Franziskaner Mission 4 | 2022

2022 Familienglück oder Kreuzweg?

FRANZISKANER MISSION erscheint viermal im Jahr und kann als kostenfreies Abo bestellt werden unter Telefon 089-21126110 oder muenchen@franziskanermission.de. »Franziskaner Mission« erscheint im Auftrag der Deutschen Franziskanerprovinz von der heiligen Elisabeth – Germania. HERAUSGEBER Franziskaner Mission REDAKTIONSLEITUNG Augustinus Diekmann ofm REDAKTION Dr. Cornelius Bohl ofm, Stefan Federbusch ofm, Natanael Ganter ofm, Joaquin Garay ofm, Heinrich Gockel ofm, Márcia S. Sant'Ana, René Walke ofm, Pia Wohlgemuth GESTALTUNG sec GmbH, Osnabrück‚ DRUCK Bonifatius GmbH, Paderborn Impressum FRANZISKANER MISSION St.-Anna-Straße 19, 80538 München Telefon: 089-21126110 Fax: 089-21126109 muenchen@franziskanermission.de www.mission.franziskaner.de Spenden erbitten wir, unter Angabe des Verwendungszwecks, auf folgendes Konto: LIGA BANK IBAN DE48 7509 0300 0002 2122 18 BIC GENODEF1M05 Ihre Spendengelder fließen in unsere Hilfsprojekte und nicht in die Produktionskosten dieser Zeitschrift. 2

Liebe Leserin, lieber Leser! Ab und zu gibt es Umfragen, was Menschen zum Glücklichsein brauchen. Neulich fiel mir wieder einmal eine solche Erhebung in die Hände. Ganz oben stand die Gesundheit. Dann folgten schon bald »gelingende Partnerschaft« und »intakte Familie«, noch weit vor »Geld« und materieller Sicherheit. Das finde ich beachtlich. Allerdings wird die Familie auch bei den größten Belastungen im Leben ziemlich weit oben rangieren. Gerade an Weihnachten wird das deutlich: Das Fest der Familie ist mit hohen Erwartungen verbunden. Manchmal gehen sie in Erfüllung. Oft auch nicht. Streitereien, Konflikte und ausgewachsene Tragödien gehören dann mit zum Festprogramm. Familie ist kostbar. Familie kann aber auch grausam sein. Apropos Weihnachten: Als Gott Mensch wird, fällt er nicht einfach vom Himmel. Selbst Gott braucht Menschen, um Mensch zu werden. Zum Kind in der Krippe gehören darum unbedingt Maria und Josef. Wir brauchen Menschen, um Mensch zu werden. Hier spielt die Familie eine entscheidende Rolle. Frühkindliche Erfahrungen sind prägend für eine ganze Biographie. Auch für den Glauben: Ohne Vorbedingungen angenommen und geliebt zu sein, aufeinander Rücksicht zu nehmen, Verantwortung zu tragen, zu verzeihen und nach einem Streit neu anzufangen, so etwas lerne ich zuerst in der Familie – oder eben auch nicht! Die Rede von Gott als Vater oder Mutter bleibt leer, wenn diese Begriffe nicht durch konkretes Erleben gefüllt sind. Bei all dem behält das klassische Vater-Mutter-Kind-Setting seinen unschätzbaren Wert. Das einzige Modell allerdings ist es nicht mehr und war es noch nie. Das statistische Bundesamt versteht heute unter Familie alle Eltern-Kind-Gemeinschaften, also Ehepaare, nichteheliche Lebensgemeinschaften und Alleinerziehende mit Kindern im Haushalt, wobei es unerheblich ist, ob es leibliche Kinder oder Stief-, Pflege- oder Adoptivkinder sind. So ist das Leben. Und überall gilt: Wir brauchen Menschen, um Mensch zu werden. Die Familie hat eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die persönliche Entwicklung des Einzelnen, für eine Gesellschaft und auch für die Kirche. Von daher ist die Hilfe für Familien und die Begleitung von Familien ebenso wie die Unterstützung von Menschen, denen eine Familie fehlt, immer auch ein wesentlicher Baustein der weltkirchlichen Arbeit von uns Franziskanern. Diese neue Ausgabe unserer Zeitschrift »Franziskaner Mission« berichtet von einigen solcher Projekte und lädt dazu ein, über »Familie« in ihren unterschiedlichen Facetten nachzudenken. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre. Vor allem aber wünsche ich Ihnen, dass auch Sie Menschen haben, die Ihnen helfen, immer mehr Mensch zu werden und Mensch zu bleiben. Und als Sekretär für Mission und Evangelisierung in unserer Deutschen Franziskanerprovinz danke ich Ihnen sehr herzlich für Ihr Interesse an unserer Arbeit und alle Unterstützung. Herzliche Grüße P. Cornelius Bohl ofm Sekretär für Mission und Evangelisierung TITEL In den armen Basisgemeinden Südamerikas hilft man sich an Weihnachten oft mit sogenannten »lebendigen Krippen«. Ein junges Paar mit neugeborenem Kind positioniert sich als Maria, Josef und Jesus während der Gottesdienste vor dem Altar, so auch auf unserer Mittelseite in Bolivien und auf unserer Titelseite im nordostbrasilianischen Bacabal. Ist das immer der Ausdruck nachhaltigen Familienglücks oder zeigt sich für manche Darsteller der Heiligen Familien ihre Partner- schaft dann doch später als Kreuzweg? Josef von Nazareth ist auf Bitten des Engels bei Maria geblieben, viele Josefs von heute aber leider nicht. 3

Inhalt 6 Ein Blick in die Krippe Einblick in familiale Lebenswelten Stefan Federbusch ofm 8 Taten der Liebe Franziskanische Familie und Franciscans International Michael Perry ofm 10 Familienzentrum Wenn es den Eltern gut geht ... René Walke ofm 12 Auf Oma ist Verlass Großmütter in Bolivien Yanira Leida Justiniano Ortiz htsf 14 Träume verwirklichen Erfahrungsbericht einer alleinerziehenden Mutter Leopoldina Alves das Neves 16 Tage ohne Essen Leben am Rande der Gesellschaft Carolina Graef 18 Mittelseite 20 Hoffnung für Kleinbauern Familienlandwirtschaftsschulen in Brasilien Vanderval Spadetti 22 Leben in Fülle Kinderpastoral in Brasilien Maria Eunice Cândido de Sousa 24 »Verliebt, verlobt, verheiratet«? Familienpastoral in Bolivien Reinhold Brumberger ofm 26 Zusammenhalten Soziale Strukturen in Malawi Sebastian Unsner ofm 28 Rolle der Vorfahren Das vietnamesische Menschenbild Chi Thien Vu ofm 29 Zukunftssicherung Familienplanung in Ostafrika Dr. Elizabeth M. Isingi lsosf 30 Hoffnung auf Zukunft Kinder verbessern die Welt Euphrasia Mutsotso 32 Flucht als Ausweg Auswirkungen von Migration in Guatemala Edgar Renderos Rosales 34 Post aus Guatemala 35 Projekt 14 10 2142 16

Personalia MARKUS HEINZE OFM Als Geschäftsführer von Franciscans International (FI) nahm Bruder Markus vom 20. bis 27. November 2022 am Internationalen Rat für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung (GFBS) in Petrópolis, Brasilien, teil. Die Koordinatoren für GFBS der 13 Konferenzen des Franziskanerordens berichteten über ihre jeweilige Arbeit und Initiative. Mit Blick auf die Zukunft wurden drei Projekte des Ordens vorgestellt: das Netzwerk für Migranten der Amerikanischen Länder, das Netzwerk der Mittelmeerländer und das Netzwerk für Frieden des Asiatisch-Pazifischen Raumes. Mit dem ersten Netzwerk besteht schon eine rege Zusammenarbeit mit FI; mit den beiden anderen laufen erste Gespräche. MICHAEL PERRY OFM Bruder Michael war von 2013 bis 2021 Generalminister des Franziskanerordens. Zuvor leitete er die Ordensprovinz von Chicago, nachdem er davor zehn Jahre als Missionar in der D.R. Kongo gewirkt hatte. Dort lehrte er an der Ordenshochschule Johannes XIII. und später in den USA. Heute ist Bruder Michael Präsident des Vorstands der franziskanischen Nichtregierungsorganisation »Franciscans International«. Außerdem möchte er Fremdsprachen lernen und sich im Verständnis von Gemeinwohl, sozialer Freundschaft und menschlicher Solidarität vertiefen. Weitere Interessensgebiete sind Frieden und Sicherheit im Licht des franziskanischen Charismas. PIERRE GUILLÉN RAMÍREZ GÓMEZ OFM Pater Pierre aus Kolumbien lebt seit April 2022 in München. Er plant, mehrere Jahre in Deutschland zu verbringen, um hier sein Promotionsstudium zu absolvieren. Die Brüder im Franziskanerkloster in München unterstützen ihn bei seiner kulturellen Integration und bei der Verbesserung seiner Deutschkenntnisse. Pierre studiert Philosophie an der Ordenshochschule der Jesuiten (HfPh). In seinem Heimatland Kolumbien hat der 33-jährige Franziskaner zuletzt als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der franziskanischen Universität San Buenaventura in Bogotá und Cali gewirkt. 24 30 32 20

Weihnachten ist Familienzeit. Ein Weihnachtsfest ohne Familienbesuch kaum vorstellbar. Weihnachten ist Zeit der Begegnung und des freudigen Miteinanders. Weihnachten ist Zeit hoher Erwartungen und stressiger Überforderung. Weihnachten ist Krippenzeit. Ein Weihnachtsfest ohne Krippe für die meisten kaum denkbar. Doch welches Familienbild kommt mir da entgegen? Ein Blick in die Krippe Einblick in familiale Lebenswelten TEXT: Stefan Federbusch ofm | ILLUSTRATION: Мария Неноглядова da ist er ja noch, der Josef, aber wo ist er später geblieben? Und wie hat er seine Vaterrolle ausgeübt? Und um mal ganz dezent nachzufragen: War er überhaupt der leibliche Vater? Die Bibel überliefert von diesem Schweiger kein einziges Wort! Annähernd zwanzig Prozent der Kinder leben nur mit einem Elternteil, rund 120.000 Kinder sind zudem jährlich von der Trennung ihrer Eltern betroffen. Postmoderne Idylle Äußerst pointiert hat es einmal der Berliner »Tagesspiegel« in seiner Weihnachtsausgabe auf den Punkt gebracht. Unter dem Titel »Der erste neue Mann« heißt es einleitend in einem Artikel über den heiligen Josef: »Josef spielt in der Weihnachtsgeschichte eher eine Nebenrolle. Zieht ein Kind groß, obwohl es von einem anderen ist. Zumindest schafft er die ganze Kohle ran. Und irgendwann Beim Blick in die Krippe werden die gut dreißig Prozent Einzelkinder in Deutschland sagen: Da schau, Jesus war auch ein Einzelkind. Die Geschwisterkinder können entgegnen: Jesus war zwar der »Erstgeborene«, aber er hatte noch Schwestern und Brüder (vgl. Mt 13,5458; Mk 6,1-6). Ob es sich dabei um leibliche Geschwister oder um Verwandte wie Cousins und Cousinen handelt, bleibt historisch umstritten. Beim Blick in die Krippe werden die verheirateten Eltern sagen: Da schau, eine klassische Kernfamilie von Vater, Mutter und Kind. Die unverheirateten Paare können entgegnen: Ja, aber unverheiratet, denn zumindest zum Zeitpunkt der Schwangerschaft war Maria lediglich verlobt. Schon 2010 hatten im Bundesdurchschnitt 43 Prozent der Erstgeborenen nicht verheiratete Eltern. Beim Blick in die Krippe könnten die Einelternfamilien beziehungsweise Alleinerziehenden anmerken: Da schau, verschwindet er, ohne dass die Bibel noch ein Wort über ihn verliert.« Der Artikel schildert ein postmodernes Familienszenario. Die so genannte Heilige Familie mit Maria, Josef und Jesus als eine Patchworkfamilie: ein unehe- liches Kind, eine zumindest später alleinerziehende Mutter, ein verschwundener Vater und vermutlich ein Einzelkind. »Eine beinahe postmoderne Familienidylle. Fast so unübersichtlich wie heute«, meint der Autor aus dem Tagesspiegel. In der Tat stand die »Heilige Familie« vor vielen handfesten Problemen: ungeplante Schwangerschaft eines jungen Mädchens (Mt 1,31), eher unromantische Geburtsumstände in einem Stall (Lk 2,7), Flucht (Mt 2,13-15), die Sorge um den Wohnsitz und eine gesicherte Existenz, ein pubertierender Jugendlicher, der sich ungefragt und unentschuldigt 6

Wohl der Kinder nicht aus den Augen zu verlieren, als Alleinerziehende den Alltag zu meistern … Menschwerdung Gerade an Weihnachten bricht die Sehnsucht nach heiler Familie auf. Als Ideal beschworen, zerbricht sie oft an der harten Wirklichkeit. Wilhelm Bruners meint, dass die Heilige Familie eine ganz und gar normale Familie war, und rät dazu, sie gerade deshalb heilig zu halten. Dann geht es nicht mehr um eine falsch verstandene Harmonie, um eine nicht zu erreichende romantische Familienidylle des 19. Jahrhundert, sondern um das Bild einer Familie, in der gelebt, geliebt und gestritten wird; wo alle miteinander ringen um den gemeinsamen Weg und um die Form des Miteinanders. Vielleicht mögen Sie mit diesen Gedanken Ihre Krippe noch einmal anders aufstellen, die Figuren anders positionieren, als sie immer stehen … Familie ist Ort der Menschwerdung – damals wie heute. Darauf kommt es schließlich an: Menschlich zu werden und dass ER kommt – in Ihre familiale Lebensform – wie auch immer die aktuell aussieht! von seinen Eltern entfernt (Lk 2,41-52), der später als Verkünder von der eigenen Familie für »verrückt« gehalten wird (Mk 3,21) und deshalb die Familie Gottes zu der seinen erklärt (Mk3,31-35). Probleme von damals, Probleme von heute. Mit der vermeintlichen Krippenidylle ist es näher betrachtet also nicht allzu weit her. Die sentimentale Besinnung des holden Knaben im lockigen Haar ist dann doch eher romantische Verklärung denn die Wiedergabe realer Verhältnisse. Wenn es im Tagesgebet des entsprechenden Festtages heißt, dass Gott uns in der Heiligen Familie ein »leuchtendes Vorbild« an Frömmigkeit, Eintracht und Liebe geschenkt hat, dann geht dies haarscharf am biblischen Befund vorbei. Jesus selbst war gerade kein Familienmensch, im Gegenteil: mit seiner leiblichen Familie hatte er häufig Stress. Nachfolge schloss für ihn den Bruch mit der eigenen Herkunftsfamilie ein (Mt 10,16-39). Der Blick in die Krippe bietet gerade den Menschen in den unterschiedlichsten familialen Lebensformen, zu denen heute beispielsweise auch gleichgeschlechtliche Familien zählen, die Möglichkeit zur Identifikation. Zudem spiegeln die Herausforderungen der »Weihnachtsfamilie« die Situation vieler Familien heute wider: in allen Bedrohungen halbwegs sichere Lebensorte zu finden, in allen Streitigkeiten eine Konfliktkultur einzuüben, in allen Verletzungen und Verwundungen einander zu verzeihen und neu miteinander zu beginnen, in allen Trennungen das Der Autor Stefan Federbusch leitet das »Exerzitienhaus – Franziskanisches Zentrum für Stille und Begegnung« in Hofheim. Er engagiert sich im Bereich Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Wilhelm Bruners (»heilige familie«, in: Das Gespräch mit dem Engel, Klens-Verlag, Düsseldorf 1990, 90) die Mutter der Vater das Kind die heilige Familie vergiß was du über sie gehört hast denn sie war eine ganz und gar normale Familie wenn du etwas über sie wissen willst informiere dich nicht bei denen die nicht zulassen daß sie eine ganz und gar normale Familie war wenn du etwas über sie wissen willst schau in die eigene Familie und denke nach über das was du dort erlebst Verstehen Enttäuschung Zuneigung Ablehnung Trennung Umarmung Zorn Liebe vergleiche dich mutig mit ihr und halte dich nicht für schlechter vergiß was du über sie gehört hast sie war eine ganz und gar normale Familie deshalb halte sie heilig 7

Franziskanerinnen Klarissen Kapuzinerinnen Franziskaner Kapuziner Konventualen Zweiter Orden 1212 Erster Orden 1209 Franziskus 1181–1226 Klara 1193–1253 Dritter Orden 1221 Regulierter Weltlicher Franziskanische Gemeinschaft Franziskusbrüder Franziskanische Familie Große zivile und religiöse Feste wie Weihnachten bieten Familien wunderbare Gelegenheiten, die gegenseitige Wertschätzung zu erneuern. Durch geschenkte Vergebung, Barmherzigkeit, Frieden, Liebe und Freude kann sich jedes Familienmitglied wieder angenommen, geliebt und geschätzt fühlen. Alle Mitglieder können ihr Interesse am Zusammenhalt der Familie durch Taten der Liebe erneuern. Taten der Liebe Franziskanische Familie und Franciscans International Die Solidarität zwischen Mitgliedern von Kern- und Großfamilien kann im Geist des Evangeliums jeden zu neuer Verbundenheit mit jedem Menschen und der ganzen Schöpfung führen. Angesichts der Covid-19-Krise, die uns alle seelisch individuell und gemeinschaftlich tief bewegt hat, schreibt Papst Franziskus: »Die aktuelle Pandemie hat unsere gegenseitige Abhängigkeit deutlich gemacht: Wir sind alle miteinander verbunden, im Guten wie im Bösen. Um besser aus dieser Krise herauszukommen, müssen wir dies gemeinsam tun; zusammen, nicht allein. Zusammen!« (Fünfte Katechese von Papst Franziskus zur Covid-19-Pandemie). Laut Papst Franziskus bietet uns diese Pandemie die Möglichkeit, die grundlegende soziale Natur unseres menschlichen und christlichen Lebens wieder neu zu entdecken: Wir sind als Familie berufen, einander wertzuschätzen und füreinander zu sorgen. Der Zeitgeist versucht aber, unsere Aufmerksamkeit von der tieferen Wahrheit über die Verbundenheit allen Lebens abzulenken. Er bringt uns dazu, unseren Verstand und unsere Herzen vor den Bedürfnissen anderer Menschen und der Schöpfung zu verschließen und uns ausschließlich auf eigene Interessen zu konzentrieren. Dies zeigt sich in der Ablehnung denen gegenüber, die auf der Flucht vor Krieg, Armut und ökologischer Zerstörung unsere Landesgrenzen erreichen; ferner im Konsumrausch und in der Anhäufung materieller Güter, die wenig dazu beitragen, Einsame zu trösten; das wird auch sichtbar in fehlender Vergebungs- oder Dialogbereitschaft mit Familienmitgliedern, die uns nahestehen, oder mit denen, die unsere politischen oder moralischen Ansichten nicht teilen. Die Versuchung, uns zu isolieren, kann verlockend sein, da sie uns angeblich Sicherheit und Stabilität bietet. Vorbild der Weisen Die Einladung der Inkarnation fordert uns jedoch heraus und lädt ein, eine neue Richtung einzuschlagen – wie die drei Weisen: Sie folgten dem Stern auf der Suche nach neuem Sinn und Grund für die Hoffnung. Genau das tat Gott durch die Sendung seines geliebten Sohnes Jesus Christus in die Welt. Gott schlug eine neue Richtung ein. Gott gab alle Ansprüche auf Transzendenz und Autonomie auf. Er nahm menschliche Gestalt und unsere Gebrochenheit an, indem er uns einlud, die wahre Natur unserer Herkunft, Identität und Bestimmung als Mitglieder von Gottes Familie neu zu entdecken. Zu Weihnachten passiert etwas anderes: Gott heißt uns willkommen im Familienkreis der Dreieinigkeit, in dem Selbsthingabe, grenzenlose Liebe, Barmherzigkeit und das bedingungslose Angebot von Gemeinschaft und Solidarität innerhalb und zwischen allen innerhalb des Kreises existieren. Durch das Geschenk von Jesus, dem Armen, der in einer Krippe geboren wurde, entdeckt jeder von uns einen neuen Weg: Wir erfahren, was es bedeutet, vollkommen zu leben. Mit den Worten von Mutter Theresa von Kalkutta heißt das: »Ein Leben, das nicht für TEXT: Michael Perry ofm | ILLUSTRATION: Deutsche Franziskanerprovinz | FOTO: Franciscans International 8

andere gelebt wird, ist kein Leben.« Wir werden jedes Mal bessere Menschen, wenn wir über unsere begrenzten Eigeninteressen hinausgehen, anderen – in der Nähe und Ferne – die Hände reichen, ganz besonders den leidenden Menschen und unserem verwundeten Planeten. Solidarität, von der Inkarnation geprägt, bedeutet viel mehr als eine Reihe gut gemeinter Aktionen wie das Teilen von Brot und wirtschaftlichen Ressourcen mit denen, die am meisten materielle Hilfe benötigen – auch wenn diese Hilfen notwendig und willkommen sind. Die Krippe von Bethlehem lädt ein, das menschliche Leben anzunehmen, in dem alle willkommen sind und niemand zurückgelassen wird. Die herausfordernden Worte Marias, der Mutter Jesu, im Magnifikat erinnern daran: »Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungrigen beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer aus- gehen.« (Lukas 1,46-55) Dies sind keine frommen Gemeinplätze, die bei Gläubigen einen Geist der Unterwerfung und Angst hervorrufen. Nein! Dies sind Marschbefehle, um das zu tun, was der Prophet Micha den Israeliten aufgetragen hat: »Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott.« (Micha 6,8) Engagement von FI Die weltweite franziskanische Familie, die rund 375.000 Franziskanerinnen und Franziskaner aller Zweige in über 165 Ländern zählt, nimmt die Worte des Magnifikats und des Propheten Micha ernst und hat Gottes Aufforderung an uns in die Tat umgesetzt: nämlich Erbarmen und Gerechtigkeit zu üben, solidarisch zu leben mit allen Menschen in unserem gemeinsamen Haus, auf unserem Planeten. Franciscans International (FI) ist eine Nichtregierungsorganisation mit dem Auftrag, bei den Vereinten Nationen und ihren verschiedenen Organisationen die franziskanische Stimme hören zu lassen. Diejenigen, die Macht haben, positive soziale Veränderungen zu bewirken, sollen die Erfahrungen und Geschichten der leidenden Menschen und unseres verwundeten Planeten aufmerksam hören. Durch öffentliches Eintreten verschafft FI den Stimmen der Leidenden Gehör im Menschenrechts- und im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und in ihren internationalen Organisationen. Auf diese Weise drückt FI die tiefsten Werte des christlichen Glaubens und die Vision des heilige Franziskus von Assisi für eine Welt aus, in der es keinen Krieg, keine Armut, kein Leid und keine Ausgrenzung mehr geben wird, in der alle gleichermaßen die Früchte der Erde teilen werden. Mögen wir in dieser Weihnachtszeit zur Krippe gehen, wo »Gott selbst die einzige wahre Revolution beginnt, die den Enterbten und Ausgeschlossenen Hoffnung und Würde verleiht: die Revolution der Liebe, die Revolution der Zärtlichkeit.« (Papst Franziskus: Über die Bedeutung und den Wert der Weihnachtskrippe, 1.12.2019) Der Autor Michael Perry ist Mitglied der Franziskanerprovinz von Chicago (USA). Zehn Jahre arbeitete er als Seelsorger, Lehrer und Forscher in der D.R. Kongo. Von 2013 bis 2021 war er Generalminister des Franziskanerordens. Heute setzt er seine internationalen Erfahrungen unter anderem als Präsident des Vorstands der Nichtregierungsorganisation »Franciscans International« ein. Übersetzung aus dem Englischen: Heinrich Gockel ofm Möge der Stern, der die Sterndeuter führte, auch uns auf den Weg zu einer humaneren und geschwisterlichen Welt führen, in der alle Menschen wertgeschätzt werden, alle dazugehören, alle als Brüder und Schwestern, als Mitglieder der einen Familie Gottes anerkannt werden. FI-Vorstand vor dem UNO-Hauptsitz in Genf, Schweiz: José Eduardo Jazo Tarín TOR, James Donegan ofmCap, Blair Matheson TSSF, Michael Perry ofm, Charity Nkandu SFMA, Markus Heinze ofm, Joseph Blay ofmConv, Joseph Rozansky ofm (v.l.n.r.) 9

... dann geht es auch den Kindern gut. Was beschäftigt junge Familien heute? Wie können verschiedene Generationen miteinander gewinnbringend in Beziehung gebracht werden? Wir besuchen das Familienzentrum Kerbscher Berg in Dingelstädt und sprechen mit der Leiterin Pia Schröter. Pia, was ist ein Familienzentrum? Ein Familienzentrum bietet Möglichkeiten der Begegnung, der Bildung und Beratung für alle Generationen. Ein Leitgedanke ist: Zwei Generationen lernen gemeinsam konkrete Fähigkeiten. Sie erleben in den Gruppen Interaktion und Kommunikation, was die Bindung zwischen Eltern und ihren Kindern fördert und stützt – und zur Persönlichkeitsentwicklung beiträgt. Die pastoralen Angebote wecken die Freude am Glauben. So wird der natürliche und kirchliche Jahreskreis mit vielen Elementen gefeiert. Wir wollen unseren Glauben lebendig machen und bewährte Traditionen in unsere heutige Lebenswirklichkeit mit hineinnehmen. In welcher Situation treten Eltern an euch heran? In der Schwangerschaft und vor allem in der Elternzeit suchen Eltern Angebote für sich und ihr Kind, um andere Familien in ähnlichen Lebenssituationen zu treffen, um ungestört Zeit mit dem Kind zu verbringen und sich mit anderen Müttern und Vätern auszutauschen. Unser Familienzentrum hat dafür ver- schiedenste Angebote im Programm. Pro Woche gibt es zwölf »PEKiP«-Kurse (»Prager Eltern Kind Programm«, 1970 entwickelt vom Prager Psychologen J. Koch) und sieben Eltern-Kind-Gruppen und anderes. Worum geht es in PEKiP-Kursen? In den Kursen steht die Begleitung von Eltern mit ihren Babys durch Spiel und Bewegungsanregungen, in der besonderen Zeit des ersten Lebensjahres, im Mittelpunkt. Entwicklungs- und Erziehungsfragen aus dem Alltag junger Familien werden aufgegriffen. Eltern erhalten Orientierung und Begleitung in vielerlei Entscheidungsfragen. Besonders wichtig ist, dass sich jemand wirklich für die neue Situation der Eltern interessiert, die Eltern gerade nach der Geburt des ersten Kindes haben. Interessieren sich andere nicht auch für junge Eltern? Viele Eltern vermissen die Wertschätzung und Anerkennung für das, was sie gerade im ersten Lebensjahr des Kindes Tag und Nacht leisten. Zudem sind sie zunehmend zerrissen: Einerseits wollen sie dem Kind die volle Aufmerksamkeit und Nähe schenken, auf der anderen Seite fühlen sich viele unbewusst fremdbestimmt: Oft muss ein Haus-Kredit abbezahlt werden, Kosten steigen, der Arbeitgeber drängt auf eine baldige Rückkehr an den Arbeitsplatz und zu Hause fehlt Verständnis für die Erziehungsarbeit. Hinzu kommt, dass wir in den ostdeutschen Bundesländern seit drei Generationen häufig ganztags (voll) arbeitende Mütter haben, die sich für die finanzielle Absicherung der Familie ebenfalls verantwortlich fühlen. INTERVIEW: René Walke ofm | FOTO: Familienzentrum »Kloster Kerbscher Berg« Eckdaten Bis 1994 war der »Kerbsche Berg« im Eichsfeld durch die Franziskaner belebt. Anschließend über- nahm das Bistum Erfurt das Gebäude und die Trägerschaft der Einrichtung. Das heutige Familienzentrum, 1996 gegründet, ist eines der 15 Thüringer Familienzentren. Es wird pro Jahr von bis zu 10.000 Kurs- und Veranstaltungsteilnehmenden besucht. Ergänzend bietet die Caritas hier Schwangerenberatung, Frühförderung und Trauerbegleitung an. Pia Schröter ist seit 2014 Leiterin der Einrichtung und Mitglied der franziskanischen Gemeinschaft »vivere«. Familienzentrum Wenn es den Eltern gut geht ... 10

Wie könnt ihr den Eltern in dieser Zerrissenheit zur Seite stehen? Neben dem eigentlichen PEKiP-Programm werden gerade diese Themen durch die Kursleiterinnen aufgegriffen. Wir bestärken die Eltern darin, sich und dem Kind Zeit zu lassen, für eine ganzheitliche Entwicklung. Es kommt vor, dass nach solchen gemeinsamen Überlegungen die Elternzeit verlängert wird. Und die Eltern können sich mit anderen Eltern im vertrauten Rahmen der Gruppe austauschen. Durch diese ganz persönlichen Gespräche entstehen oft tragende Freundschaften. Nehmen auch Väter an diesen Kursen teil? Seit 2007 gibt es die Möglichkeit für alle Väter, Elternzeit zu nehmen. So kommen die Väter manchmal mit, aber durchaus für einige Zeit auch allein mit dem Baby, wenn die Frau wieder arbeitet. Auch im traditionellen Eichsfeld wird es mehr und mehr normal, dass Väter den Kinderwagen schieben oder mit Tragetuch zu sehen sind. Woher kommen die Eltern zu euch? Unsere Veranstaltungen stehen allen offen und werden von Menschen aus ei- nem Umkreis von 30 Kilometern besucht. Mit unseren zunehmenden Online-Bil- dungsangeboten erhöht sich die Reichweite deutschlandweit. Die Teilnehmenden gehören eher zur Mittelschicht. Andere Angebote wie die »Eltern-AG« hingegen sind Präventionsprogramme für Familien in belastenden Lebenslagen. Worum geht es bei diesen Präventionskursen? In diesen Familien fehlen den Eltern Ressourcen, um ihre Erziehungsverantwortung und die Bedürfnisse der Kinder gut wahrzunehmen, sei es auf Grund von chronischen Erkrankungen, Suchtproblematiken oder anderen Ursachen. Wir versuchen zu sensibilisieren: Was braucht dein Kind? Ist es zu vielen oder zu wenigen Reizen ausgesetzt? Kann sich dein Kind gesund entwickeln? Suchen diese Familien gezielt bei euch Hilfe? Die Eltern-AG ist Teil einer beruflichen Maßnahme des Arbeitsamts. Die Teilnahme ist teilweise verpflichtend. Das erste Mal kommen die meisten ungern, später sind sie traurig, wenn der Kurs zu Ende ist. Wodurch kommt dieser Wandel? Bei vielen dieser Eltern ist das Selbstwertgefühl (sehr) gering ausgeprägt oder sie haben verschiedenste Ängste. Es geht uns um Empowerment, also Mut machen, Talente »feiern«. Wenn es den Eltern gut geht, dann geht es auch den Kindern gut. Es steckt ein wissenschaftlich erprobtes Konzept hinter der Eltern-AG. Die 20 wöchentlichen Treffen laufen stets gleich ab: Im ersten Teil erzählen die Teilnehmenden von ihrem Alltag, danach folgen Fragen wie »Wie kann ich meinen aufregenden Elternalltag entspannen und gestalten?«. Im letzten Teil gibt es je einen von allen Eltern ausgesuchten Fachbeitrag in leichter Sprache zu einem Erziehungsthema. Das hört sich sehr wertvoll an! Eure Angebote richten sich also vermehrt an junge Familien? Im Familienzentrum haben wir Angebote für alle Generationen. Mit dem Projekt »Familienzentrum Mobil« fahren wir auch in weit entfernte Orte des Eichsfelds, um die Benachteiligung von Menschen auf Dörfern zu minimieren. Dort bieten wir PEKiP-Kurse an, danach ein Begegnungskaffee für die Eltern mit ihren Kindern, zu dem auch Senioren eingeladen sind. Diese haben im Anschluss ihre eigenen Angebote wie Gedächtnistraining, Sport oder Vor- träge. Unser Ziel ist es, Generationen zusammenzubringen, damit sie Verantwortung füreinander übernehmen. So ein Familienzentrum hat ein breites Spektrum. Es entwickelt sich auch ständig weiter. Ich bin seit acht Jahren Leiterin und empfinde mich zeitweise immer noch in der Einarbeitung. Früher gab es eine große Nachfrage nach Kreativangeboten, das ist heute anders. Die sozialpädagogische Arbeit nimmt zu und mit geschulten Elternbegleiterinnen sind wir präventiv aktiv – wir wollen da sein, bevor sich negative Entwicklungen einschleichen. Die Flüchtlingswelle 2015, Corona, das Klima, der Ukrainekrieg und dessen Folgen – all das bereitet uns, aber auch den Familien Sorgen. Wie kann ein Familienzentrum auf diese Dinge reagieren? Wir versuchen, jeweils adäquate Angebote zu entwickeln. Seit der Flüchtlingswelle 2015 bieten wir eine »Sprach-SpielZeit« für geflüchtete Frauen mit ihren Kleinkindern an. Sie lernen die Sprache und werden beraten, zum Beispiel be- züglich des Gesundheits- und des Bildungssystems in Deutschland. In diesem Jahr kamen Sprachkurse für ukrainische Familien hinzu. Außerdem organisieren wir interkulturelle Begegnungen und ukrainisch orthodoxe Gottesdienste. Weil uns das Miteinander am Herzen liegt, führen wir soziale Trainingseinheiten an Grundschulen durch oder thematisieren immer wieder den Klimaschutz und die Bewahrung der Schöpfung. Längst können wir nicht auf alle Bedarfe reagieren, weil die personellen und finanziellen Ressourcen begrenzt sind. Doch mit einem sehr engagierten Team und vielen Ehrenamtlichen sowie Spenden und Fördermitteln wird vieles leistbar. Pia, gibt es zum Abschluss etwas, was du den Familien heute besonders wünschst? Eltern lassen sich oftmals gesellschaftliche Ansprüche überstülpen und bauen sich so Stress im Alltag auf – kein Kind will gestresste Eltern haben! Kinder brauchen in erster Linie Zeit und Interesse für sie. Weniger ist oftmals mehr: gemeinsame Mahlzeiten und sich öffnen für den Alltag des anderen, Meinungsverschiedenheiten aushalten und diskutieren. Diese kleinen Dinge sind unendlich wertvoll! Den Eltern wünsche ich, sich ihrer Vorbildwirkung bewusst zu sein, sowie ihren heranwachsenden Kindern etwas zuzutrauen, sodass es ihren Kindern ein Anliegen wird, für familiäre Aufgaben und ein gutes Miteinander Verantwortung zu tragen. Das Interview führte René Walke ofm mit Pia Schröter, der Leiterin des Familienzentrums auf dem Kerbschen Berg in Dingelstädt. 11

Heute sind sie selbst die Großmütter und kümmern sich um die Enkelkinder, denn die Mütter und Väter arbeiten den ganzen Tag und kommen erst spätnachts heim. Hoffentlich haben sie Lebensmittel für die Kinder dabei. Viele Großmütter sind vollkommen auf sich gestellt und müssen um Hilfe bitten, um Lebensmittel oder Medikamente zu kaufen. 80 Prozent der Großmütter haben nur die Grundschule besucht und andere haben nie eine Schule von innen gesehen, da ihre Eltern sie von klein auf haben arbeiten lassen. Für die jetzige junge Generation gilt Ähnliches. Noch heute haben die Familien oft nicht das Notwendigste für eine gute Ernährung. Aber es gibt noch andere Herausforderungen. Einige Enkelkinder gehorchen ihren Großeltern nicht, oder manchmal schwänzen sie den Unterricht. Ältere Kinder gehen aus, um sich mit ihren Freunden zu vergnügen, sie kommen nach Hause, wann sie wollen, und die Großeltern machen sich Sorgen. Wir Franziskanerinnen kümmern uns um die Bedürftigsten, um die Armen und Alten. Wir bringen ihnen Essen, wir besuchen sie, hören zu und beten gemeinsam. Viele Seniorinnen und Senioren leiden unter Einsamkeit. Wenn sie von ihren Lebenserfahrungen erzählen, fangen sie an zu weinen und sind dankbar für die Momente der Begleitung. Die Großmütter sind das Beispiel eines lebendigen und bleibenden Glaubens. Trotz ihrer Schwierigkeiten und Krankheiten kommen sie sonntags zu Fuß zur Kirche, um an der Eucharistiefeier teilzunehmen. Die Großmütter sind diejenigen, die den Enkeln von klein Oft haben wir das Gefühl, dass es die Großmütter sind, die die Familien in Bolivien tragen. Dabei waren sie selbst als junge Frauen in derselben Situation, wie ihre Töchter heute. Sie waren oft alleinstehend und mussten ihre Familie versorgen und die Erziehung ihrer Kinder den Großeltern überlassen. Nicht selten waren sie gezwungen, an anderen Orten in Bolivien oder im Ausland nach Arbeit zu suchen. Auf Oma ist Verlass Großmütter in Bolivien TEXT UND FOTOS: Yanira Leida Justiniano Ortiz htsf dorthin weit. Flora betet zu Gott, dass es ihre Tochter eines Tages schafft, ihr Leben zu verändern und selbst Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen. Ofelia ist 87 Jahre alt, sie hat zehn Kinder. Sie lebt mit einem Sohn zusammen, der hörbehindert ist und als Motorradtaxifahrer arbeitet. Ein Nachbar gibt ihr Mittagessen, aber oft gibt es nur Tee mit Brot für sie – wenn es überhaupt irgendwas gibt: Denn oft gibt sie den Teller mit Essen ihrem Sohn, wenn er zur Arbeit geht. Jedes Mal, wenn unser Besuchsdienst zu ihr kommt, freut Ofelia sich, dass wir Leben in ihr Heim bringen, und sie sagt immer: »Ich habe auf dich gewartet.« Sie hört nicht gut und wegen der Schmerzen fällt ihr das Gehen schwer, aber sie hält gerne Ordnung und putzt das Haus. Vor ein paar Monaten starb ihr behindertes Enkelkind, das bei ihr lebte. Jedes Mal, wenn sie sich daran erinnert, werden ihre Augen sehr traurig, weil sie es so sehr vermisst. Manchmal besuchen sie auch einige ihrer Kinder, die in der Nähe leben. Wir Franziskanerinnen tun alles, um uns um die armen Großmütter und ihre Familien zu kümmern, Leid zu lindern, Hunger zu stillen und zu beten. Die Autorin Yanira Leida Justiniano Ortiz ist Oberin in Ascensión de Guarayos und leitet dort diverse Projekte. Übersetzung aus dem Spanischen: Pia Wohlgemuth auf beibringen, jeden Tag zu beten. Sie beten auch viel für ihre Kinder, damit sie ihre Arbeit gut machen, und für diejenigen, die weit weg sind, damit sie zurückkommen und sie besuchen. Drei starke Omas Juana ist 83 Jahre alt, sie hat sechs Kinder, die alle ihre eigene Familie haben. Eine Tochter lebt noch bei ihr, diese hat vier Kinder, die studieren. Die Tochter geht ab 8 Uhr zur Arbeit und kehrt nachts um 22 Uhr zurück. Also ist Oma Juana diejenige, die für die Familie mit Enkeln und Urenkeln kocht, Wäsche wäscht und das Haus putzt. Ihr Mann ist vor zehn Jahren gestorben, also betet sie viel, damit Gott ihr genug zu essen gibt. Am Nachmittag gehen drei der Urenkel zur Schule, dann kümmert sich Juana um den jüngsten Urenkel von vier Jahren. Juana ist sehr krank, sie hat Rheuma und starke Schmerzen in Knien und Händen, aber sie freut sich, wenn jemand sie besucht und mit ihr betet. Flora ist erst 52 Jahre alt, muss sich aber als Oma schon jetzt um ihre Enkelkinder kümmern, da ihre Tochter Alkoholikerin ist. Oft lässt die Tochter die Kinder längere Zeit allein bei der Großmutter. Das jüngste der Enkelkinder ist schwer unterernährt. Dieser Familie helfen wir mit Lebensmitteln. Flora ist das Oberhaupt einer sehr armen Familie, die von dem lebt, was sie täglich verdient. Wenn Oma Flora zur Arbeit geht, um für fremde Leute die Wäsche zu waschen oder zu kochen, muss sie ihre Enkel mitnehmen. Oft ist der Weg 12

Oma Juana Oma Flora Oma Ofelia mit ihren Urenkeln 13

Träume verwirklichen Erfahrungsbericht einer alleinerziehenden Mutter 14

Um in der Schule arbeiten zu können, bringt Leopoldina Alves das Neves ihre Tochter Thaynara per Maultier zu den Großeltern. Mutter Leopoldina mit Tochter Thaynara Als Tochter von Landarbeitern bin ich auf dem Land aufgewachsen: kaum Möglichkeit zur Schulbildung, weit entfernt von der Stadt und die sozialen Kontakte sehr beschränkt. Das Schicksal war somit schon vorhergesagt: heiraten, Kinder kriegen und abhängig von einem Mann sein. Wird diese Wirklichkeit auch meine sein? Ich kannte viele Landarbeiterinnen, die so lebten. Einige davon waren verheiratet und hatten Kinder. Die meisten von ihnen waren von ihren Lebenspartnern abhängig und wahrten nur den Schein einer intakten Familie. Dieses Schicksal wollte ich für mich nicht. Ich wollte immer ein unabhängiges Leben führen und frei sein. Um das verwirklichen zu können, arbeitete ich immer auf dem Land bei meinen Eltern und Geschwistern. Hier verdiente ich Geld für meine Ausbildung. Nachdem ich die Abendschule beendet hatte, studierte ich weiterhin abends, um Lehrerin zu werden. Das war mein größter Traum: anderen Menschen Schulbildung zu ermöglichen, damit sie auch eines Tages ihr eigenes Leben selbst in die Hand nehmen könnten. Heute habe ich es geschafft, denn meine Abendschule konnte ich erfolgreich beenden und ich bin Lehrerin! Mein Leben veränderte sich aber während der Ausbildung von heute auf morgen nach meiner ungeplanten Schwangerschaft – und das in einer nicht funktionierenden Beziehung. Heute ist meine Tochter Thaynara zwei Jahre alt. Sie ist ein Geschenk Gottes. Sie ist mein Ein und Alles. Alleinerziehende Mutter zu sein, ist weder ein Familienstand noch ein Wunschkonzert. Ein Kind großzuziehen ist eine ernstzunehmende Verantwortung. Dieses neue Leben ist einerseits zu hundert Prozent von mir, meinen Entscheidungen und Handlungen abhängig. Andererseits gibt es mir so viel Kraft und Mut, die Herausforderungen des täglichen Lebens mit Stolz zu meistern. Es gab aber auch viele Steine auf diesem Weg, den ich dank meiner Familie nicht allein gehen musste. Der Weg einer alleinerziehenden Mutter ist voller Hindernisse verschiedenster Art. In vielen Momenten war ich Kritik und Meinungen ausgesetzt, die mich nicht nach vorne brachten. Als ledige Frau heute sehe ich kaum einen Unterschied im Vergleich zu früheren Zeiten. Ein großer Anteil der Gesellschaft toleriert uns Frauen mit einem Kind ohne einen Mann an unserer Seite nicht. Sogar Frauen untereinander haben eine abweisende Haltung gegenüber alleinerziehenden Müttern. Zum Glück überwiegen die ermutigenden Erfahrungen von Familienangehörigen, meinem Freundeskreis sowie Arbeitskolleginnen und -kollegen, die mir helfen, mit erhobenem Haupt – und meiner Tochter auf dem Arm – durch die Welt zu gehen. Durch meine Thaynara sehe ich die Welt mit wachsamen und glücklicheren Augen. Unabhängig von der Wirklichkeit, Familienverantwortung und alltäglichen Dingen, die zum Muttersein gehören, bin ich dankbar für meine Entscheidung: meine Tochter zu erziehen, zu schützen und bis zu meinem letzten Atemzug zu lieben. TEXT: Leopoldina Alves das Neves | FOTOS: Fernandes Henrique M. de Brarros ofm Die Autorin Leopoldina Alves des Neves ist Grundschulehrerin in der Franziskanerpfarrei von Lago da Pedra, Nordostbrasilien. Übersetzung aus dem Portugiesischen: Márcia Santos Sant’Ana 15

Was hier auffällt: In dieser Gegend sind die meisten Häuser nicht fertiggestellt, es gibt keine betonierten Straßen und teilweise keinen Strom, Internet oder gar Wasser. Besonders die Kinder und Familien dieser Gegenden kämpfen tagtäglich ums Überleben und vor allem für eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Fels in der Brandung Zwischen all diesen Häusern, ausgetrockneten Bächen und Bergen aus Müll engagiert sich das Projekt »Hilando Sueños« (»Träume spinnen«). Das kleine, unscheinbare Haus, in dem das Projekt seine Angebote für Familien umsetzt, ist für viele Kinder, Frauen und Familien ein Fels in der Brandung, ein Wegweiser und vor allem eine familiäre Gemeinschaft. Neben der Hausaufgabenbetreuung, dem Mittagessen und einem medizinischen Check, bietet das Projekt frauenstärkende Teilprojekte wie eine Nähwerkstatt, eine Bäckerei und Workshops zu Gesundheit und Eigenständigkeit. Die Direktorin des Projektes glaubt sehr daran, dass man mit kleinen Dingen Großes bewirken kann. Um dies zu schaffen, ist vor allem am Anfang Hilfe zur Selbsthilfe notwendig. Daher wurde innerhalb des Projektes im Mai 2018 das Teilprojekt »Familien in psychosozialer Gefahr« ins Leben gerufen. Es ist eine Art finanzieller Puffer, der für absolute Notfälle eingesetzt werden soll, um so vor allem die Kinder in Familien zu schützen, zum Beispiel bei Krankheiten und Unfällen. Mehrköpfige Familien haben es im Andenhochland Boliviens schwer. Aufgrund der finanziellen Lage, teils geschuldet durch klimatische Veränderungen, ist die Binnenmigration sehr hoch. In Cochabamba verschmelzen die Vororte mit den südlichen Stadtgebieten zu einem Meer aus Häusern. Tage ohne Essen Leben am Rande der Gesellschaft Josue und Betzaida kommen regelmäßig ins Kinderprojekt »Hilando Sueños«. TEXT: Carolina Graef | FOTOS: Delina Calani 16

Betzaida lernte im Projekt neue Freunde kennen. Es dient aber auch zur (einmaligen) Unterstützung von Familien, die in finanzielle Krisen kommen und vielleicht nicht das geforderte Schulmaterial kaufen oder ihre Kinder nicht mehr ernähren können. Damit sollen an erster Stelle die Kinder zuhause davor geschützt werden, an Essen, Krankheit oder an fehlender Bildung zu leiden. Und sie werden indirekt damit auch psychisch bei derartigen Notfallsituationen entlastet. Das Team vor Ort in Cochabamba betreut die Familien und gibt so die nötige Hilfe zur Selbsthilfe. Not und Elend Dass solche Hilfen notwendig sind, hat mir vor allem folgendes Erlebnis gezeigt: Es war Frühjahr 2019. Die Familie Sandi Chumacero lebte ihr hartes und bescheidenes Leben. Gerade hatte Zenobia Sandi Chumacero ihr drittes Kind entbunden. Betzaida (5) und Josue (8) besuchten schon einige Jahre die Hausaufgabenbetreuung und das Mittagessen in dem Projekt. Die Schwangerschaft war für die junge Mutter eine schwierige Zeit gewesen. Sie war ungewollt schwanger geworden. Sie war nur vage über vernünftige Verhütung aufgeklärt und selbst wenn sie es gewesen wäre, sie hätte es sich schlichtweg nicht leisten können. Eine Abtreibung kam vor allem für ihren Mann nicht in Frage und so, geplagt durch die finanzielle Sorge, wie sie ein drittes Kind ernähren sollte, bekam sie ihr Baby. Ihr Mann arbeitete als Schwarzarbeiter auf dem Bau. Sie selbst verkaufte Obst auf der »Cancha«, dem Markt der Stadt. Die Eltern umsorgten ihre Kinder immer sehr. Sie gingen zu allen Besprechungen, die einmal im Monat mit der Projektleitung Pflicht sind, und brachten ihre Kinder so gepflegt wie möglich ins Projekt. Die Kinder hatten, anders als andere, eine sehr gesunde körperliche Statur. Denn in Zeiten, in denen das Essen nicht reichte, gaben die Eltern ihre eigene Ration ihren Kindern. Nach der Geburt des Babys kamen Josue und Betzaida nicht mehr zu uns ins Projekt. Dies war ungewöhnlich, denn sie hatten vorher nie gefehlt. Auf Anrufe reagierten die Eltern nicht. Nach einigen Wochen kamen sie wieder ins Projekt. Beide Kinder hatten deutlich an Gewicht verloren. Die Mutter wurde daraufhin sofort von der Direktorin des Projektes angesprochen. Unter Tränen erzählte sie, dass es ihr peinlich gewesen war, die Kinder zum Hort zu schicken, denn sie hatten schon seit Tagen nichts zu essen. Ihr Mann war bereits seit mehreren Wochen ohne Arbeit. Und durch das Baby konnte sie selbst nicht mehr so viele Stunden arbeiten wie vorher. Betrug und Pech Die Mutter erzählte weiter: Das Geld war knapp geworden und so überlegten sich die Eltern, wie sie sich selbst helfen könnten. Sie berichtete, dass sie von einem Auto-Verkäufer in La Paz gehört hatten, der Fahrzeuge sehr günstig anbot. Sie entschieden sich, ein solches Fahrzeug zu kaufen und als Truffi (eine Art Kleinbus, welcher als öffentliches Verkehrsmittel in Bolivien eingesetzt wird) anzumelden, um Geld zu verdienen. Also trugen sie ihr komplettes Erspartes zusammen, verkauften ihre Wertsachen, nahmen einen Kredit auf und fuhren nach La Paz. Dort angekommen trafen sie auf den Verkäufer und bekamen für ihr Geld einen nagelneuen Van. Wichtig ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass sich beide Elternteile nicht mit Verträgen auskennen. Keiner von beiden war zur Schule gegangen und sie konnten weder richtig lesen noch schreiben. Und daher empfanden sie es als normal, ein Fahrzeug im Austausch für Geld zu bekommen. Ohne Papiere, ohne Vertrag. Glücklich über ihr neues Auto fuhren sie Richtung Cochabamba. Doch schon an der ersten Schranke, die man zum Verlassen der Stadt passieren muss, wurden sie von Beamten angehalten und nach den Fahrzeugpapieren gefragt, die sie nicht besaßen. Der Beamte zeigte Verständnis und fuhr mit ihnen zusammen an den Ort zurück, an dem sie das Auto gekauft hatten. Als sie ankamen, war dort niemand, und Menschen, die in der Gegend waren und befragt wurden, kannten den Verkäufer angeblich nicht. Der Beamte musste daraufhin ein Bußgeld verhängen, da es in Bolivien illegal ist, ein Fahrzeug ohne Papiere zu besitzen. Die Polizei beschlagnahmte außerdem das Auto. Mit ihrem letzten Geld fuhr das Ehepaar nach Hause. Sie hatten kein Auto mehr und dazu noch Schulden bei der Bank. In den nächsten Tagen gingen ihnen ihre kompletten Essensvorräte aus. Verzweifelt suchten sie nach Arbeit. Sie fanden sich in einer aussichtslosen Situation wieder. Soforthilfe Als die Direktorin das hörte, bot sie der Familie sofort Essensrationen an. Sie gingen Beschäftigungsmöglichkeiten für die Eltern durch und beschlossen, dass Zenobia Sandi in der Näherei mitarbeiten könnte. Beeindruckend war es, dass die Mutter trotz solch einer aussichtslosen Situation den Überlebenswillen nicht verlor. Und sie war nicht gewillt, das Essen als Spende anzunehmen, sondern sie möchte es irgendwann zurückzahlen. Das Projekt hat diese Familie entlastet und ihr geholfen, wieder ein stabiles Umfeld aufzubauen. Heute besuchen alle drei Kinder das Projekt. Sie gehören zu den Besten ihrer Schulklasse und halten ein gesundes Gewicht. Die Eltern arbeiten beide und haben ein geregelteres Einkommen. Die Familie konnte sich mit der Hilfe von »Hilando Sueños« aus ihrer aussichtslosen Situation befreien und für ihre Kinder wieder eine stabile Lebensgrundlage schaffen. Die Autorin Carolina Graef arbeitete ein Jahr im Freiwilligendienst »weltwärts« im Kinderhort »Hilando Sueños«. Heute studiert sie Journalismus und Public Relations in Gelsenkirchen und engagiert sich weiterhin für das Projekt. 17

Mittelseite

Die Familienlandwirtschaftsschulen kamen in den 1980er Jahren in den Bundesstaat Maranhão. Heute gibt es dort bereits 19 EFAs, die durch einen eigenen Dachverband mit Sitz in Bacabal miteinander verbunden sind. Alle EFAs verfolgen die gleichen Ideale: ein menschenwürdiges Leben in ländlichen Regionen führen zu können, agrarökologische Arbeitsweise zu garantieren, das Leben zu respektieren und die Schäden von konventioneller Landwirtschaft und Agrobusiness bewusst zu machen. Das Herz der ländlichen Bildungseinrichtungen sind die Familien der jungen Menschen, die diese Schulen besuchen. Die Familien garantieren finanzielle, emotionale und christliche Unterstützung während der Berufsausbildung ihrer Kinder. Diese wiederum bemühen sich, das Gelernte auf dem elterlichen Hof und damit in der Dorfgemeinschaft umzusetzen. Das gilt zunächst für nachhaltige Landwirtschaftstechniken, aber auch für solidarisches Gemeinschaftsleben bis hin zu allen soziologischen und kulturellen Aspekten der jeweiligen Region. Eine Gemeinschaft Das Zusammenleben der Lernenden in den Landwirtschaftsschulen ist familiär und läuft im Rhythmus einer Wechselpädagogik (Alternanz) mit zwei Wochen im Schulinternat und zwei Wochen auf dem elterlichen Hof. Der Schultag beginnt mit organisatorischen Tätigkeiten: Kaffee kochen, Reinigungs- und Bewässerungsarbeiten, Tiere füttern. In einem Moment der Spiritualität (Mystik) wird ein Bibeltext reflektiert. Die Botschaft daraus soll den ganzen Tag durchdringen. Danach geht’s in die Klassenräume, wo Fächer wie Portugiesisch, Mathematik, Geschichte, Geographie – möglichst dialogisch – unterrichtet werden. Darüber hinaus gibt es landwirtschaftsspezifischen Unterricht: Bodenmanagement, Pflanzen- und Kleintierlehre, nachhaltige Schädlingsbekämpfung, effektiver Umweltschutz. Nach dem theoretischen Unterricht gibt es Mittagessen. Aufräumen und Spülen werden von allen mitgetragen. Am Nachmittag folgt praktischer Unterricht im Garten und auf dem Feld. Hier werden Fähigkeiten entwickelt, eine begrenzte landwirtschaftliche Fläche mit einfachen Mitteln und trotzdem ertragreich zu bearbeiten sowie Kleintiere zu züchten und verantwortungsvoll zu begleiten. Abends gibt es dann noch besondere Lerneinheiten oder kulturellen Austausch. Schließlich geht’s in die Hängematte, um Kraft für den neuen Tag zu tanken. In der familiären Schulgemeinde werden die Lehrkräfte auch Monitoren genannt. Sie fungieren nicht selten als Die Bewegung der EFAs (Escolas Família Agrícola) begann 1968 im brasilianischen Bundesstaat Espírito Santo. Der italienische Missionar und Jesuitenpater Humberto Pietrogrande träumte damals von Bildungseinrichtungen speziell für die Kinder von Landarbeiterfamilien. Die herrschende Militärdiktatur hatte keinen Blick für das herausfordernde Leben auf dem Land. Kleinbauern erfuhren praktisch keine Unterstützung, ganze Dorfgemeinschaften und kirchliche Basisgemeinden wurden von militarisierten Großgrundbesitzern verfolgt, bedroht und vertrieben. Hoffnung für Kleinbauern Familienlandwirtschaftsschulen in Brasilien TEXT: Vanderval Spadetti | FOTOS: FM-Archiv Ersatzeltern, weil sie wegen des Internats ganztägig anwesend sein müssen. Sie verantworten das Zusammenleben im Schulalltag, mit seinen Freuden, Schwierigkeiten und der Hoffnung auf bessere Tage. Es ist wichtig, in diesem Zusammenhang auch die durch die jüngste Corona-Pandemie verursachten Probleme zu erwähnen, die viele junge Menschen und ihre Familien geschwächt haben: Lerndefizite, Isolation, psychische Probleme und unzählige andere Herausforderungen in den Familien. Nur mit Hilfe aller an dieser Berufsausbildung beteiligten Familien und Dorfgemeinschaften konnten viele Herausforderungen gemeistert und Hürden genommen werden. Dieser familiäre Charakter und die gelebte Solidarität ermutigen jeden Tag aufs Neue, an die Zukunft von Familienlandwirtschaftsschulen zu glauben und sie zu fördern. Vanderval Spadetti, Leiter der Familienlandwirtschaftsschule Manoel Monteiro, beim Besuch eines Schülers und dessen Familie 20

Praktischer Unterricht in der Familienlandwirtschaftsschule Manoel Monteiro Folgendes Interview mit dem Jugendlichen Idevan Kelve Costa Amorim, von der weiterführenden ManoelMonteiro-Schule im Landkreis Lago do Junco, beeindruckt und motiviert, jeden Tag für eine menschenwürdige Zukunft für junge Menschen auf dem Land einzustehen. Was hat Dich bewogen, in eine Familienlandwirtschaftsschule zu gehen? Zunächst ist es die menschliche Art und Weise, wie wir Lernenden behandelt werden. Dann auch das Engagement unserer Lehrkräfte für eine qualitativ hochwertige Bildung. Nie fielen an dieser Schule der Unterricht oder die Aktivitäten aus. Dagegen fand an der öffentlichen Schule, wo ich vorher war, immer wieder kein Unterricht statt und wir fühlten uns oft als Individuen nicht beachtet. Hat sich bei Dir zuhause schon etwas verändert, seitdem Du in die EFA gehst? Ja, ich sehe die Bemühungen meiner Eltern, alle meine Aktivitäten zu begleiten, und sie haben den festen Wunsch, ihr Bestes für mich und meine Geschwister zu geben. Auch ich habe jetzt viel mehr Interesse, um bei Arbeiten daheim zu helfen, und warte nicht darauf, dass alles irgendwie vom Himmel fällt. Das in unserer Schule Gelernte ermöglicht mir, mit größerer Leichtigkeit und produktiven Techniken meinem Vater und meiner Mutter zu helfen. Wie wäre wohl jetzt Dein Leben, wenn Du nicht in die EFA gingest? Hmmm, ich weiß es nicht. Höchstwahrscheinlich wäre ich in der Stadt, ginge auf eine normale Schule, die für mich nicht geeignet ist. Sicher hätte ich viele Schwierigkeiten im Zusammenleben mit anderen. Und sicher auch finanzielle Not, weil ich keine Verwandten in der Stadt habe, die mich unterstützen könnten. Vielleicht würde ich auch gar nicht mehr zur Schule gehen, weil meine Familie nicht die Mittel hat, mich in der Stadt auf eine Schule gehen zu lassen. Aber ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich danke Gott jeden Tag dafür, dass ich hier in der EFA lernen darf. Was planst Du für Deine Zukunft? Ich denke darüber nach, mein Studium im Bereich Agronomie fortzusetzen, um den kleinen Hof meiner Eltern mit geeigneteren Techniken weiterzuführen. So werde ich hoffentlich mehr Gewinn für uns alle erzielen. Schließlich möchte ich ein Stück Land kaufen, um meinen eigenen Hof aufbauen und meine eigene Familie ernähren zu können. Vielleicht könnte ich nach meinem Studium sogar Monitor an dieser Familienlandwirtschaftsschule sein. Unsere Zukunft Eine wirkliche Familienschule bedeutet, menschlich mit jungen Menschen und ihren Familien umzugehen. Jeder Tag bei den EFAs ist ein neuer Tag voller Herausforderungen und Schwierigkeiten, aber auch mit viel Liebe und geschwisterlichem Engagement. Alle Lernenden sind ein Gewinn für die Schulfamilie. Sie verdienen Respekt und Hingabe, denn sie sind unsere Zukunft! Seit 1968 begleiten die EFAs in Brasilien junge Menschen, die sich daran beteiligen, dieses wichtige Projekt, das das Leben der Kleinbauern in den ländlichen Gebieten verbessert, lebendig zu halten. Familienlandwirtschaftsschulen gibt es mittlerweile in fast allen brasilianischen Bundesstaaten. Sie bieten eine adäquate Pädagogik für kleinbäuerliche Familienbetriebe. Diese brauchen EFAs, um sich erfolgreich zu entwickeln, ohne den Einsatz von Agrochemikalien und mit Respekt vor der Natur, wie der heilige Franziskus von Assisi schon vor 800 Jahren gelehrt hat. Mutter Erde ist ein Geschenk Gottes, das es zu schützen gilt und das für alle Menschen ein schützendes Haus sei möchte. Der Autor Vanderval Spadetti hat seine Ausbildung als Agraringenieur in dem brasilianischen Bundesstaat Espírito Santo absolviert und ist seit vielen Jahren Leiter der Familienlandwirtschaftsschule Manoel Monteiro in Lago do Junco, Nordostbrasilien. Übersetzung aus dem Portugiesischen: Augustinus Diekmann ofm Das Lehrerkollegium und die Schulleiter bereiten den Unterrichtsplan für das kommende Schuljahr vor. 21

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