Franziskaner Mission 1 | 2023

Normalerweise werden klassische Schulfächer wie Mathematik, Portugiesisch, Geographie, Musik und andere in weiterführenden Schulen von speziellen Fachlehrerinnen und -lehrern unterrichtet. Tiefere Werte, die dem menschlichen Leben eine Richtung geben – wie zum Beispiel ein freundlicher Umgang miteinander, sich entschuldigen, verzeihen, nicht unhöflich sein, solidarisch handeln – werden normalerweise zunächst im Elternhaus vermittelt. Mit dem Erwachsenwerden erkennen viele Menschen selbst, dass es notwendig ist, die genannten Werte zu festigen, gerade wenn sie im Familienalltag oder in der Schule vernachlässigt wurden. Hier sind unter anderem die Kirchen mit ihren vielfältigen pastoralen und sozialen Angeboten gefragt. Viele arme Basisgemeinden in Nordostbrasilien gebrauchen ihre einfachen Kirchen als sogenannte Schulkapellen. Um den vorhandenen Raum maximal zu nutzen, feiert die Gemeinde hier ihre Gottesdienste. Und es findet während der Woche manchmal ganz normaler Schulunterricht statt. Doch hinter der Idee einer Schulkapelle steht vor allem die räumliche Kombination von Zelebration und Katechese. In den Gebetsräumen findet also auch eine unterrichtsähnliche regelmäßige Glaubensvermittlung statt. Durch Bibellesen und eine intensive Vorbereitung auf die Sakramente werden in der Kirche, durch geschulte katechetische Kräfte, wichtige Werte für das christliche Leben vermittelt. Dazu kommen sogenannte Volksmissionen, Novenen, Gemeinschaftsexerzitien und andere Formen der Glaubensvertiefung. Ich selbst bin im brasilianischen Nordosten aufgewachsen und erinnere mich an zahlreiche Momente in unserer Schulkapelle, die mein Leben nachhaltig geprägt haben, darunter auch die Katechese. Allerdings dürfen wir hier Katechese nicht mit Religionsunterricht verwechseln. Über eine systematische Religionslehre hinaus werden in der Katechese christliche Werte als wesentliche Säulen unserer Kirche vermittelt und auch eingeübt. In meiner Basisgemeinde habe ich gelernt, ein besserer Mensch zu sein. Natürlich hat dabei meine Familie auch eine wichtige Rolle gespielt. Aber später im Gemeindeleben habe ich das Wesentliche des christlichen Lebens noch viel tiefer erfahren dürfen. Für mich wurde unsere Schulkapelle zu einer prägenden Lebensschule, die mich gelehrt hat, was in meinem Alltag richtig und falsch ist – basierend auf einer christlichen Ethik, die im normalen Schulunterricht so nicht vermittelt wird. In der Schule gibt es auch das Fach Religionslehre. Dabei geht es unter anderem um ein Kennenlernen der verschiedenen Weltreligionen mit ihren Traditionen, Organisationsformen und Quellen. Allerdings geht es nicht um Vertiefung oder sogar Einübung religiösen Lebens. Ich werde also durch den Religionsunterricht lediglich zu einem oberflächlichen Kenner von Religion. In den Schulkapellen ist das anders. Ich durfte viele Male in unserer Gemeinde Momente von Aus- und Weiterbildung erleben, die die Schule nicht anbietet. Ein gutes Beispiel ist das gemeinsame Lesen und Diskutieren der Einführungstexte in die themenzentrierten Fastenaktionen, die jedes Jahr vor Ostern in christlichen Kirchen Brasiliens stattfinden. Normalerweise wird für eine solche Geschwisterlichkeitskampagne (»Campanha da Fraternidade«) ein aktuelles soziales Thema ausgewählt, das der Kirche am Herzen liegt und das sie in allen Gemeinden mit den Gläubigen vertiefen möchte. Ich erinnere mich gut an eine Fastenaktion, bei der es um Menschenhandel ging. Ein solches Thema kam in unserer Schulausbildung gar nicht vor. TEXT: Fábio de Sousa Barbosa ofm | FOTOS: FM-Archiv Lebensschulen Gemeindekapellen in Nordostbrasilien Eine Kirche, die für sich selbst Verantwortung übernimmt, ist ein wahrer Lernraum, eine echte Lebensschule. Darauf bezieht sich für mich auch der Begriff Schulkapelle. Es geht nicht darum, eine theoretische Ausbildung anbieten zu wollen, wie sie die Schule gibt. Es geht vielmehr um eine Lebensprägung, die uns von innen heraus zu besseren Menschen macht. Damit will ich die Rolle der Schule nicht kleinreden. Ich meine allerdings, dass es Themen gibt, die die Schule nicht intensiver bearbeitet, die Kirchengemeinde aber schon. Meine Ausführungen beruhen auf persönlichen Erfahrungen in meiner Jugend. Über den manchmal ziemlich oberflächlichen Religionsunterricht hinaus durfte ich in unserer Kirchengemeinde Erfahrungen sammeln, die mein christliches und franziskanisches Leben bis heute prägen und ihm eine klare Richtung geben. Dafür bin ich sehr dankbar. Der Autor Fábio de Sousa Barbosa gehört zur Franziskanerprovinz von Bacabal, Nordostbrasilien. Anfang Januar 2023 hat er sich mit seiner Feierlichen Profess endgültig an den Orden gebunden. Jetzt lebt er im Franziskanerkloster Dortmund, um für ein Jahr die deutsche Sprache zu lernen und die Heimat der Brasilienmissionare zu erkunden. Übersetzung aus dem Portugiesischen: Augustinus Diekmann ofm Schulkapelle am Stadtrand von Bacabal – Stadtteil Villa Frei Solano, wo der Autor Fábio de Sousa Barbosa aufgewachsen ist (oben). Gemeindekapelle in Bacabal, Stadtteil Vila Frei Solano (unten) 26 | 27

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