, Höchster, wirst sie einst krönen.« Ich konnte dem Mann, der mich töten wollte, verge- ben. Zu meinem Erstaunen verschwanden auch die an- deren Krankheiten, an denen ich litt. Ich fand heraus: Die Ursache meiner Krankheiten war die fehlende Bereitschaft zu vergeben und sich zu versöhnen. Gibt es für Sie noch weitere Herausforderungen? Ich fühle mich manchmal schnell verletzt, wenn ich provoziert werde oder wenn ich daran denke, was gesche- hen war. Da ich jetzt um die Folgen von Hass weiß, wende ich mich sobald wie möglich an jemanden, mit dem ich ver- traulich sprechen kann. Ich bin dankbar, stets einen Franzis­ kaner als geistlichen Begleiter gefunden zu haben, dem ich mich anvertrauen kann: Die Brüder sind für mich wie meine Eltern. Allen, die mich gehasst und die ich gehasst habe, auch mir selbst wünsche ich Amahoro: Frieden! Anastasia Nyiraminani lebt in der Franziskanerpfarrei Kivumu. Sie hat den Genozid 1994 überlebt, als radikale Hutus Angehörige des Tutsi-Volks und gemäßigte Hutus ermordeten. Mit Anastasia sprach Pater Mathias, Pfarrer der Kivumu-Gemeinde. Den inneren Frieden finden Versöhnung nach dem Völkermord in Ruanda INTERVIEW UND FOTO: Mathias Kule ofm Das Gespräch mit Anastasia Nyiraminani führte Mathias Kule , Pfarrer der Franziskanergemeinde in Kivumu, Ruanda. Übersetzung aus dem Englischen: Heinrich Gockel ofm 28 | 29

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