Franziskaner Mission 4 | 2022

Um in der Schule arbeiten zu können, bringt Leopoldina Alves das Neves ihre Tochter Thaynara per Maultier zu den Großeltern. Mutter Leopoldina mit Tochter Thaynara Als Tochter von Landarbeitern bin ich auf dem Land aufgewachsen: kaum Möglichkeit zur Schulbildung, weit entfernt von der Stadt und die sozialen Kontakte sehr beschränkt. Das Schicksal war somit schon vorhergesagt: heiraten, Kinder kriegen und abhängig von einem Mann sein. Wird diese Wirklichkeit auch meine sein? Ich kannte viele Landarbeiterinnen, die so lebten. Einige davon waren verheiratet und hatten Kinder. Die meisten von ihnen waren von ihren Lebenspartnern abhängig und wahrten nur den Schein einer intakten Familie. Dieses Schicksal wollte ich für mich nicht. Ich wollte immer ein unabhängiges Leben führen und frei sein. Um das verwirklichen zu können, arbeitete ich immer auf dem Land bei meinen Eltern und Geschwistern. Hier verdiente ich Geld für meine Ausbildung. Nachdem ich die Abendschule beendet hatte, studierte ich weiterhin abends, um Lehrerin zu werden. Das war mein größter Traum: anderen Menschen Schulbildung zu ermöglichen, damit sie auch eines Tages ihr eigenes Leben selbst in die Hand nehmen könnten. Heute habe ich es geschafft, denn meine Abendschule konnte ich erfolgreich beenden und ich bin Lehrerin! Mein Leben veränderte sich aber während der Ausbildung von heute auf morgen nach meiner ungeplanten Schwangerschaft – und das in einer nicht funktionierenden Beziehung. Heute ist meine Tochter Thaynara zwei Jahre alt. Sie ist ein Geschenk Gottes. Sie ist mein Ein und Alles. Alleinerziehende Mutter zu sein, ist weder ein Familienstand noch ein Wunschkonzert. Ein Kind großzuziehen ist eine ernstzunehmende Verantwortung. Dieses neue Leben ist einerseits zu hundert Prozent von mir, meinen Entscheidungen und Handlungen abhängig. Andererseits gibt es mir so viel Kraft und Mut, die Herausforderungen des täglichen Lebens mit Stolz zu meistern. Es gab aber auch viele Steine auf diesem Weg, den ich dank meiner Familie nicht allein gehen musste. Der Weg einer alleinerziehenden Mutter ist voller Hindernisse verschiedenster Art. In vielen Momenten war ich Kritik und Meinungen ausgesetzt, die mich nicht nach vorne brachten. Als ledige Frau heute sehe ich kaum einen Unterschied im Vergleich zu früheren Zeiten. Ein großer Anteil der Gesellschaft toleriert uns Frauen mit einem Kind ohne einen Mann an unserer Seite nicht. Sogar Frauen untereinander haben eine abweisende Haltung gegenüber alleinerziehenden Müttern. Zum Glück überwiegen die ermutigenden Erfahrungen von Familienangehörigen, meinem Freundeskreis sowie Arbeitskolleginnen und -kollegen, die mir helfen, mit erhobenem Haupt – und meiner Tochter auf dem Arm – durch die Welt zu gehen. Durch meine Thaynara sehe ich die Welt mit wachsamen und glücklicheren Augen. Unabhängig von der Wirklichkeit, Familienverantwortung und alltäglichen Dingen, die zum Muttersein gehören, bin ich dankbar für meine Entscheidung: meine Tochter zu erziehen, zu schützen und bis zu meinem letzten Atemzug zu lieben. TEXT: Leopoldina Alves das Neves | FOTOS: Fernandes Henrique M. de Brarros ofm Die Autorin Leopoldina Alves des Neves ist Grundschulehrerin in der Franziskanerpfarrei von Lago da Pedra, Nordostbrasilien. Übersetzung aus dem Portugiesischen: Márcia Santos Sant’Ana 15

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