2023 Der Liebe folgen 800 Jahre Franziskusregel
FRANZISKANER MISSION erscheint viermal im Jahr und kann als kostenfreies Abo bestellt werden unter Telefon 02 31-17 63 37 65 oder info@franziskanermission.de. »Franziskaner Mission« erscheint im Auftrag der Deutschen Franziskanerprovinz von der heiligen Elisabeth – Germania. HERAUSGEBER Franziskaner Mission REDAKTIONSLEITUNG Augustinus Diekmann ofm REDAKTION Dr. Cornelius Bohl ofm, Stefan Federbusch ofm, Natanael Ganter ofm, Joaquin Garay ofm, Heinrich Gockel ofm, Márcia S. Sant'Ana, Eurico Alves da Silva ofm, Fábio de Sousa Barbosa ofm, René Walke ofm, Pia Wohlgemuth GESTALTUNG sec GmbH, Osnabrück DRUCK Bonifatius GmbH, Paderborn Herstellungskosten dieser Zeitschrift: Die »Franziskaner Mission« wird nicht von Spendengeldern, sondern aus den Erlösen eines speziell hierfür eingerichteten Missionsfonds finanziert. Impressum FRANZISKANER MISSION Franziskanerstraße 1, 44143 Dortmund Telefon: 02 31-17 63 37 5 info@franziskanermission.de www.franziskanermission.de Spenden erbitten wir, unter Angabe des Verwendungszwecks, auf folgende Konten: SPARKASSE HELLWEG-LIPPE IBAN DE13 4145 0075 0026 0000 34 BIC WELADED1SOS VOLKSBANK HELLWEG EG IBAN DE44 4146 0116 0000 0051 00 BIC GENODEM1SOE 2
Liebe Leserin, lieber Leser! TITEL Oft weinte der heilige Franziskus von Assisi, weil die Liebe – die Christus ist – nicht geliebt wurde. Vor 800 Jahren wählte er ganz bewusst das Evangelium als Fundament seiner Ordensregel. Er und seine Brüder wollten Jesus, der menschgewordenen Liebe Gottes, möglichst treu folgen. So auch der Franziskaner auf unserer Titelseite, Carlos Magno de Souza Santos aus São Luís, Nordostbrasilien (siehe Seite 10). Mit seiner endgültigen Entscheidung für das franziskanische Charisma begibt sich Frei Magno, nach dem Bei- spiel von Franziskus, voll Freude in die Nachfolge der Liebe, die Christus ist. Verkehrsregeln sind keine Einladungen zu einer Diskussion. Wenn die Ampel Rot zeigt, hat es keinen Zweck, darüber zu streiten, ob diese Farbe nicht vielleicht auch Grün bedeuten könnte. Rot ist Rot. Und wenn die Ampel Rot zeigt, muss ich stehen bleiben. Regeln brauchen Verbindlichkeit. Regeln brauchen aber auch noch etwas anderes: Sie brauchen Akzeptanz. Ich weiß von einer Bürgerinitiative, die lange Zeit für eine Ampel an einer verkehrsreichen Straße bei einer Grundschule gekämpft hat, nachdem es dort immer wieder zu Unfällen gekommen war. An anderen Stellen werden Ampelanlagen wieder abgebaut und durch einen Kreisverkehr ersetzt, weil damit der Verkehrsfluss besser gewährleistet ist. Wo eine Ampel sinnvoll oder notwendig ist und wie überhaupt der Verkehr am besten geregelt werden kann, darüber kann und muss man also durchaus diskutieren. Verbindlichkeit und Akzeptanz. 1223 bestätigte Papst Honorius III. die Regel der Minderbrüder. Das war vor genau 800 Jahren. Diese Regel gilt bis heute. Bis aber die Bruderschaft dem Papst einen von der breiten Mehrheit akzeptierten Regeltext vorlegen konnte, brauchte es einen weit über zehn Jahre dauernden Diskussionsprozess. Schon 1209 hatten Franziskus und die ersten Brüder in Rom eine Lebensform vorgelegt, die nur aus einigen wenigen Sätzen des Evangeliums bestand. Diese Ur-Regel erwies sich schon bald als ungenügend. Neue Herausforderungen verlangten neue Regelungen. Bei ihren jährlichen Versammlungen diskutierten die Brüder ihre Lebensform. In einem mühsamen partizipativen Leitbild-Prozess wurden die bisherigen Überlegungen ergänzt und korrigiert, der Text wucherte und wurde wieder gekürzt. Leben und Regel wuchsen gemeinsam. Es war ein dynamisches und oft auch kontroverses Ringen um eine gemeinsame verbindliche Grundlage. Und diese Auseinandersetzungen gehen auch nach der endgültigen päpstlichen Bestätigung weiter. Der verbindliche Text fragt in jeder Generation neu: Und was bedeutet dieses oder jenes gerade jetzt? Wie können wir das heute leben? Dem Spannungspaar Verbindlichkeit und Akzeptanz entspricht ein anderes: Treue und Wandlung. Beides ist wichtig. Geht es zusammen? Wie kann ich einer Regel, dem Evangelium, einem Menschen oder auch mir selbst treu bleiben in den ständigen Veränderungen, die ich bei mir und um mich herum erlebe? »Alles Menschliche will Dauer, Gott will Verwandlung.« (Ricarda Huch) Die Treue zum Evangelium will mich nicht versklaven, sondern zu einem neuen Menschen wandeln. Deutschland ächzt unter einer überbordenden Bürokratie und Regelungswut. Dennoch sind Regeln oft besser als ihr Ruf. Das 800-jährige Jubiläum der Franziskus-Regel lädt ein zum Nachdenken über die Funktion von Idealen und Leitbildern, über heilsame und unsinnige Regelungen, die Bedingungen von Freiheit und Wachstum, das spannungsreiche Ineinander von Individuum und Gemeinschaft. Der Regeltext ist alt. Die damit verbundenen Fragen sind es nicht. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre. Herzliche Grüße P. Cornelius Bohl ofm Sekretär für Mission und Evangelisierung 3
Inhalt 6 Wie ein Krug für den Wein: Die Franziskusregel Niklaus Kuster OFMcap 10 Finde deinen Weg … Zwischen Regeln und Freiheit Ricarda Moufang und Helmut Schlegel ofm 12 Simplify your life? Die Suche nach dem »wichtigsten Gebot« Cornelius Bohl ofm 14 Der innere Ruf Die franziskanische Regel als Leitfaden fürs Leben Marcelo Igor de Sousa 16 Frohe Botschaft Jesu Evangelium und Menschenrechte heute Markus Heinze ofm 18 Mittelseite 20 Regeln, Autorität und Liebe Alltag im bolivianischen Kinderhort »Santa Clara« Vilma Cotrim Costa OSF 22 Leben am Rand der Gesellschaft Gefangenenseelsorge in Montero, Bolivien Ronald Ramiro Armijo Zelada ofm conv 24 Leben als Ordensmann Eine weitreichende Entscheidung Valdemir Nelo Rufino ofm 26 Zur Freiheit berufen Ein brasilianischer Franziskaner erzählt Jaredi Carvalho da Cruz ofm 28 Treue und Hingabe Lebendiger franziskanischer Geist in Ruanda Innocent Harerimana ofm 30 Frieden und Versöhnung in Afrika Erinnern hilft beim Heilen alter Wunden Edward Lennon ofm 32 »Morgens um fünf ist die Welt noch in Ordnung« Impressionen einer Projektreise in Vietnam Markus Fuhrmann ofm 34 Kurznachrichten 35 Projekt 12 6 14 16
IVICA PERIĆ OFM Missionar Ivica Perić ofm besuchte im Juli die Franziskaner Mission in Dortmund. Der gebürtige Kroate war über 20 Jahre lang Leiter der Pater-Vjeko-Berufsschule in Kivumu, Ruanda. Seit letztem Jahr ist der begeisterte Missionar in Sambia und kümmert sich dort um vielseitige Aufgaben. Bei seinem Besuch bei uns in Dortmund erzählte er von den Nöten der armen Landbevölkerung in der sambischen Region Mwakapandula und mit welchem Engagement die Franziskaner den Menschen dort zur Seite stehen: Mit pastoraler Arbeit, Seelsorgeangeboten und Zugang zur Schulbildung helfen sie Kindern, Frauen und Männern ganz konkret. Personalia MARTHA BALCÁZAR MELGAR OSF UND CRISTINA URAEZA IRAIPI OSF Provinzoberin Martha Balcázar Melgar OSF und Provinzvikarin Cristina Uraeza Iraipi OSF, Tertiarschwestern des Heili- gen Franziskus in Bolivien, waren zu Besuch im Mutterhaus in Hall/Tirol in Österreich. Unsere Mitarbeiterin Pia Wohlgemuth nutzte den Besuch zum intensiven persönlichen Austausch über die aktuelle Situation in Bolivien und den Stand der vielen gemeinsamen Projekte. Die Schwestern berichteten zum Beispiel, dass die Fördereinrichtung für behinderte Kinder in Ascención nun an die franziskanische Regelschule angeschlossen wurde. Für ein neu gebautes Klassenzimmer braucht man noch Pulte und Stühle und auch sonst fehlt es an allen Ecken und Enden. JAIME SPENGLER OFM Der Franziskaner und Erzbischof der südbrasilianischen Diözese von Porto Alegre (Bundesstaat Rio Grande do Sul), Dom Jaime Spengler, wurde am 24. April 2023 zum Präsidenten der Brasilianischen Bischofskonferenz (CNBB) gewählt. Er trat im Januar 1982 in den Orden der Minderbrüder ein und wurde im November 1990 zum Priester geweiht. Nach der Promotion im Fach Philosophie, an der franziskanischen Universität Antonianum in Rom, war er in verschiedenen Bereichen seiner Ordensprovinz tätig. Als Erzbischof gehörte Dom Jaime zur Sonderkommission für das Abkommen zwischen Brasilien und dem Vatikan und war Beauftragter der CNBB für das geweihte Leben. Außerdem wurde er am 17. Mai 2023 zum Präsidenten der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz (CELAM) gewählt. 30 20 24 32
Wie ein Krug für den Wein: Die Franziskusregel 6
»Leben nach dem Evangelium« und die lebenspraktische Predigt urbi et orbi (für Stadt und Erdkreis) erlaubt hatte, diskutierten in Assisi mehr als Tausend Brüder über eine eigene Regelfassung. Jahr für Jahr hatten sich hier Brüder aus ganz Italien und ab 1218 auch aus anderen Ländern Europas und aus dem Orient an Pfingsten versammelt, um die Erfahrungen ihres apostelgleichen Wanderlebens auszuwerten und sich neue Ziele zu setzen. Diese Pfingstversammlungen fassten Vereinbarungen in eine Charta, die wegweisende Worte des Evangeliums aufgrund der gemeinsamen Erfahrungen konkretisierte. Der Regeltext, während eines Jahrzehnts gewachsen, betont im ersten Vers, was Richtschnur bleibt: »Leben und Regel der Brüder bestehen darin, [...] der Lehre und den Fußspuren unseres Herrn Jesus Christus zu folgen« (FQ 70). Es folgt eine Reihe von Schlüsselversen aus dem Evangelium, die vermutlich die kurz gefasste »Urregel« oder das propositum vitae bildeten, das Franz im Mai 1209 Papst Innozenz III. vorgelegt hatte. Freiheit und Verbindendes Die deutschen Franziskaner haben sich diesen Frühling 2023 in einem Mattenkapitel mit der Franziskusregel befasst. Sie fanden es »spannend und inspirierend«, die »Regel als Raum der Freiheit« zu entdecken, »der das Verbindende und das Verbindliche beschreibt«. Die Regel von 1221 ist reichhaltiger als die gestraffte Version von 1223. In der Frühfassung, in der viele Evangelienzitate laufend an die »wahre Regel« erinnern, wird die Jüngersendung Jesu mit eigenen Erfahrungen konkretisiert. Rät Jesus dem reichen Mann, sein Geld den Armen zu geben und ihm mit leeren Händen zu folgen, macht die Regel eben dies zur Grundbedingung für jene, die »von Gottes Geist geleitet dieses Leben annehmen wollen und zu unseren Brüdern kommen«. Spricht Jesus vom Verzicht auf ein zweites Kleid, auf Gepäck, Geld und Schuhe, folgen hier weitere Bestimmungen über »die Aufnahme und die Kleidung der Brüder« (FQ 70-71). Lehrt Jesus seine Jünger, das Vaterunser zu beten, so legt der dritte Abschnitt die Zeiten fest, in denen Dass sich die Bruderschaft Regeln geben musste, folgt einer sozialen Notwendigkeit: Wo immer Menschen zusammenleben oder -wirken, braucht es verbindliche Abmachungen. Das gilt für Partnerschaften und Familien, Arbeits- und Reisegruppen, Schulen und Vereine ebenso wie für größere Institutionen, die Gesellschaft und die Kirchen. Und es gilt individuell: Auch das kreativste Leben braucht eine Ordnung. Allein das Evangelium Nachdem sich erste Gefährten Franz angeschlossen und ihr Kreis im Frühling 1209 auf zwölf angewachsen war, wanderte die junge fraternitas nach Rom, um ihre Vision dem Papst vorzulegen. Der prophetische Aufbruch verband Männer aus allen Gesellschaftsschichten: Söhne reicher Bürger, Handwerker, Adelige und Bauern. Allesamt Laien, suchten sie die Sendung der Jünger Jesu in der eigenen Zeit zu leben: Frieden in die Häuser zu tragen, Kraftlose aufzurichten und Menschen am Rand solidarisch zu begegnen. Das Evangelium reichte den Gefährten als Richtschnur, und das im Alltag gebetete Vaterunser festigte ihr Bewusstsein, dass sie Brüder eines jeden Menschen waren. In Rom empfahl der zuständige Benediktinerkardinal Johannes von San Paolo der Brüderschar, die eremitische oder die monastische Lebensform anzunehmen. Für ein gemeinsames Einsiedlerleben hatten die Kamaldulenser Gebräuche, für das Mönchsleben Benedikt von Nursia eine detaillierte Regel verfasst. Franz ließ sich mit seinen Brüdern nicht in eine strikt geregelte Lebensweise drängen. Im Brief an Bruder Leo wiederholt er Jahre später: »Wie immer es dir besser erscheint, Christus zu gefallen und seinen Fußspuren zu folgen, so tut es«. Der Fantasie der Liebe folgend, dürfen sich Leo und seine Gefährten auf »den Segen Gottes und die brüderliche Wachheit« von Franz verlassen (FQ 36). Eine eigene Urregel Zwölf Jahre nach jener ersten Begegnung mit Papst Innozenz III., der den Brüdern das radikale TEXT: Niklaus Kuster OFMcap | ABBILDUNGEN: Giotto di Bondone; Guido di Graziano; picture alliance / AP Photo | Seth Wenig Was hält mich auf meinem Lebensweg in Form, auch innerlich? Was nährt mein Dasein und erfüllt mein Wirken? Was trägt dazu bei, dass ich zwischenmenschlich, sozial und ökologisch wach bleibe? Was bringt Menschen in ein gutes Zusammenspiel? Und wodurch wird meine Gottesbeziehung erfüllend? Die mittlere dieser Fragen stellen sich erst heutige Menschen. Die vier anderen hatte vor 800 Jahren auch das Team im Blick, das mit Franz von Assisi an der definitiven Fassung der Ordensregel arbeitete. linke Seite: Bestätigung der Regel durch Papst Honorius III. (Basilika San Francesco / Fresko von Giotto di Bondone, um 1295) 7
die Brüder im Alltag jeweils eine Anzahl Vaterunser mit oder ohne einen Psalm und dem Credo beten sollen (FQ 72-73). Weitere Kapitel haben das gute Zusammenspiel zwischen den Brüdern im Blick (FQ 73-75, 78-80), Arbeit und Lebensunterhalt (FQ 75-78) und die Art, »wie die Brüder durch die Welt ziehen sollen« (FQ 81-84). Der letzte Teil von Vereinbarungen betrifft spirituelle Quellen und ist wiederum reich an Bibelzitaten (FQ 85-93). Freiheit und Verbindliches Der französische Mittelalterforscher Jacques Dalarun hat scheinbar seltsame Regelpassagen näher erhellt. So heißt es im achten Kapitel der Regel von 1221, »alle Brüder sollen sich in Acht nehmen vor unlauteren Blicken und dem Umgang mit Frauen. Und keiner soll allein mit ihnen beraten oder des Weges ziehen oder bei Tisch mit ihnen aus einer Schüssel essen«. Die folgenden Zitate aus Evangelien und Paulusbriefen machen deutlich, dass es hier um Schwächen der Brüder und nicht um verführerische Frauen geht. Die Brüder werden ermahnt, »Frauen nicht begehrlich« anzuschauen. Das Essen aus demselben Teller oder derselben Schüssel spiegelt Realität und Risiken der brüderlichen Wanderexistenz. Noch ohne eigene Häuser und Klöster, kehrten die Brüder unterwegs in Herbergen und Hospitäler ein, wie es Pilgernde und arme Reisende tun. In überfüllten Herbergen konnte es bei Tisch und in den Lagerstätten eng werden. Die Regel ermahnt die Brüder, durch Erfahrungen klug geworden, Nähe und Distanz so zu wählen, dass sie in »ihrem Herzen nicht Ehebruch begehen«. Und keiner soll Frauen, die sich von ihnen beraten lassen, an sich binden (FQ 80). Ein Missionsstatut Das Kapitel über die Brüder als Boten des Friedens und des Evangeliums unter Un- oder Andersgläubigen spiegelt ebenso frisch wie die Passage über Herbergen ein »Lernen durch Versuch und Irrtum« oder eben aus gelungenen Erfahrungen: Nachdem erste missionarische Expeditionen von Brüdern in Tunesien und Marokko mit provokativem Auftritt gescheitert waren, lässt Franz seine positiven Erfahrungen in Ägypten in die frühe Regel einfließen: Nur »taugliche« Brüder sollen künftig in Länder anderer Religion aufbrechen dürfen, und die Ausgesandten sollen »weder zanken noch streiten«, sondern »jedem Menschen hilfreich begegnen«. Dienstbereitschaft schafft eine Vertrautheit mit anderen Kulturen und Religionen, die auch interreligiöse Begegnung ermöglichen, allerdings erst und nur, wenn die Brüder »sehen, dass es Gott gefällt« (FQ 81-82). Brüder in Form bringen Die Regel von 1221 war für Kardinal Ugo von Ostia zu wenig griffig, um sie päpstlich anerkennen zu lassen. Honorius III. approbierte die definitive Fassung, an der Juristen der päpstlichen Kurie mitarbeiteten, Ende November 1223 feierlich und machte die Franziskaner dadurch offiziell zu einem Orden der lateinischen Kirche. Ugo dei Conti di Segni wird sich später als Papst Gregor IX. in einer Hofbiografie feiern lassen: »Nach seiner Weihe zum Bischof von Ostia erwirkte er während dieser Amtszeit die päpstliche Bestätigung der neuen Orden der Geschwister von der Buße und der eingeschlossenen Frauen. [...] Auch den Orden der Minderbrüder, der anfänglich auf unsicherem Pfade umherschweifte, lenkte er gezielt mit der Satzung einer neuen Regel und brachte dessen formlose Gestalt in Form« (Vita Gregorii IX). Franziskus von Assisi und Schlüsselszenen aus seinem Leben (Guido di Graziano) 8
Der Autor Niklaus Kuster ist Mitglied der Schweizer Kapuzinerprovinz, promovierter Theologe und Franziskusforscher. Er lehrt Spiritualität und Kirchengeschichte an der Universität Luzern sowie an den Ordenshochschulen in Münster und Madrid. Ein Buch aus dem 14. Jahrhundert zeigt ein Treffen zwischen dem in der Mitte knienden Heiligen Franziskus und Papst Innozenz III. Keine »anderen Regeln« Im Ringen um die definitive Regel reagierte Franz an einem Kapitel vehement gegen das Ansinnen, Normen aus bewährten Ordensregeln einzubeziehen: »Weder die des heiligen Augustinus, noch die des heiligen Bernhard oder des heiligen Benedikt« sollen Anleihen liefern (FQ 1105-1106). Franz lehnt die klassischen Regeln für Mönche und für Chorherren sowie die Konstitutionen der Zisterzienser ab, weil sie das Leben von einzelnen und von Gemeinschaften derart detailliert ordnen, dass das Evangelium als wahre Lebensordnung überhört werden kann. Als seine Stellvertreter 1219 während seiner Orientmission an einem »Seniorenkapitel« in Assisi monastische Fasten- und Abstinenzregeln einführten, ließ Franz diese nach seiner Rückkehr rückgängig machen: Maßgeblich sind keine noch so bewährten monastischen Normen, sondern das Evangelium und Jesu Rat an seine Jünger: »Esst, was die Menschen euch anbieten« (Lk 10: FQ 91 und FQ 976-977). »Je nach Ort und Zeit« Martin Luther wird Franz dafür preisen, dass er »durch den Geist aufs höchste glühend voller Weisheit sagte, seine eigentliche Regel sei das Evangelium Jesu Christi« (WA 8, 579). Dieses wird in den Regelfassungen von 1221 und 1223 in ihre Zeit und in das brüderliche Wanderleben gedeutet. Dass dies »je nach Ort und Zeit und Klima« (FQ 97) anders erfolgen muss, zeugt vom Bewusstsein, dass die Konkretisierungen der definitiven Regel zeitbezogen sind. Wein reift in Fässern, lagert in Flaschen und wird aus passenden Gläsern getrunken, doch so unverzichtbar feste Gefäße sind, wesentlich und kostbar ist ihr flüssiger Inhalt. Inspiriert von Gedanken von Bert Hellinger lässt sich bildhaft schließen: Der Geist füllt, was die Form umfasst. Die Liebe ist der Wein und die Form der Krug. Das Leben fließt und die Form sammelt. 9
Braucht ein Leben in der »Freiheit der Kinder Gottes« Regeln? Braucht ein Leben nach dem Evangelium, wie es Franz von Assisi ins Auge gefasst hatte, eine Ordensregel? Wie verhielt sich Jesus zu Regeln und Gesetzen? Wo dienen Regeln dem Leben, wo behindern sie es? Ohne Regeln geht gar nichts, weder in Familien, Kindertagesstätten, Schule und Sport noch in Politik und Wirtschaft. Und auch nicht in den Kirchen und Religionsgemeinschaften. Demokratisch aufgestellte Regeln bewirken größtmögliche Freiheit und schützen sie. Freilich können Regeln auch zum Korsett werden. Die Bürokratie beherrscht viele Bereiche des Lebens, das Regeldickicht wird immer undurchdringlicher. Online-Banking, Steuererklärung, Hausordnung, Bezahlmodi – im Grunde ist alles von Regeln durchsetzt und manchmal möchte man einfach nur resignieren. Jeden Tag müssen wir mit zahllosen – geschriebenen und ungeschriebenen – Regeln zurechtkommen. Wandelbar und verhandelbar Wenn Regelwerke erstarren, dann müssen sie neu durchdacht werden. Jugendliche befreien sich – mehr oder weniger geräuschvoll – von den Regeln ihrer Herkunftsfamilie und (er)finden eigene Regeln für ihr Leben. Das gehört wesentlich zum Reifungsprozess eines Menschen. Regeln können auch unmenschlich sein. Die Weltgeschichte, aber auch unsere Gegenwart zeigt tausendfach, wie die Macht der Diktaturen und der Mechanismus von Unterdrückung durch Gesetze funktioniert. Normalerweise begründen solche Systeme selbst unmenschliche Regulierungen mit dem Argument der Sicherheit. Zum Glück (manchmal auch zum Unglück) ist der Freiheitsdrang der Spezies Mensch unendlich TEXT: Ricarda Moufang und Helmut Schlegel ofm | FOTO: Lukas Brägelmann ofm Finde deinen Weg … Zwischen Regeln und Freiheit 10
heiligen Franziskus bestätigt hat. Dies war am 27. November 1223. Für seine Gemeinschaft, die sich spontan um ihn und seine Idee, Jesus im Sinn des Evangeliums nachzufolgen, geschart hatte, schrieb er zunächst ein Papier, auf dem lediglich ein paar Sätze aus dem Evangelium standen. Dies sollte als Regel für seine Gemeinschaft genügen. Aber es genügte der Kirche von Rom nicht. So verfasste Franziskus dann schließlich doch eine Regel für seine Gemeinschaft. Schwerpunkte darin: Die Brüder sollen in allem auf Gottes Willen hören, den sie im Gebet erfahren, sie sollen anspruchslos leben, wie Geschwister zueinanderstehen und sich besonders der Menschen am Rand der Gesellschaft annehmen. Die Regel betont den Respekt, den die Brüder allen Menschen schulden, und gebietet ihnen zu dienen, statt zu herrschen. Impulse fürs Leben Nicht alle Menschen können so leben wie Franz von Assisi. Es können auch nicht alle Menschen wie Jesus leben. Trotzdem sind sie für uns Leitbilder. Zu Franziskus kamen etliche Menschen, die »normale« Berufe ausübten und in Ehe und Familie lebten. Sie baten ihn: Schreib uns doch auf, wie wir »in der Welt« nach dem Evangelium leben können. Franz schrieb keine Regel für sie, verfasste aber im Jahr 1221 den »Brief an die Gläubigen«. Franziskus gibt darin Impulse, die auch für uns heute bedeutsam sind und die wir konkret leben können. Plakativ ausgedrückt legt uns Franziskus durch sein Leben und seine Schriften ein vom Evangelium inspiriertes Verhalten zu den Dingen, zu den Geschöpfen, zu den Menschen und zu Gott ans Herz. • Zu den Dingen: wir dürfen sie gebrauchen, sollen uns aber gegen Gier und Haben-wollen entscheiden. • Zu den Geschöpfen: wir sind ihre Geschwister und schulden ihnen Achtung und Pflege. • Zu den Menschen: wir sollen uns jeder Form von Gewalt (auch der Gewalt des Denkens und der Zunge) enthalten. • Zu Gott: wir sind seine Kinder und sollen uns in allem fragen, was sein Wille ist. Diesen Regeln zu folgen, ist auch für Nicht-Ordensangehörige, die nach Franziskus leben möchten, möglich. groß. Das hat zu blutigen und unblutigen Revolutionen geführt. Die Russische Revolution im Februar 1917 befreite Russland von der Herrschaft der Zaren, führte sie aber letztlich in die Diktatur der Sowjets. Dagegen war der Salzmarsch, den Mahatma Gandhi 1930 in Indien anführte, eine gewaltlose Kampagne, die das Salzmonopol der Briten gebrochen und zur Unabhängigkeit Indiens geführt hat. Auch heute stellen Menschen weltweit politische und gesellschaftliche Regeln in Frage, und das ist auch gut so. Problematisch wird es, wenn einzelne und Gruppen, wie das in modernen Gesellschaften oft passiert, ihre Freiheit so definieren, dass sie sich loslösen von allen Satzungen. Diese Einstellung kann den Zusammenhalt und die gegenseitige Rücksicht in einer Gesellschaft massiv gefährden. Barmherzigkeit statt Gesetzestreue Jesus war Jude und fühlte sich dem Gesetz und den Regeln der jüdischen Religion verpflichtet. Jesus betont: Auch nicht ein i-Tüpfelchen (»jota«) vom Gesetz darf entfernt werden (vgl. Mt 5,18). Zugleich umgeht er nicht selten das Gesetz und bricht da und dort die vorgeschriebenen Regeln. Bereits im Alter von zwölf Jahren nimmt er sich die Freiheit heraus, ohne Erlaubnis seiner Eltern nach dem Fest in Jerusalem zu bleiben und mit den Schriftgelehrten im Tempel zu diskutieren (Luk 2, 41 ff.). Einmal erlaubt er seinen Jüngerinnen und Jüngern am Sabbat, Ähren zu essen, was laut Gesetz verboten ist (Mk 2, 27). Er spricht mit Frauen auf Augenhöhe – sogar mit nicht-jüdischen Frauen (Joh 4, 6 ff.). Auch das ist gegen die geltende Vorschrift. Genau besehen sind es nicht die Regeln an sich, die Jesus kritisiert, sondern die Motive, aus denen sie eingehalten werden. Für ihn gelten eindeutige Prioritäten: Gottesgebote stehen vor Menschengeboten. So sagt er zu seinen Eltern, als diese ihn kritisieren: »Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?« (Lk 2,49) Und der Mensch ist wichtiger als das Gesetz: »Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat.« (Mk 2,27) Seine Botschaft: Gottes Liebe ist größer als das Gesetz, Mitgefühl und Barmherzigkeit sind in Gottes Augen wichtiger als reine Gesetzestreue. Auf Gottes Willen hören Der Grund, warum die franziskanische Familie in diesem Jahr besonders über Regeln nachdenkt, liegt darin, dass sie 2023 die 800. Wiederkehr des Tages feiert, an dem der Papst die Regel des Die Autorin Ricarda Moufang ist Musikerin und Buchautorin. Sie leitet Workshops und Seminare zu verschiedenen spirituellen Themen wie christliche Mystik, Buddhismus und Meditation. Der Autor Helmut Schlegel gehört der Deutschen Franziskanerprovinz an. Er ist Meditations- beziehungsweise Exerzitienbegleiter und Buchautor. Der brasilianische Franziskaner Carlos Magno de Souza Santos aus São Luís (siehe auch Titelbild) unterschreibt während seiner Feierlichen Profess die Urkunde über seine endgültige Bindung an den Orden. 11
Es gibt Sätze, die sind einfach nur schön. Aber zugleich auch ein bisschen gefährlich. Dazu gehört auch das oft zitierte Augustinus-Zitat: »Liebe, und dann tue, was du willst!« Diese Maxime scheint gleich auf den ersten Blick völlig einsichtig: Was aus echter Liebe heraus geschieht, kann doch nur gut sein. Und hat nicht Jesus selbst die Liebe zum ersten und wichtigsten Gebot erklärt? Welche beglückende Freiheit weht mir aus diesem Satz entgegen! So einfach ist das also! Beim zweiten Hinsehen allerdings kommen Fragen: Was ist denn »Liebe«? Leidenschaftliche Liebe hat auch eine zerstörerische Kraft und schon viel Unheil angerichtet. Längst nicht alles, was gut gemeint ist, kommt auch gut an. Darf ich alles tun, was ich liebe, was mir gefällt? Dann wäre die lockende grenzenlose Freiheit nur die trügerische Fassade eines unbegrenzten und zügellosen Egoismus. »Kurzformel« fürs Leben? Von dem zitierten Augustinus-Wort und ähnlichen Formulierungen geht aber noch eine andere Faszination aus: Die schwierigen Überlegungen, was ich denn anfangen soll mit meinem bisschen Leben, was wirklich wichtig ist, was ich tun muss und was ich nicht tun darf – sie werden eingedampft zu einer kurzen Antwort. Sie ist eingängig und öffnet wie ein Generalschlüssel alle Türen meines Alltags. Heureka, ich habe sie gefunden, meine persönliche Weltformel, den Stein der Weisen, durch dessen Berührung alles, was ich anpacke, plötzlich Sinn erhält. Jetzt weiß ich, wo es langgeht. Der Wunsch nach einem ebenso einfachen wie eindeutigen Orientierungsmaßstab für mein Leben ist in unserer hochkomplexen und immer noch komplizierter werdenden Welt mehr als verständlich. Aber es gab ihn auch schon früher. »Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?«, fragt ein Gesetzeslehrer Jesus (Mt 22,36). Der jüdische Talmud hatte aus der Tora 613 einzelne Regeln herausgelesen, 365 Verbote (eines für jeden Tag!) und 248 Gebote. Da konnte es schon passieren, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sah. Jesus hat sich nie gegen das Gesetz gestellt. Aber er war so souverän, dessen Grundintention auf den einfachen Merksatz vom Ineinander von Gottes- und Nächstenliebe zu reduzieren: »An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.« Mut zur Einfachheit Ich bin der Meinung, dass wir heutzutage eher Angst vor allzu simplen Vereinfachungen haben. Zu Recht! Populisten und Verschwörungstheoretiker gehen auf gefährlichen Stimmenfang mit einfachen Antworten, die scheinbar alles erklären, aber tatsächlich auf Dauer nichts lösen! Sachentscheidungen erfordern Sachverstand, professionelles Know-how, einen differenzierenden Blick und den Mut zum klugen Abwägen. Im Hau-Ruck-Verfahren wird vieles schnell zerstört. Konstruktiver Auf- bau braucht Überlegungskraft und Zeit. TEXT: Cornelius Bohl ofm | FOTO: Small Home Simplify your life? Die Suche nach dem »wichtigsten Gebot« Dennoch: Das Entscheidende im Leben und auch im Glauben muss auch einfach sein. Das Plädoyer für die Einfachheit rollt keinen roten Teppich aus für die gefährlichen Vereinfacher. Wirklich Großes ist oft überraschend einfach. Die Einfachheit, die simplicitas, ist eine der entscheidenden Tugenden in der franziskanischen Spiritualität. Sie hat zu tun mit Echtheit und Ehrlichkeit, aber auch mit Demut und Realismus. Franz von Assisi bezeichnet sich selbst als simplex, als einfachen Menschen. Schade, dass für uns aus dem simplex gleich ein Simpel wird und aus Der Franziskaner Miroslav Babić lebt das Evangelium, indem er sich um Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen in Subukia (Kenia) kümmert. 12
dem »Einfältigen« ein dumpfer Tölpel. Dabei sind Einfachheit und Einfalt wichtige christliche Haltungen. Wir bräuchten dafür neue Begriffe. Mit wenigen Worten In seinem Testament erinnert sich Franz von Assisi an die Abfassung der Regel für seine Brüder. Der Herr selbst hatte ihm geoffenbart, nach der Form des heiligen Evangeliums zu leben. »Und ich habe es mit wenigen Worten und in Einfalt schreiben lassen.« (Test 15). Ein kurzer Text nur, wenige Worte, keine ausladenden Erörterungen. »In Einfalt« niedergeschrieben, »simpliciter« heißt das im lateinischen Original, einfach, schlicht, echt. Aber da war alles drin. Veröffentlichungen über eine christliche Moral und Ethik füllen ganze Bibliotheken. Das muss so sein, denn das jesuanische »wichtigste Gebot« der Gottes- und Nächstenliebe gibt auf eine Unzahl konkreter Einzelfragen keine unmittelbare Antwort. Dennoch bleibt es fundamental. Auch die Franziskus-Regel von 1223, die redaktionelle Endstufe einer über ein Jahrzehnt dauernden internen Diskussion in der Bruderschaft, legt nicht im Einzelnen fest, wie franziskanisches Leben am Beginn des 3. Jahrtausends aussieht. Und dennoch enthält sie das, worum es dabei im Wesentlichen geht. Die Übersetzung einer verbindlichen Orientierung aus der Vergangenheit in konkrete Handlungsschritte für heute bleibt anstrengend. Manchmal aber tut es gut, einen Schritt zurückzutreten, um nach der notwendigen Beschäftigung mit den tausend aktuellen Einzelfragen wieder die einfache Ur-Kunde in den Blick zu nehmen: Darum geht es! Eine solche Wiederentdeckung der Einfachheit christlichen und franziskanischen Lebens erfordert Mut. Ich kann mich so in Einzelerörterungen verlieren, dass ich nicht mehr den einfachen Ruf zur Entscheidung höre. Eine ausgefeilte Kasuistik – also für möglichst viele Einzelfälle geregelte Tatbestände zu schaffen – schafft auch bequeme Schlupflöcher, die am Ende alles relativieren. Wenn alles gleich wichtig ist, ist nichts mehr wirklich wichtig. »Lebe das, was du vom Evangelium verstanden hast. Und wenn es noch so wenig ist. Aber lebe es.« Franziskus, davon bin ich überzeugt, würde diesem Satz von Roger Schütz sofort zustimmen. Außerdem ist die Wiederentdeckung der Einfachheit christlichen und franziskanischen Lebens vielleicht gerade heute geboten. »Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt«, heißt es im ersten Petrusbrief (1 Petr 3,15). Wohlgemerkt: jedem und jeder! So dass es jeder und jede versteht. Auf der Grundlage des Evangeliums, so Thomas von Aquin, versteht die berühmte »vetula«, die ein- fache alte Frau, mehr von Gott als der größte Intellektuelle vor Christus. Und was franziskanisches Leben heute bedeutet, sollten wir so einfach und klar leben, dass es für andere sofort einsichtig und überzeugend ist. »Paucis verbis et simpliciter« hat Franziskus die Regel niederschreiben lassen, mit wenigen Worten und ganz einfach. Das Regeljubiläum lädt ein, ebenso heute das Evangelium zu leben, nur mit wenigen Worten und einfach. Der Autor Cornelius Bohl ist Franziskaner und Sekretär für Mission und Evangelisierung. 13
Die Feier des 800. Jahrestages der Bullierten Regel des heiligen Franziskus im Jahr 2023 ist eine Quelle der Inspiration und eine Einladung, über das eigene Leben nachzudenken. Der innere Ruf des Franz von Assisi wurde in einen Text übertragen, der die Verbindung eines essenziell franziskanischen Ideals der Authentizität und Radikalität mit dem Leben des Evangeliums schafft. Die Bullierte Regel ist ein ständiger Bezugs- und Inspirationspunkt auf dem spirituellen Weg des Ordens der Minderbrüder und bietet als geistlicher Schatz eine Reihe von klaren Richtlinien und Prinzipien. Diese sollen ihnen helfen, ihr Leben mit völliger Hingabe an Gott und am Dienst für ihre Schwestern und Brüder, vor allem für die Bedürftigsten auszurichten. Orientierung für alle Dieser geistliche Schatz, der im 13. Jahrhundert geschrieben wurde, ist zu einem offiziellen Dokument geworden, das die wesentlichen Grundsätze und Praktiken des franziskanischen Ordenslebens enthält und den Brüdern als Orientierung für das Leben des franziskanischen Charismas und für andere Aspekte des Ordenslebens dient. Ausgehend von der Armut, der Keuschheit und dem Gehorsam sind die Brüder eingeladen, dem Beispiel des heiligen Franziskus zu folgen und die Gegenwart des Reiches Gottes in der Welt zu bezeugen. Der Text lädt die Brüder ein, »das heilige Evangelium unseres Herrn Jesus Christus zu beobachten durch ein Leben in Gehorsam, ohne Eigentum und in Keuschheit« (Bullierte Regel, 1). Die Bullierte Regel betont die Armut, die Einfachheit und die brüderliche Liebe für ein Leben des Dienstes und der Solidarität. »Ich rate aber meinen Brüdern, warne und ermahne sie im Herrn Jesus Christus, dass sie, wenn sie durch die Welt ziehen, nicht streiten, noch sich in Wortgezänk einlassen (vgl. 2 Tim 2,14), noch andere richten. Vielmehr sollen sie mild, friedfertig und bescheiden, sanftmütig und demütig sein und mit allen respektvoll reden, wie es sich gehört.« (Bullierte Regel, 3,10-11). Und dieser Text, der die Lebensweise der Franziskaner vorgibt, kann sicherlich auch Botschaften für alle Menschen enthalten, die bereit sind, die franziskanische Lebensweise zu akzeptieren, indem er als Leitfaden für den Alltag innerhalb und außerhalb des Klosters dient. In diesem Sinne kann ich ein wenig aus meinem persönlichen Leben erzählen. Von Beginn TEXT: Marcelo Igor de Sousa | FOTOS: Augustinus Diekmann ofm; privat Der innere Ruf Die franziskanische Regel als Leitfaden fürs Leben meiner Zeit bei den Franziskanern bis zu den »einfachen Gelübden« verbrachte ich sechs Jahre meines Lebens im Orden der Minderbrüder. Ich trat in das Ordensleben ein und habe mich in die Spiritualität des heiligen Franz von Assisi vertieft. Sein Vorbild der Hingabe und Einfachheit hat meine Art, die Welt zu sehen, verändert und mein ganzes Leben tief geprägt. Bei der Betrachtung der Bullierten Regel, dem grundlegenden Dokument der franziskanischen Lebensweise, werden wir mit der Radikalität des Evangeliums und der ständigen Herausforderung konfrontiert, Armut, Demut und Mitleid in unserem Leben umzusetzen. Dies habe ich während des Noviziats, einer Ausbildungszeit mit intensivem Hineintauchen in das franziskanische Leben, nachdrücklich erfahren. Es war für mich eine wichtige und grundlegende Phase, um das Lebensziel von Franz von Assisi kennenzulernen und zu erleben. Diese Zeit hat mich sehr geprägt, vor allem wegen der Intensität des Lebens in einer religiösen Gemeinschaft. Anders, aber ebenso bedeutsam, waren die folgenden Ausbildungsphasen mit ebenfalls intensiven Zeiten franziskanischer Erfahrung. Drei Zeichen folgen Diese besonderen einschneidenden Erlebnisse prägen das Leben und verändern den Blick auf die Welt, auf die Mitmenschen und Gottes Schöpfung. In diesen sechs Jahren habe ich gelernt, in (einer) Gemeinschaft zu leben, die Einfachheit zu lieben und den Frieden zu suchen. Das Zeichen des Gemeinschaftslebens lehrt mich, tief an den Menschen zu glauben und an die Fähigkeit, den anderen als Bruder und Schwester zu verstehen. Das Zeichen der Einfachheit beinhaltet die Lehre, dass der Wert der Dinge in einer Perspektive liegt, die auf den ersten Blick unsichtbar ist. Das Zeichen des Friedens schließlich pflanzt in jeden Menschen, der mit dem heiligen Franziskus in Kontakt gekommen ist, die Verpflichtung ein, Werkzeug des Friedens in der sehr komplexen Welt, in der wir heute leben, zu sein. Und das Leben führt uns auf Wege, die etwas anders verlaufen als geplant und auf die wir meistens 14
keinen Einfluss haben. So auch bei mir: Ich bin nicht mehr Mitglied des Ordens, sondern arbeite zurzeit in der Kommunikationsabteilung einer brasilianischen Universität. Aber, wie schon gesagt, die Zeichen der franziskanischen Spiritualität bleiben im Leben, egal wie es weiter verläuft. Die Unsicherheiten klären sich schließlich auf. Man muss nur einsehen, dass es machbar ist, den Text, den Franz von Assisi vor 800 Jahren seinen Brüdern und der Kirche vorgelegt hat, mit kleinen Gesten nachzuahmen. Es ist möglich, kreative Wege zu finden, um diese Prinzipien im täglichen beruflichen und säkularen geschwisterlichen Leben anzuwenden. Die Regel lädt uns ein, Licht in der Dunkelheit zu sein, sie lädt uns ein, durch unser alltägliches Handeln eine bessere Welt aufleuchten zu lassen. Die inspirierenden Worte des heiligen Franziskus, die in der Bullierten Regel enthalten sind, klingen bis heute nach und fordern uns heraus, die Kraft des Evangeliums und ein Leben in Einfachheit anzunehmen. Möge die Bullierte Regel des heiligen Franziskus für jeden von uns eine Quelle der Inspiration sein und uns an die verwandelnde Kraft der Liebe und Einfachheit in unserem Leben und in unserer Welt erinnern. Möge Franz von Assisi uns helfen, unser Engagement für das franziskanische Leben zu erneuern, unabhängig von unserem Lebensstandard. Möge die Spiritualität des heiligen Franziskus auch künftige Generationen inspirieren, damit wir gemeinsam eine geschwisterliche, von Solidarität und Nachhaltigkeit geprägte Welt aufbauen können. Der Autor Marcelo Igor de Sousa hat im Fach Kommunikationswissenschaften an der Universität Vale do Rio dos Sinos (Brasilien) promoviert und arbeitet als Journalist im Kommunikationsbüro der Bundesuniversität von Rio Grande do Sul, ebenfalls in Brasilien. Übersetzung aus dem Portugiesischen: Eurico Alves da Silva ofm Regelbuch der Minderbrüder 15
In diesem Jahr feiern wir die Jubiläen von zwei »Regelwerken«, die uns als franziskanische Familie von großer Bedeutung sind: Am 29. November 1223 wurde die Regel des Franziskanerordens von Papst Honorius III. anerkannt und am 10. Dezember 1948 verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Frohe Botschaft Jesu Evangelium und Menschenrechte heute Obwohl beide Daten, 29. November und 10. Dezember, sehr nah beieinander liegen, so sind es eben doch mehr als sieben Jahrhunderte, die sie voneinander trennen. Und es ist nicht nur die Anzahl der Jahre, die die Texte zunächst unterscheidet: Während die bullierte Regel lediglich für eine sehr kleine Anzahl von Männern geschrieben wurde, die der katholischen Kirche angehören und bewusst ohne Ehe und Familie in Gemeinschaft nach eben genau dieser Regel leben wollen, gilt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte für alle Menschen, die auf dieser Erde leben und leben werden, unabhängig von religiöser, ethnischer oder nationaler Zugehörigkeit. Ein weiterer wesentlicher und fundamentaler Unterschied besteht in dem Charakter des Textes: handelt es sich doch bei dem einen um eine Regel, also Vorschriften und Pflichten für jene, die diese Regel annehmen, während es eben bei dem anderen Text um Rechte geht; Rechte, die jedem einzelnen Menschen zukommen aufgrund seines Menschseins. Freilich gehen Rechte und Pflichten Hand in Hand. So beinhalten meine Rechte immer auch die Pflicht, eben das gleiche Recht auch den anderen zukommen zu lassen und zu respektieren. Evangelium und Menschenwürde Was aber ist das Verbindende dieser beiden Texte über das Datum hinaus und was die Bedeutung für uns als fran- ziskanische Familie? Wenn wir versuchen, die jeweiligen Texte auf jeweils einen Kernbegriff zu bringen, können wir ihre Gemeinsamkeit entdecken und auch die Bedeutung und den Anspruch an uns als Franziskanerinnen und Franziskaner. Es sind die Begriffe Evangelium und Menschenwürde. Bei der Regel des Franziskanerordens geht es darum, »das Evangelium zu beobachten«, und bei der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte um die »Achtung der Menschenwürde« eines jeden Menschen. Die Würde des Menschen und das Evangelium sind auf das engste miteinander verwoben und damit auch von grundlegender Bedeutung für die franziskanische Spiritualität und Lebensweise. Jesus erläutert (Lukas 4,43) in seiner »Antrittsrede« – oder wir könnten fast sagen, in seiner »Primizpredigt« – in seiner Heimat-Synagoge in Nazareth, worin seine Sendung besteht. Er tut dies mit einem Zitat des Propheten Jesaja: »Der Geist des Herrn ruht auf mir; / TEXT: Markus Heinze ofm | FOTOS: Franciscans International 16
denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, / damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde / und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze.« Damit macht Jesus zum einen deutlich, wer die bevorzugten Adressaten seiner Frohen Botschaft, des Evangeliums, sind: die »Armen«. Wir würden heute vielleicht auch sagen, jene, die von der Gesellschaft ausgegrenzt sind und diskriminiert werden. Bei den Vereinten Nationen spricht man oft auch von jenen, die besonders verletzlich und verwundbar sind. Zum anderen macht Jesus deutlich, worin diese frohe Botschaft besteht: Entlassung für die Gefangenen, Augenlicht für die Blinden, Freiheit für die Zerschlagenen. Weiterhin macht Jesus deutlich, dass sich dieses Evangelium, diese Frohe Botschaft »heute« ereignet. Heute, das heißt im Leben und Wirken Jesu. Heute, das war auch das Heute in der Zeit von Franziskus und Klara. In deren Wirken und Leben ereignete sich das Evangelium. Und das Heute ist eben auch im Heute, in unseren Tagen. Überall dort, wo wir das Evangelium verkünden in Wort und Tat. Engagement für Frieden Die Auflistung der Beispiele in Jesu Rede, beziehungsweise auch in der Rede des Propheten Jesaja, ist nur exemplarisch für alle möglichen Arten und Weisen, für Gerechtigkeit und gegen Ausgrenzung einzutreten. Sicherlich können wir sagen, es sind Beispiele, die für die gesamte Liste der Menschenrechte stehen. So ereignet sich auch in der Verteidigung der Menschenrechte und der Menschenwürde durch die Arbeit der Vereinten Nationen sowie der unzähligen Menschenrechtsorganisationen das Heute des Evangeliums. Darum sehen wir dies als unsere Pflicht und als eine Weise, unsere franziskanische Berufung zu leben: die Verteidigung der Menschenrechte bei den Vereinten Nationen. Als sich die franziskanische Familie Mitte der 1980er Jahre entschied, sich bei den Vereinten Nationen zu engagieren und den Antrag auf Akkreditierung stellte, sagte Robert Muller, der damalige Assistent des Generalsekretärs der Vereinten Nationen Javier Pérez de Cuéllar: »Warum haben Sie so lange dazu gebraucht. Wir haben auf Sie gewartet.« Und der frühere Generalminister der Franziskaner und derzeitige Präsident des Internationalen Vorstandes von Franciscans International (FI), Michael Perry ofm, sagte aus Anlass des 30-jährigen Jubiläums von FI: »Die in der Gründungsurkunde der Vereinten Nationen verankerten Grundwerte spiegeln das Engagement von Franziskus und Klara für Frieden, für die Armen und den Planeten wider. Ein Engagement, das uns in die Pflicht nimmt.« Es ist also mehr als nur das Datum, das diese beiden grundlegenden Regeltexte in die Nähe zueinander rückt. Es ist die grundlegende Botschaft und Mission: das Evangelium zu verkünden durch die Verteidigung der Menschenwürde und Menschenrechte. Mögen diese beiden Jubiläen uns von Neuem motivieren und inspirieren. Der Autor Markus Heinze gehört zur Deutschen Franziskanerprovinz und ist seit 2015 Geschäftsführer von »Franciscans International« mit Sitz in der Schweiz. Die philippinische Schwester Crescencia Lucero SFIC gehörte zur Kongregation der Franciscan Sisters of the Immaculate Conception. Sie war eine mutige, engagierte Kämpferin für Gerechtigkeit und Frieden sowie langjährige Partnerin von Franciscans International. Im Mai 2019 ist sie gestorben. Daniel Rodriguez Blanco ofm, Leiter des Büros für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung der OFM, während einer Sitzung der Vereinten Nationen in Genf 17
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Franziskaner aus aller Welt bei einer Prozession in Assisi. Auch heute noch ist es für manchen verlockend, dem Lebensbeispiel des heiligen Franziskus zu folgen. Seine von Papst Honorius III. vor 800 Jahren bestätigte Ordensregel beginnt mit den Worten: »Regel und Leben der Minderen Brüder ist dieses, nämlich unseres Herrn Jesus Christus heiliges Evangelium zu beobachten.« Franziskusquellen, S. 94, Butzon & Bercker, 2009
»Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt; wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr euch untereinander lieben. Daran werden alle Menschen erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr euch untereinander liebt.« (Joh 13,33-35) Regeln, Autorität und Liebe Alltag im bolivianischen Kinderhort »Santa Clara« TEXT UND FOTOS: Vilma Cotrim Costa OSF Wir Franziskanerinnen betreiben den Kinderhort Santa Clara in Cuatro Cañadas, einem kleinen Ort im Tiefland Boliviens. Die Kinder, die wir betreuen, kommen aus schwierigen und ärmlichen Familienverhältnissen. Unklare Autoritätsstrukturen und Überforderung der Eltern führen für die Kinder oft zu unverhältnismäßigen Strafen und Anwendung von Gewalt. Wir erziehen die uns anvertrauten Kinder mit viel Liebe. Gleichzeitig gehören für uns aber auch Regeln und Autorität dazu. Die Regeln zeigen den Kindern die Grenzen zwischen dem, was sie tun oder nicht tun dürfen. Regeln bestimmen auch, wie etwas getan werden soll. Spiele und Sport haben in diesem Sinne Regeln, an die sich die Kinder halten müssen, sonst werden sie bestraft – im Fußball zum Beispiel durch eine gelbe Karte oder einen Platzverweis. Generell müssen Regeln im Alltag, zu Hause und in der Schule klar sein: Die Kinder müssen beispielsweise ihr Zimmer aufräumen und auf ihre persönlichen Gegenstände aufpassen und in Uniform zur Schule kommen. Aufgestellt und überwacht wer- den die Regeln durch eine Autorität. Autorität ist die Eigenschaft, die einer Person oder einer Position das Recht gibt, die Einhaltung der aufgestellten Regeln einzufordern. Die Kinder brauchen und suchen Führung. Autorität spiegelt sich in einer gesunden Beziehung durch Führung und Begleitung wider. Mein Vater ist der Chef Maria Fernanda ist neun Jahre alt und kommt seit ihrem vierten Lebensjahr in unseren Kinderhort Santa Clara. Das Mädchen erzählt uns, was es für sie bedeutet, Regeln zu befolgen: »Bei mir zu Hause ist mein Vater der Chef. Wenn er nicht zu Hause ist, ist meine Mutter mit uns Kindern überfordert. Dann kommandiert uns unsere ältere Schwester herum. Sie schlägt uns manchmal, wenn wir etwas nicht richtig machen. Hier im Hort bringen uns die Franziskanerinnen viele Dinge bei, und wir müssen unsere Erzieherinnen respektieren und auf sie hören. Früher wusste ich nicht, was es heißt, Regeln zu befolgen und zu gehorchen.« Maria Fernanda ist das jüngste Kind eines chilenischen Auswanderervaters und einer bolivianischen Mutter, die über nur geringe Bildung verfügt und intellektuelle Schwierigkeiten hat. 20
Sie arbeitet den ganzen Tag als Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschäft. Im Elternhaus von Maria Fernanda gibt es Regeln: Das Mädchen muss zur Schule gehen, in den Kinderhort Santa Clara kommen und im Haushalt mithelfen. Aber die elterliche Autorität wird nicht in einer für Marias Entwicklung positiven Weise ausgeübt. Um die Familie zu ernähren, ist der Vater oft mehrere Wochen lang nicht zuhause. Die Mutter ist für die Kinder keine Autoritätsperson. Diese Lücke versucht die älteste Tochter (19 Jahre) zu füllen, ist aber selbst auch überfordert und reagiert autoritär und gewalttätig. Nächstenliebe lernen Maria Fernanda lernt bei uns im Hort die Regeln, die sie befolgen muss, und hat als Vorbild die Franziskanerinnen und Mitarbeiterinnen im Kinderhort Santa Clara. Wir bieten hier auch eine ganzheitliche Begleitung der Familie an. Wir haben mittlerweile einige positive Veränderungen in der Familie von Maria Fernanda festgestellt, aber wir wissen, dass es noch viel zu tun gibt und dass jeder Schritt in diesem Prozess Begleitung braucht. Wichtig dabei ist, immer Jesu Gebot der Liebe im Blick zu haben. Daraus müssen jede Mission und jedes Werk der Evangelisierung oder der Förderung des sozialen Wohls der anderen entstehen. Jedes Kind, das wir betreuen, muss dieses Gebot der Liebe verstehen und in der Praxis konkret erfahren. Nur durch Achtung und Akzeptanz und ohne Vorurteile können die Kinder selbst die Nächstenliebe im Umgang mit den anderen erlernen. Die Autorin Vilma Cotrim Costa ist Mitglied der Kongregation der Franziskanerinnen von der Buße. Die Brasilianerin lebt und arbeitet seit 2016 in Bolivien und leitet den Kinderhort Santa Clara in Cuatro Cañadas. Übersetzung aus dem Spanischen: Pia Wohlgemuth Alle Kinder des Hortes »Santa Clara« stellen sich brav an. Maria Fernanda fühlt sich wohl im Hort. 21
Jesus wird gefragt, was die wichtigste Regel ist. Er antwortet, dass es Liebe sei. Liebe zu Gott, zu deinem Nächsten und zu dir selbst. Leben am Rand der Gesellschaft Gefangenenseelsorge in Montero, Bolivien TEXT UND FOTO: Ronald Ramiro Armijo Zelada ofm conv Zweifellos ist die Liebe zu Gott und zum Nächsten das wichtigste Gebot. In der Realität des Lebens vergessen wir dies jedoch oft. Das ist bei Menschen, denen die Freiheit entzogen ist, immer wieder der Fall. Sie verstoßen häufig gegen diese Regel. Vielleicht liegt es daran, dass viele von ihnen aus Familien stammen, in denen es keine Familienregeln gibt. Die meisten Gefangenen hier bei uns in Montero, in der Nähe von Santa Cruz de la Sierra, kommen aus dysfunktionalen Familien. Familien, in denen Untreue, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, Kriminalität, Prostitution und anderes den Alltag prägen. Die Insassen in Montero leben unter erbärmlichen, unmenschlichen Bedingungen in der hoffnungslos überfüllten Haftanstalt. Menschen, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind, sitzen oft jahrelang ohne rechtskräftiges Urteil im Gefängnis. Dies ist eine ständige Verletzung der Menschenrechte. Viele Gefangene werden zudem schlecht ernährt, sie frieren und Krankheiten werden oft nicht rechtzeitig medizinisch versorgt. Hinzu kommt die Unsicherheit durch Gewalt, Erpressung und Drogenhandel auf dem Gefängnisgelände. Die meisten der Gefangenen sind junge Menschen aus einfachen Familien. Einige von ihnen sind katholische Christen. Sie bedauern ihre Fehler und wollen eine neue Chance im Leben. Sie vermissen ihre Familien und sind bereit, sich zu ändern. Wir Franziskaner unterstützen die Insassen im Montero-Gefängnis bereits seit vielen Jahren. 2022 haben wir zudem ein Team von Freiwilligen gebildet. Wir versuchen, die Gefangenen mit den nötigsten alltäglichen Dingen zu versorgen, ihnen eine medizinische Grundversorgung anzubieten und ihnen auch menschlich und spirituell beizustehen. Resozialisierung durch Bildung Jeden Montagnachmittag finden Besuche mit der Freiwilligengruppe statt. Die Inhaftierten sehen unseren Besuchen mit großer Freude entgegen. Wir konnten außerdem erreichen, dass die Zeit im Gefängnis keine verschwendete Zeit ist, da sich die Gefangenen hier mittlerweile auch aus- und weiterbilden können. Berufsausbildungskurse in der Schneiderei, Tischlerei, im Bereich Informatik, Metallurgie und Landwirtschaft werden angeboten. Kürzlich wurde eine Ausbildung in der Bäckerei ergänzt. All das ermöglicht den Insassen, nach Beendigung ihrer Haftstrafe wieder in die Gesellschaft einzutreten und neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu finden. Es ist sehr wichtig, dass alle Gefangenen das Gefühl haben, geliebte Kinder Gottes zu sein, dass Gott sie trotz ihrer Fehler zu einem neuen Leben ruft und ihnen eine neue Chance gibt. In diesem Sinne leisten wir auch spirituelle Unterstützung und wir kümmern uns um das sakramentale Leben der Inhaftierten. Wir betreuen sie seelsorgerisch mit Feiern der Heiligen Messe, Beichten, Vorbereitung auf Taufen, Erstkommunion und Firmung. Die Gefangenen selbst haben darum gebeten, dass ein Priester mindestens zweimal im Monat kommt, um mit ihnen zu sprechen und ihnen die Beichte abzunehmen. Es tut den Insassen gut, mit jemandem reden zu können. Sie durchleben schwere Zeiten, das Leben hat sie hart getroffen. Viele haben den Wunsch, sich mit Gott und ihren Familien zu versöhnen. Als Franziskaner haben wir den Auftrag, zu den Menschen am Rand der Gesellschaft zu gehen. Ich spüre, die Gefängnisseelsorge ist ein Ort, wo wir am meisten gebraucht werden. Der Autor Ronald Ramiro Armijo Zelada ist Provinzialminister der Kustodie des heiligen Franz von Assisi in Bolivien. In Montero begleitet er zusätzlich zu seinen Aufgaben als Provinzkustos die Sozial- und Gefängnispastoral in der Pfarrei Nuestra Virgen de Las Mercedes. Übersetzung aus dem Spanischen: Pia Wohlgemuth 22 | 23
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