»Leben nach dem Evangelium« und die lebenspraktische Predigt urbi et orbi (für Stadt und Erdkreis) erlaubt hatte, diskutierten in Assisi mehr als Tausend Brüder über eine eigene Regelfassung. Jahr für Jahr hatten sich hier Brüder aus ganz Italien und ab 1218 auch aus anderen Ländern Europas und aus dem Orient an Pfingsten versammelt, um die Erfahrungen ihres apostelgleichen Wanderlebens auszuwerten und sich neue Ziele zu setzen. Diese Pfingstversammlungen fassten Vereinbarungen in eine Charta, die wegweisende Worte des Evangeliums aufgrund der gemeinsamen Erfahrungen konkretisierte. Der Regeltext, während eines Jahrzehnts gewachsen, betont im ersten Vers, was Richtschnur bleibt: »Leben und Regel der Brüder bestehen darin, [...] der Lehre und den Fußspuren unseres Herrn Jesus Christus zu folgen« (FQ 70). Es folgt eine Reihe von Schlüsselversen aus dem Evangelium, die vermutlich die kurz gefasste »Urregel« oder das propositum vitae bildeten, das Franz im Mai 1209 Papst Innozenz III. vorgelegt hatte. Freiheit und Verbindendes Die deutschen Franziskaner haben sich diesen Frühling 2023 in einem Mattenkapitel mit der Franziskusregel befasst. Sie fanden es »spannend und inspirierend«, die »Regel als Raum der Freiheit« zu entdecken, »der das Verbindende und das Verbindliche beschreibt«. Die Regel von 1221 ist reichhaltiger als die gestraffte Version von 1223. In der Frühfassung, in der viele Evangelienzitate laufend an die »wahre Regel« erinnern, wird die Jüngersendung Jesu mit eigenen Erfahrungen konkretisiert. Rät Jesus dem reichen Mann, sein Geld den Armen zu geben und ihm mit leeren Händen zu folgen, macht die Regel eben dies zur Grundbedingung für jene, die »von Gottes Geist geleitet dieses Leben annehmen wollen und zu unseren Brüdern kommen«. Spricht Jesus vom Verzicht auf ein zweites Kleid, auf Gepäck, Geld und Schuhe, folgen hier weitere Bestimmungen über »die Aufnahme und die Kleidung der Brüder« (FQ 70-71). Lehrt Jesus seine Jünger, das Vaterunser zu beten, so legt der dritte Abschnitt die Zeiten fest, in denen Dass sich die Bruderschaft Regeln geben musste, folgt einer sozialen Notwendigkeit: Wo immer Menschen zusammenleben oder -wirken, braucht es verbindliche Abmachungen. Das gilt für Partnerschaften und Familien, Arbeits- und Reisegruppen, Schulen und Vereine ebenso wie für größere Institutionen, die Gesellschaft und die Kirchen. Und es gilt individuell: Auch das kreativste Leben braucht eine Ordnung. Allein das Evangelium Nachdem sich erste Gefährten Franz angeschlossen und ihr Kreis im Frühling 1209 auf zwölf angewachsen war, wanderte die junge fraternitas nach Rom, um ihre Vision dem Papst vorzulegen. Der prophetische Aufbruch verband Männer aus allen Gesellschaftsschichten: Söhne reicher Bürger, Handwerker, Adelige und Bauern. Allesamt Laien, suchten sie die Sendung der Jünger Jesu in der eigenen Zeit zu leben: Frieden in die Häuser zu tragen, Kraftlose aufzurichten und Menschen am Rand solidarisch zu begegnen. Das Evangelium reichte den Gefährten als Richtschnur, und das im Alltag gebetete Vaterunser festigte ihr Bewusstsein, dass sie Brüder eines jeden Menschen waren. In Rom empfahl der zuständige Benediktinerkardinal Johannes von San Paolo der Brüderschar, die eremitische oder die monastische Lebensform anzunehmen. Für ein gemeinsames Einsiedlerleben hatten die Kamaldulenser Gebräuche, für das Mönchsleben Benedikt von Nursia eine detaillierte Regel verfasst. Franz ließ sich mit seinen Brüdern nicht in eine strikt geregelte Lebensweise drängen. Im Brief an Bruder Leo wiederholt er Jahre später: »Wie immer es dir besser erscheint, Christus zu gefallen und seinen Fußspuren zu folgen, so tut es«. Der Fantasie der Liebe folgend, dürfen sich Leo und seine Gefährten auf »den Segen Gottes und die brüderliche Wachheit« von Franz verlassen (FQ 36). Eine eigene Urregel Zwölf Jahre nach jener ersten Begegnung mit Papst Innozenz III., der den Brüdern das radikale TEXT: Niklaus Kuster OFMcap | ABBILDUNGEN: Giotto di Bondone; Guido di Graziano; picture alliance / AP Photo | Seth Wenig Was hält mich auf meinem Lebensweg in Form, auch innerlich? Was nährt mein Dasein und erfüllt mein Wirken? Was trägt dazu bei, dass ich zwischenmenschlich, sozial und ökologisch wach bleibe? Was bringt Menschen in ein gutes Zusammenspiel? Und wodurch wird meine Gottesbeziehung erfüllend? Die mittlere dieser Fragen stellen sich erst heutige Menschen. Die vier anderen hatte vor 800 Jahren auch das Team im Blick, das mit Franz von Assisi an der definitiven Fassung der Ordensregel arbeitete. linke Seite: Bestätigung der Regel durch Papst Honorius III. (Basilika San Francesco / Fresko von Giotto di Bondone, um 1295) 7
RkJQdWJsaXNoZXIy NDQ1NDk=