Franziskaner Mission 2 | 2022

Sterben und Tod haben in Bolivien ihren Platz im Lebensalltag der Menschen. Der Verstorbene wird in aller Regel zu Hause aufgebahrt. Schnell wird ein Zimmer für den Sarg mit dem Leichnam freigeräumt, um einen Ort zu schaffen, an dem alle Angehörigen und Nachbarn Abschied nehmen und dem Verstorbenen die letzte Ehre erweisen können. TEXT UND FOTO: Robert Hof Leibgericht auf dem Altar Sterben und Tod in der bolivianischen Kultur Heutzutage haben die meisten Särge in Bolivien oben eine Luke, damit die Besucher bei der Toten- wache das Gesicht des Verstorbenen sehen können. Blumen und Kerzen dürfen nicht fehlen, aber auch Getränke und Speisen, die der Verstorbe- ne zu Lebzeiten besonders gerne genossen hat. Oft zieren auch Kokablätter und Zigaretten den Sarg. Wer es sich leisten kann, bestellt eine Blaskapelle, die unbeholfen traurige Musik spielt. Bolivien ist ein kinderreiches Land. Bei einer Totenwache sind selbstverständlich viele kleine und größere Kinder anwesend, die unbekümmert mit­ einander spielen, während die Erwachsenen trauern und beten. So werden die Kinder auf natürliche Weise mit dem Tod konfrontiert, sehen in Familie und Nachbarschaft schon früh und immer wieder einen Toten. Vor der Bestattung, aber auch am Ende der Novene, dem neunten Tag nach dem Abschied, sowie am ersten Jahrestag kommen Großfamilie und Nachbarschaft zu einem Mahl zusammen. Nach dem Besuch des Grabes, das nicht nur mit Weihwasser sondern auch mit »Chicha«, dem traditionellen Maisbier besprenkelt wird, baut man zu Hause einen Altar auf mit einem Bild des Ver­ storbenen. Darauf stellt man einen Teller ab mit denselben Speisen, die auch Familienangehörigen und Gästen serviert werden. Meist handelt es sich dabei um das Leibgericht des Verstorbenen. Über dieses Mahl fühlen sich die Hinterbliebenen mit dem Verstorbenen in besonderer Weise verbunden. Es hat für sie eine Art sakramentalen Charakter. Ahnen und Familienangehörige, die schon »vorausgegangen« sind, sind für die traditionell geprägten Bolivianerinnen und Bolivianer sehr präsent. Auch wenn die Toten nicht sichtbar sind, sind sie doch anwesend. Die Lebenden hoffen auf deren Schutz und Beistand, sodass beim Bestellen einer Seelenmesse eine lange Liste mit den Namen aller Verstorbenen der Familie, an die man sich noch erinnern kann, diktiert wird. »Bruder Tod« führt also im Empfinden der Bolivianerinnen und Bolivianer den verstorbenen Angehörigen nur in eine andere Welt, in einen anderen Zustand. »Bruder Tod« wandelt das Leben. Der Autor Robert Hof arbeitet als Missionar und Seelsorger in San Julián, 150 Kilometer östlich von Santa Cruz de la Sierra im Tiefland Boliviens. Nach einem »Gastspiel« von fünf Jahren als Pfarrer in München durfte er Anfang 2021 wieder in sein geliebtes Bolivien zurückkehren. Feier des ersten Jahres- gedächtnisses von Javier León A. mit Kerzen, Früchten und seiner Lieblingsspeise. Javier kam mit 29 Jahren bei einem Motorradunfall ums Leben. Eine Baustelle auf der Hauptstraße in San Julián war nachts nicht gesichert … 30 | 31

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