Franziskaner Mission 2 | 2022

den Schöpfer feiern   des Sonnengesangs und Verhalten Gottes Liebe aufleuchtet. Sie tut es in Verliebten und Liebenden, in Eltern mit Kindern und in vielen Formen der Fürsorge. Franziskus wählt jedoch nicht verspielte oder engagierte Formen der Liebe aus, sondern geprüfte und strapazierte. Wo zwischenmensch- liche Enttäuschungen in Versöhnung münden, wo Krankheit und Schwäche den inneren Frieden nicht besiegen, wo seelischer Stress Menschen nicht fremd- bestimmt, erweist sich die Kraft einer größeren Liebe: Menschen handeln »per lo tuo amore« – von Gottes Liebe gehalten und erfüllt. Pforte des Lebens Die Strophe auf Schwester Tod ent- steht in den letzten Lebenswochen des Poverello. Obwohl die lateinischen Kulturen für »mors« – italienisch und portugiesisch »morte«, spanisch »muer- te« und französisch »mort« – grammati- kalisch weibliche Ausdrücke verwenden, stellen sie den Tod als männliche Gestalt dar: ein finsterer Herrscher, Sensen- mann, Wegelagerer oder Tyrann. Fran- ziskus überrascht mit einer weiblichen und sanften Gestalt: eine Schwester, deren Nähe zwar kaum jemand sucht, die jedoch zur Gefährtin wird auf dem Weg von der irdischen Welt zur ewigen und neuen Schöpfung Gottes. Tatsäch- lich begrüßt Franziskus, als die Brüder und die Freundin Jacoba ihn sterbend loslassen, seine »sorella morte« liebevoll und vertrauend: »Sei mir willkommen, Schwester Tod!« Woher schöpft der Dichter dieses Liedes das Vertrauen, dass der Tod nicht das Ende ist? In einer weiteren Zahlen- symbolik liegt die feinsinnige Antwort: Die Endversion des Liedes zählt 33 Verse. Das Mittelalter sieht in der Zahl 33 die Lebensjahre Jesu auf Erden. Durch seine Geburt wird die irdische Welt Gottes ei- gene Wahlheimat und tritt dessen Sohn brüderlich in die Schöpfung ein. In 33 Jahren zeigt er, wie Gott sich gelingen- des Menschsein vorstellt und dass er der Der Autor Niklaus Kuster ist Mitglied der Schweizer Kapuzinerprovinz, promovierter Theologe und Franziskusforscher. Er lehrt Spiritualität und Kirchengeschichte an der Universität Luzern sowie an den Ordenshoch- schulen in Münster und Madrid. Vater einer universalen Familie ist, aus der niemand ausgegrenzt werden darf. Nach 33 Jahren verwandelt Jesus durch sein Sterben und Auferstehen den Tod zur »Pforte des Lebens« (2 C 217). Das »Schöpfungslied« feiert den Schöpfer mit allen Geschöpfen – »cum tutte le Tue creature« – und sieht in der geschaffenen Welt kein Exil. Anders als das klagende »Salve Regina« der Mönchsklöster, das Menschen in einem »Tränental« verloren sieht, erlebt Franz sich und sieht er alle Menschen als Pilgernde und Gäste (»peregrini et advenae«, Test 24, BR 6) auf Erden. Die irdische Welt ist Geschenk und Heraus- forderung, Lebensraum und Weg: vom Schöpfer erzählend, geschwisterlich verbindend, eine heilige Ganzheit und vergänglich, Menschen anvertraut und Gottes Wahlheimat. Glücklich, wer die- ser Welt Sorge trägt, bis er oder sie auch mit Schwester Tod den Gott des Lebens preist – und als Tochter oder Sohn Gottes in die ewige Schöpfung eintritt. Die in dieser Ausgabe zitierten Strophen des Sonnengesangs vom heiligen Franziskus stammen aus folgender Veröffentlichung: Hubert Gaisbauer / Leonora Leitl: Ein Brief für die Welt. Die Enzyklika Laudato si von Papst Franziskus für Kinder erklärt Tyrolia-Verlag, Innsbruck-Wien, 4. Aufl. 2018, S. 71–73 9

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