Franziskaner Mission 2 | 2022

TEXT: Niklaus Kuster ofmcap | MALEREI: Ulrich Viereck Mit allen Geschöpfen Entstehung und Botschaft Franz von Assisi dichtete die Urversion nach 50 Tagen innerer und äußerer Dunkelheit. Krank und geschwächt verbrachte er das Frühjahr 1225 bei San Damiano in der Sorge einiger Gefährten und von Klaras Schwestern. Seine ent- zündeten Augen ertrugen nicht einmal den Schein eines Feuers. Die »Laudes creaturarum« (Lobgesang der Geschöp- fe) entstand als Lied der Befreiung aus tiefem Dunkel: in einer lichtleeren Hütte untergebracht, von Mäusen bedrängt und ohne dass der Dichter sehen konn- te, was er im Lied besingt. Der Kranke erfuhr in einer Nacht überraschend die neue Zuwendung Gottes und fand zur inneren Klarheit zurück: Von Gott ge- liebt, kann er den Pilgerweg des Lebens ermutigt fortsetzen (Per 83). Die heilige Ganzheit Die Urversion des Liedes besteht aus den sechs Strophen auf Sonne, Mond und Sterne, Wind, Wasser, Feuer sowie Erde. Sie werden gerahmt durch den Aufgesang auf den machtvoll-gütigen Schöpfer aller Wesen und den Abge- sang, der Menschen zu gemeinsamem Lob und Dank einlädt. Inspiriert von der poetischen Schöpfungserzählung auf der ersten Seite der Bibel, von zwei Psalmen und dem Lied der jungen Männer im Buch Daniel, dichtet Franziskus ein feinsinniges Credo. »Am Himmel geschaffen«, stehen drei Arten von Geschöpfen für den Kosmos und Gottes ewige Welt. Die vier Urelemente dagegen bilden im Mittelalter die irdi- sche Welt: Pflanzen und Tiere werden von »Mutter Erde« ernährt, brauchen Heitere Jugendliche, die weltweit an Lagerfeuern den »Sonnengesang« singen, ahnen meist das Drama nicht, das zu dessen Entstehung führte. Auch Kunstfreunde, die das Lied in leuchtenden Kirchenfenstern betrachten, in musikalischen Kompositionen genießen oder in kreativen Gärten auf sich wirken lassen, kennen die Hintergründe oft nicht, die dieses Werk der Weltliteratur hervorbrachten. Wasser, atmen Luft und tragen Energie in sich. Das gilt auch für die Menschen: aus Erde geschaffen, von Luft und Wasser belebt, mit Wärme im Körper und Feuer im Geist. Drei ist die Symbol- zahl Gottes und vier die Symbolzahl des Irdischen: vier Jahreszeiten, Windrich- tungen, Weltgegenden und Charaktere erklären ihre Eigenart mit der Dominanz je eines dieser Urelemente. So ist die Heimat von Sommer und Glut von Italien aus betrachtet Afrika im Süden, während Westwinde den Frühling wecken, der Nordwind den regen- und schneereichen Winter ankündigt und im Osten die herbstlich fruchtbare Erde sich grenzenlos über Asien weitet. Diese Zahlensymbolik erklärt nicht nur, weshalb Menschen in der Urversion des Gesangs fehlen (und Tiere auch in der Endversion). Das Lied gilt nicht einzelnen Geschöpfen, sondern dem ganzen Schöpfungshaus: Der irdische Lebensraum aller Wesen findet im Kosmos sein Dach und über diesem die Quelle allen Lebens – den Schöpfer und gemeinsamen Vater. Franziskus sieht das Werk dieses Vaters in einer geschwisterlichen Harmonie: Je drei Strophenpaare verbinden brüderliche mit schwesterlichen Geschöpfen. Die Drei der kosmischen Geschöpfe und die Vier der irdischen Urelemente bilden eine Sieben: die Zahl einer heiligen Ganzheit. Zwei Zusatzstrophen erweitern das poetische Credo dieses Liedes. Jedes Geschöpf spricht vom Schöpfer, wie jedes Kunstwerk auf den Künstler verweist. Die Sonne singt von seinem Lichtglanz und seiner Kraft, die der Welt und dem Leben ihre Farben verleiht. Die Sterne sprechen von Gottes Ewig- keit und seiner leisen Gegenwart auch im Dunkeln. Das Wasser erinnert an die erfrischende Demut des Gottessohnes, der auf Erden den letzten Platz suchte. Das Feuer erinnert an Gottes Kraft, die jede Nacht erhellt. Die Erde singt mit ihren Früchten von Gottes Kreativität und Phantasie. Der Mensch bringt die schönste Stimme in das gemeinsame Lied der Geschöpfe ein, wenn in seinem Leben 8

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