Franziskaner Mission 3 | 2023

Liebe Leserin, lieber Leser! TITEL Oft weinte der heilige Franziskus von Assisi, weil die Liebe – die Christus ist – nicht geliebt wurde. Vor 800 Jahren wählte er ganz bewusst das Evangelium als Fundament seiner Ordensregel. Er und seine Brüder wollten Jesus, der menschgewordenen Liebe Gottes, möglichst treu folgen. So auch der Franziskaner auf unserer Titelseite, Carlos Magno de Souza Santos aus São Luís, Nordostbrasilien (siehe Seite 10). Mit seiner endgültigen Entscheidung für das franziskanische Charisma begibt sich Frei Magno, nach dem Bei- spiel von Franziskus, voll Freude in die Nachfolge der Liebe, die Christus ist. Verkehrsregeln sind keine Einladungen zu einer Diskussion. Wenn die Ampel Rot zeigt, hat es keinen Zweck, darüber zu streiten, ob diese Farbe nicht vielleicht auch Grün bedeuten könnte. Rot ist Rot. Und wenn die Ampel Rot zeigt, muss ich stehen bleiben. Regeln brauchen Verbindlichkeit. Regeln brauchen aber auch noch etwas anderes: Sie brauchen Akzeptanz. Ich weiß von einer Bürgerinitiative, die lange Zeit für eine Ampel an einer verkehrsreichen Straße bei einer Grundschule gekämpft hat, nachdem es dort immer wieder zu Unfällen gekommen war. An anderen Stellen werden Ampelanlagen wieder abgebaut und durch einen Kreisverkehr ersetzt, weil damit der Verkehrsfluss besser gewährleistet ist. Wo eine Ampel sinnvoll oder notwendig ist und wie überhaupt der Verkehr am besten geregelt werden kann, darüber kann und muss man also durchaus diskutieren. Verbindlichkeit und Akzeptanz. 1223 bestätigte Papst Honorius III. die Regel der Minderbrüder. Das war vor genau 800 Jahren. Diese Regel gilt bis heute. Bis aber die Bruderschaft dem Papst einen von der breiten Mehrheit akzeptierten Regeltext vorlegen konnte, brauchte es einen weit über zehn Jahre dauernden Diskussionsprozess. Schon 1209 hatten Franziskus und die ersten Brüder in Rom eine Lebensform vorgelegt, die nur aus einigen wenigen Sätzen des Evangeliums bestand. Diese Ur-Regel erwies sich schon bald als ungenügend. Neue Herausforderungen verlangten neue Regelungen. Bei ihren jährlichen Versammlungen diskutierten die Brüder ihre Lebensform. In einem mühsamen partizipativen Leitbild-Prozess wurden die bisherigen Überlegungen ergänzt und korrigiert, der Text wucherte und wurde wieder gekürzt. Leben und Regel wuchsen gemeinsam. Es war ein dynamisches und oft auch kontroverses Ringen um eine gemeinsame verbindliche Grundlage. Und diese Auseinandersetzungen gehen auch nach der endgültigen päpstlichen Bestätigung weiter. Der verbindliche Text fragt in jeder Generation neu: Und was bedeutet dieses oder jenes gerade jetzt? Wie können wir das heute leben? Dem Spannungspaar Verbindlichkeit und Akzeptanz entspricht ein anderes: Treue und Wandlung. Beides ist wichtig. Geht es zusammen? Wie kann ich einer Regel, dem Evangelium, einem Menschen oder auch mir selbst treu bleiben in den ständigen Veränderungen, die ich bei mir und um mich herum erlebe? »Alles Menschliche will Dauer, Gott will Verwandlung.« (Ricarda Huch) Die Treue zum Evangelium will mich nicht versklaven, sondern zu einem neuen Menschen wandeln. Deutschland ächzt unter einer überbordenden Bürokratie und Regelungswut. Dennoch sind Regeln oft besser als ihr Ruf. Das 800-jährige Jubiläum der Franziskus-Regel lädt ein zum Nachdenken über die Funktion von Idealen und Leitbildern, über heilsame und unsinnige Regelungen, die Bedingungen von Freiheit und Wachstum, das spannungsreiche Ineinander von Individuum und Gemeinschaft. Der Regeltext ist alt. Die damit verbundenen Fragen sind es nicht. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre. Herzliche Grüße P. Cornelius Bohl ofm Sekretär für Mission und Evangelisierung 3

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