Franziskaner Mission 1 | 2023

Wer die Geschichte Brasiliens kennt, weiß, dass manche Bundesstaaten auf ganz besondere Weise von ihrer beeindruckenden Geschichte geprägt sind. Herausragend ist dabei die Schönheit der historischen Kirchen, die mit ihrer kolonialen Architektur von vielen bewundert werden. Über diesen architektonischen Aspekt hinaus findet sich in Steinen, Säulen, Fenstern, Malereien und Figuren oft auch eine große theologisch-spirituelle Bedeutung. Solche Kirchen, die die Menschen verzaubern, findet man überall im Land. Hier stellen wir die Wallfahrtskirche São José de Ribamar (Heiliger Josef über dem Meer) im brasilianischen Bundesstaat Maranhão vor. Um die Geschichte der Kirche besser zu verstehen, ist es notwendig, den Standort dieses Gotteshauses zu kennen. São José de Ribamar ist eine Gemeinde und auch ein Wallfahrtsort auf einer Insel namens Ilha de Upaon-Açu. Auf dieser Insel befindet sich auch die Hauptstadt von Maranhão, nämlich die Millionenstadt São Luís. Schon von außen betrachtet ist die Pfarr- und Wallfahrtskirche ein architektonisches Juwel, das Wallfahrende und Touristen verzaubert. Im Innenraum der Kirche fallen die schmalen Buntglasfenster ins Auge, die hoch zur Decke ragen. Normalerweise erwartet man in solchen Fenstern Heiligenbilder oder biblische Darstellungen, die früher als katechetisches Anschauungsmaterial gedient haben. Aber was den Betrachtenden hier sofort auffällt: die Kirchenfenster von São José de Ribamar folgen diesem Muster nicht. Sie zeigen die Geschichte der Einheimischen in auf Glas gemalten Bildern. Um diese historische Bilderfolge zu verstehen, ist es unumgänglich, in die Geschichte des Ortes und seiner Menschen zurückzugehen. Wie es zu dem Bau des Gotteshauses von São José de Ribamar kam, erzählen die Kirchenfenster Schritt für Schritt. Es geht zunächst um einen Mann portugiesischer Herkunft, der eines Tages mit seinem kleinen Boot gegen einen starken Sturm auf dem Meer zu kämpfen hatte. In der Hoffnung auf Hilfe und Rettung flehte er den heiligen Josef um dessen Fürsprache an und wurde auf wunderbare Weise erhört. Aus Dankbarkeit errichtete der Gerettete eine Kirche, die er dem Heiligen Josef widmete. Um die Ursprünge des Gotteshauses ranken sich noch weitere Legenden. So soll die Kirche von Fischern, mit Blick auf das Meer, gebaut worden sein. Außerdem sollen sie eine große Figur des Heiligen Josefs direkt am Strand aufgestellt haben. Eines Tages kamen einige indigene Bewohner des Dorfes Anindiba (heute Passo do Luminar, einer der vier Landkreise auf der Insel) und brachten die große Josefsfigur in ihr Dorf. Aber auf wundersame Weise kehrte der Heilige zu seinem alten Platz am Meer zurück. Dieses Hin und Her soll sich mehrere Male wiederholt haben. Schließlich sahen die Dorfbewohner ein, dass der heilige Josef bei seiner Kirche bleiben wollte. Die Geschichte der Kirche von São José de Ribamar endet aber nicht mit diesen Legenden. Es gibt noch eine andere Version. Das Gotteshaus soll um das Jahr 1757 erst an einer Straße weiter im Landesinneren errichtet worden sein. Nachdem das Gebäude eingestürzt war, baute man es am gleichen Ort wieder auf. Nach einer zweiten Zerstörung wurde die Kirche schließlich am heutigen Standort, mit Blick auf den Ozean, errichtet. Danach ist das Gebäude nicht mehr eingestürzt. Viele Menschen, die heute Maranhão besuchen, möchten auch São José de Ribamar kennenlernen. Deshalb hat sich dieser ruhige und beschauliche kleine Ort im Laufe der Zeit in eine viel besuchte Touristenstadt verwandelt. Die politisch Verantwortlichen haben TEXT: Fábio de Sousa Barbosa ofm | FOTOS: Augustinus Diekmann ofm Fenster erzählen Geschichte Wallfahrtskirche in Nordostbrasilien erkannt, dass die Pflege der Wallfahrtskirche und der großen Josefsfigur am Strand auch Wählerstimmen bringen kann. Durch eine wachsende Verehrung und einen zunehmenden Bekanntschaftsgrad ist der heilige Josef mittlerweile Schutzpatron des gesamten Bundesstaates Maranhão und spielt eine bedeutende Rolle für die regionale Volksfrömmigkeit. Es sind vor allem von Verarmung betroffene Gläubige, die zu seinem Heiligtum wallfahren. In vielfältigen Sorgen und Nöten erbitten sie die Fürsprache ihres Patrons, Gottes Hilfe und Segen. So wurde über die Jahrhunderte der christliche Glaube lebendig gehalten. In Kirchen braucht man also nicht viele Details, sondern etwas, das die Menschen in ihren Herzen wirklich anspricht. So wie die Buntglasfenster in der Wallfahrtskirche von São José de Ribamar, die die Geschichte der Menschen erzählen und sie so in ihrem Glauben stärken. Und es sind viele Gläubige, die das Gotteshaus im Laufe der Jahre willkommen geheißen hat – sei es zum persönlichen Beten oder zu feierlichen Gottesdiensten. Viele Besucher lassen sich von der Einmaligkeit der ansprechenden Kirchenfenster verzaubern. Der Autor Fábio de Sousa Barbosa gehört zur Franziskanerprovinz von Bacabal, Nordostbrasilien. Anfang Januar 2023 hat er sich mit seiner Feierlichen Profess endgültig an den Orden gebunden. Jetzt lebt er im Franziskanerkloster Dortmund, um für ein Jahr die deutsche Sprache zu lernen und die Heimat der Brasilienmissionare zu erkunden. Übersetzung aus dem Portugiesischen: Augustinus Diekmann ofm 14 | 15

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