Franziskaner Mission 2 | 2022

Die Blumen im Frühling – der Mond im Herbst, Im Sommer die kühle Brise – im Winter der Schnee! Wenn unnütze Sachen den Geist nicht vernebeln, ist dies des Menschen glücklichste Jahreszeit! Wie deutlich wird hier der Bezug des Absoluten zur Natur, ja, das Absolute, oder wie im Zen gelegentlich formu- liert, die höchste Wirklichkeit! Aber noch eindrücklicher mag es in einer Episode aus derselben Koan-Sammlung werden, dem Textbeispiel Nr. 6: Einst, zu alter Zeit, als der Welt-Erhabe- ne auf dem Geierberg weilte, hielt er eine Blume hoch, drehte sie und zeigte sie der Versammlung. Da verharrten alle im Schweigen. Nur der ehrwürdige Kashya- pa begann zu lächeln. Der Welt-Erhabe- ne sprach: »Ich habe das kostbare Auge des wahren Dharma, den wunderbaren Geist des Nirvana, die wahre Form der Nicht-Form, das geheimnisvolle Dhar- ma-Tor. Es hängt nicht von Buchstaben ab, sondern wird auf besondere Weise außerhalb aller Lehren übermittelt. Jetzt vertraue ich es dem Mahakashyapa an.« Diese Episode stellt den Moment dar, in dem Buddha Shakyamuni klarstellt, dass jener Mahakashyapa die Vollständigkeit seiner Lehren erfasst hat und dieser später auch seine Nachfolge antreten wird. Dabei geht es hier nicht um eine Andeutung oder einen Hinweis durch die Blume auf etwas anderes. Mahakas- hyapa zeigt mit seinem Lächeln, dass er die Wirklichkeit Buddhas teilt, eine Ma- nifestation des grenzenlosen Absoluten im Heben und Drehen dieser Blume, in der Blume selbst. Heilige Schöpfung Gerade hier mag sich auch ein Unter- schied zeigen. Der Sonnengesang ist eingekleidet in die Sprache christlicher Spiritualität, er ruft an, preist und ver- weist auf die Herrlichkeit Gottes. Den ausgewählten Texten buddhistischen Ursprungs fehlt diese Form der dialogi- schen Struktur, dieses Aussprechen des Lobpreises. Es gibt keinen so offensicht- lichen Verweis auf etwas Anderes. Und doch lässt sich zwischen den Texten eine tiefe Nähe vermuten. Der Anblick des Sonnenlichtes über dem Bergpfad, der gurgelnde Bach, flackerndes Feuer oder auch die Erfahrung des Sterben- den. Vor jeder sprachlichen Fassung, in welcher Form auch immer, steht das Berührtwerden durch die Schöpfung, durch das schlichte und allumfassende Da-Sein. Es handelt sich dabei um eine ganz grundlegende Erfahrung, das Göttliche beziehungsweise Absolute in allem und jedem zu erkennen, und sich darin als geborgen zu erfahren. Und dies stellt vielleicht auch die wichtigste, für unsere Zeit so bedeutsame Botschaft dar, die besonders durch die franziska- nische Spiritualität anhand des Sonnen­ gesangs nicht genug betont werden kann und in die Welt getragen werden sollte: Die Schöpfung ist heilig, und wir sind ein Teil von ihr. Einige stille Momente – und eine Verwandtschaft mit der Geisteshaltung Franziskus‘, wie sie sich im Sonnenge- sang zeigt, mag erahnbar werden. Mond und Blumen als Ausdruck eines Absolu- ten, das letztlich auf sich selbst verweist, die Aufforderung zur Aufgabe des Selbst, die eine geistige Nähe andeutet zu den Zeilen Franziskus‘: selig jene, die er findet in deinem heiligsten Willen, denn der zweite Tod wird ihnen kein Leid antun. Eine zentrale Textstelle des japanischen Zen-Mönchen Dogen Zenji (1200–1253), die dies gut ergänzen mag, lautet: Den Weg zu studieren heißt, sich selbst zu studieren Sich selbst zu studieren heißt, sich selbst vergessen. Sich selbst zu vergessen bedeutet, eins zu werden mit allen Existenzen. Das japanische Haiku, eine besondere, durch das Zen geprägte Form der Dich- tung, drückt die tiefe Verbundenheit mit der Natur aus und lässt verwandte Töne zum Sonnengesang erahnen: Seid doch unbesorgt. Auch die Blätter fallen Ohne Murren ab! (Issa, 1763–1827) Mit dem Duft der Pflaumenblüte Geht plötzlich die Sonne auf Über den Bergpfad. (Basho, 1644–1694) Eine andere Art textlicher Quelle aus dem Buddhismus mag die spürbare Nähe weiter verdeutlichen. Zumindest in einem Teil der Zen-Schulen wer- den so gennannte Koan zur Schulung verwendet. Dabei handelt es sich häufig um kurze Texte oder Anekdoten aus der Frühzeit des Ch'an in China, die in der Zeit des 11. bis 13. Jahrhunderts in verschiedenen Textsammlungen zusam- mengefasst und kommentiert wurden. Ein in der Sammlung »Mumonkan« (Jap.) zum Koan Nr. 19 verzeichneter Vers lautet: Der Autor Florian Seidl studierte Religions­ wissenschaft und Philosophie mit Schwer- punkt Buddhismus. Seit 2021 leitet er das Meditationshaus St. Franziskus in Dietfurt. 33

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