Franziskaner Mission 4 | 2022

Die Herkunft meiner Vorfahren spielt eine sehr wichtige Rolle. In meinem Heimat- und Geburtsort liegen die Wurzeln meiner Abstammung. Die meisten Vietnamesen leben in kleinen Orten und Dörfern, die in der Regel keine Arbeitsplätze bieten. So ist heutzutage eine starke Landflucht in ganz Vietnam zu verzeichnen. Vor allem junge Menschen ziehen in größere Städte, um einer sicheren Arbeit nachgehen zu können und ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie verlassen nicht nur ihren vertrauten Heimatort, sondern notgedrungen auch ihre Familien. In dieser Situation sind Menschen aber besonders auf ihre Familien angewiesen, die ihnen Halt und Unterstützung geben. Das Menschenbild der Vietnamesen wird über die Familie definiert und sichtbar gelebt. Der Konfuzianismus prägt dieses Bild mit einem Gleichgewicht aller Lebewesen sowohl im Makro- als auch im Mikrokosmos. Jeder Mensch hat seine spezielle Rolle zu leben. Der Vater, als Oberhaupt der Familie, hat die Vollmacht für seine Kinder und die Verantwortung für seine gesamte Familie. Im Gegenzug dazu zollen die Kinder ihm Respekt und Gehorsam. Diese gegenseitige Beziehung der Rollen darf nicht gestört werden, sonst wird die Harmonie innerhalb der Familie und der Gesellschaft ihr Gleichgewicht verlieren. Der Mensch ist kein alleiniges Individuum seiner selbst, sondern immer ein Glied der Familie, des Clans (Verwandtschaft) und der Gesellschaft (Staates). Alles, was er tut und denkt, hat Folgen, sowohl positive als auch negative, für die Familie, den Clan und die Gesellschaft. Das Ansehen der Familie hängt sehr vom Handeln der einzelnen Mitglieder ab. Die Familie genießt große Ehre durch positives und engagiertes Verhalten. Im Gegensatz dazu können negative Auffälligkeiten und Vorkommnisse den Ruf einer Familie stark negativ beeinträchtigen. Auf der religiösen Seite spielt die Ahnenverehrung eine wichtige Rolle. Die Ahnen verehren, heißt sie im Herzen bewahren und ihnen Dankbarkeit erweisen. Es gibt aber auch religiöse Elemente. Eine gepflegte Beziehung zu den verstorbenen Ahnen beeinflusst das Leben der Familie. Die Verstorbenen haben eine Schutzfunktion für die Lebenden. Glück, Wohlstand und Gesundheit hängen von dieser gegenseitigen Beziehung ab. Opfergaben in Formen von Räucherstäbchen und essbaren Köstlichkeiten weisen darauf hin, dass die Ahnen im Jenseits davon leben. Eine Vernachlässigung kann Not, wie Hunger, über die Verstorbenen auslösen. Alle Jahre wieder ist die Verkehrssituation in Vietnam zum Jahreswechsel an Neujahr chaotisch. Die Menschen versuchen mit den verschiedensten Verkehrsmitteln nach Hause zu gelangen. Neujahr ist das Fest der Familien. Es ist für alle Vietnamesen eine Pflicht, an diesen drei Tagen zu den Eltern zu fahren, um mit ihnen das Fest zu feiern. Dadurch wird sichtbar, dass Kinder ihre Eltern schätzen und ehren. Den Kindern wird bei diesem jährlichen Ritual bewusst, woher sie kommen und zu wem sie gehören: nämlich zur Familie. Das Menschenbild der Vietnamesen wird durch die oben beschriebenen Ereignisse sichtbar gemacht und gepflegt. Der Mensch gehört auch immer zu einer Familie, zu einem Clan oder zu einer Gesellschaft. Allein vermag er geistig nicht zu bestehen. In der heutigen modernen Zeit wird die Beziehung der Familie durch digitale Möglichkeiten verstärkt. Familienangehörige leben wegen der schlechten Wirtschaftslage oftmals weit voneinander entfernt. Die täglichen Zusammenkünfte werden somit erschwert. Aber dennoch fragt sich jeder in einer Krise: »Wo ist der Ort, wo ich Hilfe und Sicherheit finden kann?« Die Antwort ist: in der Familie. Rolle der Vorfahren Das vietnamesische Menschenbild In der Zeit, die ich während meiner Projektreise in Vietnam verbracht habe, gab es viele Begegnungen mit Menschen aus verschiedenen Landesteilen. Dabei wurde die Frage: »Woher kommst du?« immer wieder gestellt. Es ging nicht darum, woher ich jetzt komme, nämlich aus Deutschland, sondern wo ich geboren bin und wo meine Vorfahren leben oder lebten. TEXT: Chi Thien Vu ofm | FOTO: FM-Archiv Der Autor Chi Thien Vu gehört zur Deutschen Franziskanerprovinz und lebt als Seelsorger im Franziskanerkonvent Dortmund. Als er neun Jahre alt war, sind er und seine Familie als sogenannte Boot-People aus Vietnam geflüchtet und mit Hilfe der »Cap Anamur« nach Deutschland gekommen. 28

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