Franziskaner Mission 1 | 2024

2024 Wunden verbinden Vom Kreuz geprägt

FRANZISKANER MISSION erscheint viermal im Jahr und kann als kostenfreies Abo bestellt werden unter Telefon 089-211 26 110 oder muenchen@franziskanermission.de. »Franziskaner Mission« erscheint im Auftrag der Deutschen Franziskanerprovinz von der heiligen Elisabeth – Germania. HERAUSGEBER Franziskaner Mission REDAKTIONSLEITUNG Augustinus Diekmann ofm REDAKTION Dr. Cornelius Bohl ofm, Stefan Federbusch ofm, Natanael Ganter ofm, Joaquin Garay ofm, Heinrich Gockel ofm, Frank Hartmann ofm, Márcia Santos Sant'Ana, Eurico Alves da Silva ofm, Fábio de Sousa Barbosa ofm, René Walke ofm, Pia Wohlgemuth GESTALTUNG sec GmbH, Osnabrück‚ DRUCK Bonifatius GmbH, Paderborn Impressum FRANZISKANER MISSION St.-Anna-Straße 19, 80538 München Telefon: 089-211 26 110 Fax: 089-211 26 109 muenchen@franziskanermission.de www.mission.franziskaner.de Spenden erbitten wir, unter Angabe des Verwendungszwecks, auf folgendes Konto: LIGA BANK IBAN DE48 7509 0300 0002 2122 18 BIC GENODEF1M05 Ihre Spendengelder fließen in unsere Hilfsprojekte und nicht in die Produktionskosten dieser Zeitschrift. 2

Liebe Leserin, lieber Leser! Ist unser christlicher Glaube, verglichen mit anderen Religionen, nicht etwas geschmacklos? Diese Frage ist mir schon manchmal gekommen. Wie ästhetisch schön waren etwa die Göttinnen und Götter des antiken Olymps mit ihren ewig jungen, formvollendeten Körpern in erträumten Idealmaßen. Und welche satte Zufriedenheit strahlt ein »Lucky Buddha« aus, wohlgenährt und lachend in sich ruhend. Wirkt dagegen der christliche Schmerzensmann nicht tatsächlich abstoßend, voller Wunden und von brutaler Folter entstellt? Angstschweiß und Blut gehören untrennbar zum Christusgeheimnis. Und das hört dann noch nicht einmal mit Ostern auf: Der Auferstandene ist gerade an seinen Verletzungen erkennbar … Nicht ohne Grund wirft man uns Christen oft eine fast masochistische Fixierung auf das Leid vor. Ich aber halte das Christentum hier einfach für provozierend realistisch: Wohl keiner kommt im Leben ungeschoren davon. Wo Menschen zusammenleben, tun sie sich auch gegenseitig weh. Viele schleppen tiefe Verletzungen mit sich herum. Das einzugestehen, ist kein Zeichen von Pessimismus, sondern einfach nur ehrlich. Es geht nicht darum, Verletzungen zu kultivieren und in Wunden zu rühren, weder in eigenen noch in fremden. Aber Wunden zu verstecken, das bringt auch nicht weiter. Sie sind da. Und es bleibt die Frage, wie ich damit umgehe. Vor 800 Jahren hat Franz von Assisi die Wundmale Christi empfangen. Daran erinnert die vorliegende Ausgabe unserer Zeitschrift »Franziskaner Mission«. Die Stigmatisation kurz vor seinem Tod ist die logische Konsequenz eines intensiven Lebens. Sie macht äußerlich anschaulich, was ihn seit seiner Jugend innerlich umgetrieben hat. Ein Leben lang hat er versucht, Jesus ähnlich zu werden. Kurz vor seinem Tod wird diese Verbundenheit auch an seinem Leib sichtbar. Als junger Mann hat er die schützende Ritterrüstung abgelegt und war dann ein Leben lang bereit, sich von fremder Not berühren zu lassen: von der Verzweiflung der Aussätzigen, dem Elend der Armen, dem Ärgernis einer evangeliumsfernen Kirche. Am Ende ist er selbst verletzt und gezeichnet. Gerade der solidarische Bruder wird zum Bild Christi. Was bedeutet heute »Mission«? Und wie geht »Evangelisierung« hier bei uns in einem Land, in dem der christliche Glaube immer dünner wird? Unser verwundeter Bruder Franziskus hat nach 800 Jahren kein Rezept für uns, gibt uns aber vielleicht doch einige wichtige Hinweise: Sei ehrlich, kleistere Not nicht zu, auch nicht mit frommen Sprüchen. Lass dich berühren von den Wunden der anderen und der Zeit. Sei solidarisch mit denen, die heute verletzt und stigmatisiert werden. Genau so machst du etwas von Christus in dieser Welt sichtbar. Verletzungen benennen und auch mal den Finger in die Wunde legen. Wunden verbinden und Schmerzen lindern. Aber auch Wunden solidarisch mittragen, wo sie nicht heilen. Und in all dem etwas von Jesus erfahrbar machen. Darum geht es uns Franziskanern auch in unserer weltkirchlichen Arbeit. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre. P. Cornelius Bohl ofm Sekretär für Mission und Evangelisierung TITEL Vor 800 Jahren hat Franziskus von Assisi auf dem Berg La Verna eine prägende Christuserfahrung. Während des sogenannten Kreuzgebets empfängt er die fünf Wundmale. Der Maler Ulrich Viereck zeigt in seinem Kunstwerk auf unserer Titelseite Franziskus ganz offen für die Begegnung mit seinem Gott als dem wahren Licht. Der Arme von Assisi ist vom Kreuz geprägt, doch die Wunden verbinden ihn mit dem auferstandenen Herrn. Die Stigmata schenken Hoffnung auf neues Leben. Das Geschehen auf dem Berg La Verna verwandelt Franziskus in einen neuen Menschen. 3

Inhalt 6 Wunden verbinden Franziskus von Assisi in der Nachfolge Christi Thomas von Celano 8 Das Wunder von La Verna 800 Jahre Stigmata des Franziskus von Assisi Vitorio Mazzuco ofm 12 Hände reichen Franziskanischer Solidaritätsdienst in Brasilien Dr. Rosângela Helena Pezoti 14 Option für die Armen Soziales Engagement in Bolivien Carmelo Galdóz ofm 16 Dem Heiligen begegnen Der Wallfahrtsort Canindé in Brasilien Marcia Santos Sant’Ana 18 Mittelseite 20 Gib nie auf! Lebendiger Glaube in Nordostbrasilien Fábio de Sousa Barbosa ofm 22 Hoffnungsort Hilfe für kenianische Kinder mit Behinderung Miroslav Babić ofm 24 Stigmatisierung überwinden 40 Jahre Hilfe für Leprakranke Aluísio Alves Pereira Júnior ofm und Wanderley Gomes de Figueiredo ofm 26 Seelsorge schenkt Hoffnung Franziskanisches Hospital in Guatemala Jesús Humberto Gómez Sánchez ofm 28 Kulturelles Erbe Ethnische Minderheiten in Vietnam Chi Thien Vu ofm 30 Brücke nach Ostafrika Projektreise nach Kenia, Sambia und Ruanda Martin Lütticke ofm 32 Durchs Raster gefallen Soziale Randgruppen in Deutschland Horst Langer ofm 34 Post aus Genf 35 Projekt 8 6 12 16

Personalia HERMANN SCHALÜCK OFM Friedhelm Schalück, geboren am 8. Mai 1939 in St. Vit, wurde 1959 in Rietberg in das Noviziat der damaligen Franziskanerprovinz Saxonia aufgenommen und erhielt den Ordensnamen Hermann. Die Feierliche Profess legte er 1963 ab, zwei Jahre später wurde er zum Priester geweiht. Von 1973 bis 1983 war er Provinzial der Saxonia, danach bis 1997 in der Generalkurie des Ordens in Rom tätig. Von 1997 bis 2008 war er Präsident des Katholischen Hilfswerks »missio«. Am 26. Januar 2024 starb er überraschend im Franziskanerkloster Paderborn. Bruder Hermann wird als zugewandter Seelsorger in Erinnerung bleiben, dessen Lebenswerk von großer Bedeutung ist. PHIBBY AWERE Anfang März besuchte uns – in der Franziskaner Mission Dortmund – Phibby Awere, die ehemalige ugandische Hochkommissarin in Kenia und jetzige Förderin des von Franziskanerpater Hermann Borg gegründeten »Mutter-Erde-Netzwerks«. Mit Hilfe von Schwester Magret Awori, Little Sister of St. Francis, soll das Netzwerk nach Uganda ausgeweitet werden. Durch die Besuche von Phibby Awere bei uns, in Dänemark und in Schweden wird das Baumpflanz-Projekt bekannt gemacht und es sollen europäische Umweltorganisationen als Partner gewonnen werden, sodass das »Mother-Earth-Network« auch erfolgreich in Ostafrika umgesetzt werden kann. REINHOLD BRUMBERGER OFM Reinhold Brumberger ist wieder wohlauf und seit Ende des letzten Jahres zurück in seinem Konvent San Antonio in Santa Cruz de la Sierra in Bolivien. Im Augenblick hat er noch keine konkreten Aufgabengebiete, aber er hilft in der großen Pfarrei. Er ist nach der langen Pause voller Pläne und Energie. In seiner mehr als 40-jährigen Zeit als Bolivienmissionar hat er schon viele Projekte ins Leben gerufen. Dank seiner gründlichen Planung und dem Engagement der Gemeindemitglieder laufen sie sehr gut. Es ist ihm ein großes Anliegen, dass die Projekte auch ohne seine direkte Beteiligung weiterlaufen. Regelmäßig ist er in Kontakt mit den verantwortlichen Franziskanerbrüdern vor Ort. 30 26 32 28

Wunden verbinden Franziskus von Assisi in der Nachfolge Christi Thomas von Celano

TEXT: Thomas von Celano | BILD: Pedro da Silva Pinheiro ofm Wunden verbinden Franziskus von Assisi in der Nachfolge Christi Quelle: Aus der ersten Lebensbeschreibung von Thomas von Celano, Franziskus-Quellen 256 Quelle: Aus dem Mirakelbuch von Thomas von Celano, Franziskus-Quellen S. 426 »Zwei Jahre bevor Franziskus seine Seele dem Himmel zurückgab, weilte er in einer Einsiedelei, die nach dem Ort, wo sie gelegen ist, Alverna heißt. Da sah er in einem Gottesgesicht einen Mann über sich schweben, einem Seraph ähnlich, der sechs Flügel hatte und mit ausgespannten Händen und aneinandergelegten Füßen ans Kreuz geheftet war. Zwei Flügel erhoben sich über seinem Haupt, zwei waren zum Fluge ausgespannt, zwei endlich verhüllten den ganzen Körper. Als der selige Diener des Allerhöchsten dies schaute, wurde er von größtem Staunen erfüllt, konnte sich aber nicht erklären, was diese Vision bedeuten sollte. Große Wonne durchdrang ihn, und noch tiefere Freude erfasste ihn über den gütigen und gnadenvollen Blick, mit dem er sich vom Seraph angeschaut sah, dessen Schönheit unbeschreiblich war; doch sein Hängen am Kreuz und die Bitterkeit seines Leidens erfüllte ihn ganz mit Entsetzen. Und so erhob er sich, sozusagen traurig und freudig zugleich, und Wonne und Betrübnis wechselten in ihm miteinander. Er dachte voll Unruhe nach, was diese Vision wohl bedeute, und um seinen innersten Sinn zu erfassen, ängstigte sich sein Geist gar sehr. Während er sich verstandesmäßig über die Vision nicht klar zu werden vermochte und das Neuartige an ihr stark sein Herz beschäftigte, begannen an seinen Händen und Füßen die Male der Nägel sichtbar zu werden, in derselben Weise, wie er es kurz zuvor an dem gekreuzigten Mann über sich gesehen hatte. Seine Hände und Füße schienen in ihrer Mitte mit Nägeln durchbohrt, wobei die Köpfe der Nägel an den Händen auf der inneren und an den Füßen auf der oberen Fläche erschienen, während ihre Spitzen sich an der Gegenseite zeigten … Ferner war die rechte Seite wie mit einer Lanze durchbohrt und zeigte eine vernarbte Wunde, aus der häufig Blut floss, so dass seine Kutte und Hose oftmals mit heiligem Blut getränkt wurden.« »Der neue Mensch Franziskus wurde durch ein neues und Staunen erregendes Wunder berühmt. Mit einem einzig dastehenden Privileg, das in vergangenen Jahrhunderten nicht gewährt worden war, erschien er ausgezeichnet, nämlich geschmückt mit den heiligen Wundmalen und in diesem Todesleibe gleichgestaltet dem Leibe des Gekreuzigten. Wie sein Geist im Innern den gekreuzigten Herrn angezogen hatte, ebenso sollte sein ganzer Leib das Kreuz Christi auch äußerlich anziehen …« 6 | 7

Für Franziskus ist das Leiden Christi der höchste Ausdruck der demütigen Liebe, weil es die höchste Selbsthingabe ist. Franziskus öffnete sich mit Leib und Seele für das Geheimnis des Kreuzes. Er hat die Passion in seine menschliche Natur integriert. Er war von der selbstlosen Liebe beseelt, einer Liebe, die sich selbst vergisst und in allem dem gekreuzigten Christus gleich sein will. Für ihn ist der am Kreuz hängende Christus ein Ausdruck äußerster Armut. Das gibt ihm eine neue Perspektive auf das Leben. Indem er das Kreuz in seinem Herzen trägt, verändert sich sein Leben. Dinge, Menschen, Ereignisse: Alles erscheint ihm in einem neuen Licht. Das Kreuz wurde zum Maßstab für sein inneres Leben: der Tod für die Dinge der Welt, die Geburt einer neuen Wertschätzung der Welt. Die weltliche Bequemlichkeit, der Traum der Jugend, ist für ihn nun zum Kreuz geworden. Er ist ganz mit der Passion des Meisters verbunden. Er überwindet die Selbstbezogenheit seines Lebens, und das Kreuz wird zum starken Argument für das Mindersein. Der heilige Bonaventura sagt: »Das große, wunderbare Geheimnis des Kreuzes wurde diesem armen Jünger Christi auf so vollkommene Weise offenbart, dass er sein ganzes Leben lang nur den Spuren des Gekreuzigten folgte, nur des Kreuzes Wonnen kostete und nur die Herrlichkeit des Kreuzes predigte!« (Franziskus-Quellen 812). Vom Kreuz geprägt Für die franziskanische Spiritualität ist das Kreuz ein offensichtliches Zeichen von Mission: sich selbst und die Welt zu verändern. Es ist der Weg, dem unsere Füße folgen. Das Christentum setzt uns ein Kreuz auf die Brust. Es kann nicht nur ein glänzendes Amulett aus Silber oder Gold sein, sondern ist eine anspruchsvolle Realität der Nachfolge. Franziskus versteht diese glorreiche Macht des Kreuzes gut aus der Perspektive des Kreuzbildes von San Damiano: In die Mystik des Kreuzes einzutreten bedeutet, darin die Verherrlichung zu sehen! Franz von Assisi wurde stigmatisiert, und die Stigmata sind wie die Zeichen des Gekreuzigten. Ein erneuerter Mensch wird auf einem Weg mit großen Herausforderungen und – warum nicht – mit Leiden geformt. Die Liebe hinterlässt ihre Spuren, und die Liebe hat ihre Herrlichkeit und ihr Kreuz, ihre Blüten und ihren Schmerz. Franziskus’ Lebensweise war es, das Evangelium in der Weise des Gekreuzigten zu leben. Er prägte diese Wahrheit seiner Seele ein, und sie wurde seinem Körper aufgeprägt. Die Stigmatisierung von Franziskus fand zwanzig Jahre nach seiner Bekehrung statt, aber es waren zwanzig Jahre der Nachfolge und der leidenschaftlichen Nachahmung. Die Stigmatisierung ist eine Erneuerung, die von einem zurückgelegten Weg herrührt; sie ist nicht etwas Imaginäres, sondern etwas Reales, als wenn man eine außergewöhnliche Verwandlung erlebt. Erneuerung ist die Kraft des Menschen, der sich an nichts mehr gebunden fühlt, der frei ist gegenüber der Natur und dem Gesetz, der aber etwas zur menschlichen Identität beiträgt. Franziskus hat sich der Welt mit den Zeichen der Geschwisterlichkeit präsentiert, die aus einer christologischen Erfahrung stammen, Tag für Tag. Im Lobgesang der Kreaturen hat er die Erde und die Sterne, das Männliche und das Weibliche, das Wilde und das Zivilisierte vereint. Sein Leib ist der Leib der geDas Wunder von La Verna 800 Jahre Stigmata des Franziskus von Assisi TEXT: Vitorio Mazzuco ofm | FOTOS: Benedito Geraldo Gomes Gonçalves ofm, privat Im Jahr 2024 haben wir die Gelegenheit, ein weiteres franziskanisches Jubiläum zu feiern: acht Jahrhunderte seit der Einprägung der Stigmata in den Körper des Heiligen Franz von Assisi. Die folgenden Überlegungen sind eine Annäherung, dieses Ereignis zu verstehen, ohne den ganzen Reichtum auszuschöpfen, den dieses Thema während des gesamten Jubiläums hervorbringen wird. 8

schwisterlichen Existenz, sodass er das Natürliche und das Geistige, das Barbarische und das Wohlerzogene, den Mann und die Frau integrieren kann. Franz von Assisi identifiziert sich nicht mehr mit der Rolle, die sein Vater und die Gesellschaft für ihn wollten, sondern mit der neuen Rolle, der Welt den immer neuen Weg der Frohen Botschaft zu bringen von dem, der in der Krippe geboren und am Kreuz vollendet wurde: den totalen Weg der radikalen Veränderung. Die Stigmata des Franziskus sind konkrete Zeichen und keine Einbildung. Der Christus, der ihn inspiriert hat, wurde nicht stigmatisiert, sondern gekreuzigt! Die Texte der Evangelien erzählen uns mehr von der Passion Jesu als von seiner Geburt. Franz von Assisi muss in der Gesamtheit seines Lebens gesehen werden und nicht in der isolierten Tatsache seiner Stigmatisierung. Denn die Stigmata sind die Übereinstimmung eines Weges der Heiligkeit, eines Ordensgründers, eines Propheten in einer neuen Welt. Die Stigmata erzählen das Leben des Franziskus von Anfang bis Ende. Er ist der neue Mensch in einer alternden Welt von gestern und heute. Er befreit die damalige Welt von der Angst, von der Hinwendung zu Egoismus, Ehrgeiz und Gier, von der Fixierung auf den Besitz, von den Privilegien des Adels und der sozialen Kasten und macht die Geschwisterlichkeit nicht nur zu einem Weg des Zusammenlebens der Brüder, sondern zu einem Weg des Zusammenlebens auf 9

den Straßen der Welt. Er ließ Christus wieder auf den gewöhnlichen Wegen des Lebens wandeln, und dieser Christus, der einst auf den Straßen Palästinas unterwegs war, liebte so sehr, dass er gekreuzigt wurde. Leiden und vollkommene Freude! Verwandlung und blutsverwandte Verbundenheit mit dem Geliebten! Der Körper von Franziskus war von der zentralen Bedeutung seines Strebens geprägt: wie Christus zu sein. Vollkommene Liebe Der Leib des Franz von Assisi ist nicht mehr der seine, sondern der der Liebe! Es ist ein durch den Willen der Liebe verklärter Körper! Jetzt ist es nicht mehr ein Körper in Form menschlichen Fleisches, sondern die Gesamtheit eines Lebens: Es ist der Leib Christi! Er ist ein ritualisierter und heiliger Körper. Er kann nun die Dramatisierung einer Inkarnation zeigen: Von Greccio bis bis zum Berg zeigt dieser Leib, was die Liebe in ihm geformt hat. In Greccio hat Franziskus die Geburtsszene inszeniert, in La Verna hat Franziskus seine Identifikation mit dem fleischgewordenen Wort verbunden. Willst du lieben? Dann berühre das Wort in seiner natürlichsten und liebevollsten Erscheinungsform. Es geht nicht mehr nur darum, das Wort zu hören, sondern das Wort in deinem Blut zu haben. Das Wort ist Fleisch geworden, weil das Fleisch zur Liebe wurde. Es ist das ausdrucksvolle Wort in einem ausdrucksvollen Körper. Jetzt hat der Körper ewige Bedeutung, weil er die Zeichen der Liebe trägt. Der stigmatisierte Franziskus ist ein Körper, der von einem tiefen Verlangen durchdrungen ist. Es ist der Leib, der zum Träger des Willens des Herrn geworden ist, so wie Maria ausruft: »Mir geschehe, was du willst!« (Lk 10,38). Maria hat uns das Kind, den Immanuel, den Gott mit uns, geschenkt. Franziskus schenkte uns den armen, demütigen und gekreuzigten Christus. Greccio und La Verna treffen sich in der gleichen Wahrheit. Dieser Leib brennt und spricht! Dieser Leib hat Begegnungen und Brüche erlebt. Er hat all seine Besitztümer aufgegeben, um die Armut zu umarmen. Er hat seine ganze Zuneigung gegeben, um den Aussätzigen zu umarmen. Er gab seine ganze Reinheit des Herzens, um die Geschwisterlichkeit zu umarmen. Er hat sein ganzes Gehör dem Gekreuzigten von San Damiano geschenkt, der um den Wiederaufbau des Hauses bat. Er hat dem Evangelium einen neuen Anfang gegeben, indem er es in eine Lebensweise verwandelt hat. Der Leib als Lebenszeugnis Der stigmatisierte Leib von Franziskus trägt die Spuren seines gesamten Lebens, das von Armut, Gehorsam und Reinheit des Herzens geprägt war. Am Leib des Franziskus erscheint die verzehrende Liebe zu Gott und für Gott, eine Liebe, die fähig ist, die Geschwisterlichkeit aller Ausgegrenzten anzunehmen. Er hat die sozialen Stigmata seiner Zeit auf sich genommen. Er war kein Sündenbock, sondern ein geschwisterlicher Reformer einer unbeschwerten Art, das Evangelium zu leben. Der stigmatisierte Leib des Franziskus trug die Verantwortung, eine Bruderschaft zu leiten, die an ihn glaubte und keinen Ort hatte, an den sie ihr Haupt legen konnte. Die ersten Brüder waren Pilger und Wanderer und lebten die Schönheit des Daseins in der Welt als vorübergehende Klausur. In dieser Welt fanden sie die Schöpfung, die sie dem Schöpfer zurückgaben, weil sie in ihr die Quelle der Schönheit, des Lobes und der Gnade sahen. Deshalb können sie von der Schöpfung als einer familiären Blutsverwandtschaft sprechen, einem universellen Band, das sie berechtigt, von allen Geschöpfen als Schwestern und Brüder zu sprechen. Der stigmatisierte äußere Leib des Franziskus war mit seinem inneren Leib, seinem inneren Leben, das von der Liebe zum Gekreuzigten geprägt war, verquickt. Das ist ein klarer Beweis: Er, der das ganze Werk Gottes mit Liebe berührte, wurde von Gott selbst mit großer Liebe berührt. Nicht körperliche Schmerzen, sondern Lebensgefühle, die durch die Läuterung der radikalsten Hingabe an die Liebe gehen. Franziskus hat den Schmerz nicht erlitten, sondern die Liebe seinen Körper prägen lassen. Er und die Liebe sind eins geworden! Tiefe Gotteserfahrung Mein großes Erlebnis war die Begegnung mit buddhistischen Mönchen im Mai 1989 bei einer meditativen Einkehr auf dem Berg, auf dem Franziskus die Wundmale empfing. Auf einem höher gelegenen Teil des Berges La Verna hatte ich einen unvergesslichen Dialog mit einem dieser Mönche, der aus den Bergen Tibets kam. Mein Gespräch mit ihm begann mit der Frage: »Warum kommt ein buddhistischer Mönch auf den La Verna?« Und er antwortete: »Wir sind aus zwei Gründen hier: Erstens, weil dieser Ort heilig ist, und zweitens, weil Franz von Assisi der erleuchtetste christliche Mensch im Westen ist.« Und der Dialog wurde mit einer weiteren Frage fortgesetzt: »Was bedeuten die Stigmata für einen Buddhisten?« Der Mönch sagte, er habe in den franziskanischen Quellen gelesen, dass ein Seraphim mit dem Antlitz Jesu Christi Franziskus von außen nach innen gezeichnet habe. Und dass für sie, die auch stigmatisierte Mönche haben, die Zeichen von innen nach außen kommen. Sie sind leuchtende Ausbrüche von Heiligkeit, die durch das Herz und die Adern laufen und an den Extremitäten 10

des Körpers explodieren. Geist, Herz, Hände und Füße sind Verbindungen mit der Welt von innen nach außen. Und der Mönch fragte: »Warum habt ihr im Westen so viele Krankheiten, die von der Wirbelsäule, dem Herzen, den Tumoren im Gehirn, den Brüsten und den Knochen ausgehen? Weil ihr die Energien der Liebe und des Glaubens blockiert. Ihr müsst die affektive und spirituelle Kraft mehr fließen lassen. Krankheiten sind Blockaden von Energien. Heiligkeit hat mit der Gesundheit des Daseins zu tun. Franziskus hat, obwohl er an den Augen, an den Knochen, an Körper und Seele krank war, die göttliche Kraft aus sich herausströmen lassen.« Diese Erfahrung, einer anderen Kultur zu begegnen und zuzuhören, hat meine Erfahrungen auf dem Berg La Verna geprägt und erweitert. Ebenbild Christi Ich schließe meine Überlegungen zu den Wundmalen des Heiligen Franziskus mit einem Text, der für das Gedenken dieses Jubiläums notwendig ist. Nach der Quellenschrift der Fioretti gibt es einen Anhang mit dem Titel: »Über die heiligen Wundmale des heiligen Franziskus und ihre Betrachtungen.« Franziskus sagt zu Bruder Leo: »Denn schon nach wenigen Tagen wird Gott so große und staunenswerte Dinge auf diesem Berg vollbringen, dass sich die ganze Welt darüber wundern wird. Er wird einige so neue Dinge vollbringen, wie er sie noch nie an irgendeinem Geschöpf in dieser Welt vollbracht hat.« Und der Heilige betete so: »›Mein Herr Jesus Christus, ich bitte dich, erweise mir zwei Gnaden, bevor ich sterbe. Die erste ist, dass ich zu Lebzeiten in meiner Seele und in meinem Körper, so weit das möglich ist, jenen Schmerz erleide, den du, süßer Jesus, in der Stunde deines bittersten Leidens ertragen hast. Die zweite ist, dass ich in meinem Herzen, so weit das möglich ist, jene unermessliche Liebe fühle, von der du, liebster Sohn Gottes, entflammt warst, um so großes Leiden für uns Sünder gerne auf dich zu nehmen.‹ Während er lange in dieser Bitte verharrte, begriff er, dass ihn Gott erhören würde und dass ihm in Kürze gewährt werden sollte, so viel von diesen Dingen zu empfinden, als dies für ein reines Geschöpf überhaupt möglich ist. Nachdem der heilige Franziskus dieses Versprechen erhalten hatte, fing er an, mit größter Hingabe das Leiden Christi und seine grenzenlose Liebe zu betrachten. So sehr nahm in ihm die Glut der Hingabe zu, dass er sich aus Liebe und Mitleid ganz in Jesus verwandelte. Während er nun in dieser Betrachtung verweilte und innerlich entflammte, sah er am selben Morgen vom Himmel her einen Seraph mit sechs leuchtenden und feurigen Flügeln kommen. Dieser Seraph näherte sich in schnellem Flug dem heiligen Franziskus, sodass er klar erkennen konnte, dass er in sich das Bildnis eines gekreuzigten Mannes trug. Die Flügel aber waren so angeordnet, dass zwei Flügel sich über sein Haupt breiteten, zwei sich zum Flug ausbreiteten und die anderen zwei den ganzen Körper bedeckten. (…) Während er noch voller Verwunderung dastand, wurde ihm von dem Erscheinenden geoffenbart, die Vision sei ihm durch Gottes Vorsehung deshalb in dieser Gestalt gezeigt worden, damit er verstünde, dass er nicht durch ein leibliches Martyrium, sondern durch das Entflammen des Geistes vollkommen in das sichtbare Abbild des gekreuzigten Christus verwandelt werden müsse. Durch diese wunderbare Erscheinung sah der ganze Berg La Verna aus, wie wenn er in hell leuchtender Feuersbrunst aufloderte, die ringsum alle Berge und Täler strahlend erleuchtete, als ob die Sonne selbst auf der Erde wäre.« (FranziskusQuellen 1456–1457). Mit diesem aussagekräftigen Text aus den franziskanischen Quellen schließe ich meine Betrachtungen, um das erleuchtete und heilige Zeichen zu zeigen, das in einem menschlichen Körper Gestalt angenommen hat. Der Autor Vitorio Mazzuco gehört zur brasilianischen Franziskanerprovinz von der Unbefleckten Empfängnis. Als Theologe hat er sich in der Franziskusforschung spezialisiert und als solcher ist er in Aus- und Weiterbildung der Brüder tätig. Außerdem engagiert er sich im Bereich Evangelisierung der Ordensprovinz. Übersetzung aus dem Portugiesischen: Augustinus Diekmann ofm 11

In demselben Jahr, in dem die franziskanische Familie den 800. Jahrestag der Wundmale des heiligen Franziskus feiert, begeht SEFRAS – der Franziskanische Solidaritätsdienst – sein 24-jähriges Bestehen, mit der Aufgabe, die Schwächsten in der brasilianischen Gesellschaft zu schützen und ihre Rechte einzufordern. TEXT: Dr. Rosângela Helena Pezoti | FOTO: SEFRAS Das Logo von SEFRAS, das sowohl dessen Werte als auch Mission wiedergibt, ist von den Wunden an den Händen Jesu inspiriert: ein Blutstropfen kommt aus einer verwundeten Hand und die andere Hand nimmt ihn auf – als ob sich beide Hände begrüßen würden und sich in ihrem Leid verbunden fühlen. Entworfen wurde unser Logo von einer Person, der die Franziskaner in einer schwierigen Lebenslage zur Seite gestanden haben. Diese Geste der Begrüßung wiederholt sich jeden Tag in den Häusern, in denen sich Franziskaner um Obdachlose, Einwanderer und Flüchtlinge sowie Kinder, Jugendliche, ältere Menschen und HIV/AIDS-Betroffene kümmern. Hunger leiden In der heutigen Zeit ist die Wunde, unter der viele Menschen in Brasilien zu leiden haben, der Hunger. Manoel R. ist einer von ihnen. Er lebt in São Paulo, ist 66 Jahre alt und seit vielen Jahrzehnten obdachlos. Zeitweise verrichtet er kleine Arbeiten, um zu überleben. Manoel lebte in Notunterkünften Hände reichen Franziskanischer Solidaritätsdienst in Brasilien 12

Familien, Kinder und ältere Menschen unabhängig vom Geschlecht, die weder ein Dach über dem Kopf noch einen Ort haben, an dem sie ihr Hab und Gut aufbewahren und in Ruhe schlafen können. 90 Prozent von ihnen können lesen und schreiben, und 68 Prozent haben bereits ein gesichertes Beschäftigungsverhältnis. Das sind Menschen, die eine Chance brauchen, um aus der Obdachlosigkeit herauszukommen. Sorge um Kinder Gewalt ist eine weitere offene Wunde in Brasilien, die SEFRAS täglich herausfordert. Juliana, 11 Jahre alt, ist eines der Kinder, die in der franziskanischen Einrichtung in der Stadt Duque de Caxias, Rio de Janeiro, betreut werden. Dort kümmern sich die Franziskaner um Kinder in einer Region, in der Drogenhandel und Zusammenstöße mit der Polizei ein hohes Maß an Gewalt verursachen. Wie Juliana leben Hunderte von Kindern und Jugendlichen mit Schießereien, dem Verlust von Familie und Freunden und der Angst, auf die Straße zu gehen. Das alles wirkt sich mit erheblichen Defiziten auf ihre Schulbildung und ihre Entwicklungsmöglichkeiten aus. Abgesehen von der strukturellen Gewalt, die Julianas Leben beeinflusst, lebte sie bis zu ihrem zehnten Lebensjahr bei ihrer Mutter und ihren Geschwistern. Sie hatte keine Geburtsurkunde oder Ausweispapiere, war nie in der Schule und hat keine Impfungen erhalten. Ihre Mutter, die unter schweren psychischen Problemen leidet, war nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen, geschweige denn für ihre Tochter. Nach wiederholten Anzeigen von Nachbarn beim Jugendamt zog Juliana zu ihrer Großmutter, die sich an SEFRAS wandte, um sich beraten zu lassen. Sie wurde an die Justiz verwiesen, damit Juliana ihre Geburtsurkunde erhält. Danach konnte das Mädchen oder mietete Zimmer in Pensionen. Er verlor allmählich den Kontakt zu seiner Familie. In den letzten Jahren kam er regelmäßig als Gast zur Suppenküche (»Chá do Padre«) von SEFRAS. Die Essensvergabe findet im Zentrum der Millionenstadt São Paulo statt. Dort bekommen obdachlose Menschen eine Mahlzeit, können duschen und werden durch psychologische Betreuung oder sozialpädagogische Aktivitäten betreut. Während einer dieser Sitzungen wurde Manoel geraten, sich nach einer finanziellen Unterstützung umzusehen, damit er von der Straße wegkommt. Es war ein langer Weg trotz Unterstützung von SEFRAS, bis Manoel die Straße verlassen und ein Zimmer in einer Pension mieten konnte. Das Geld reicht jedoch immer noch nicht aus, um Medikamente, Lebensmittel, Kleidung und andere Ausgaben zu bezahlen, sodass Manoel weiterhin auf die Suppenküche angewiesen ist. Jeden Tag bekommt er Frühstück, Mittag- und Abendessen, und jede Woche nimmt er an einer Seniorengruppe teil, deren Mitglieder teilweise noch obdachlos sind oder gerade versuchen, das Leben auf den Straßen zu verlassen. Bei dem Gruppentreffen wiederholt er immer, dass er ohne die Suppenküche hungern würde. Die staatliche Unterstützung, die er seit Kurzem erhält, reicht nicht für die Grundversorgung aus. Manoel hungert nicht mehr – aber weitere 33 Millionen Brasilianer, die jeden Tag nicht ausreichend zu essen oder sogar gar nichts auf ihren Tellern haben. Es sind nicht nur Obdachlose, die bei SEFRAS dreimal täglich Essen bekommen. Jeden Tag gibt SEFRAS 4.000 Mahlzeiten für alle betreuten Personen aus. Und es kommen jeden Tag mehr Menschen zu den Hilfsstationen. Denn die wirtschaftliche und soziale Krise während der COVID-19-Pandemie und jetzt während des Kriegs zwischen Russland und der Ukraine hat die Lebenshaltungskosten in Brasilien drastisch erhöht. In Brasilien sind nach neuesten Untersuchungen rund 227.000 Menschen obdachlos, was einem Anstieg von 935 Prozent innerhalb von 10 Jahren entspricht. Es handelt sich um ordnungsgemäß von der öffentlichen Gesundheitsvorsorge medizinisch versorgt werden und entsprechend altersbedingte Impfungen erhalten und letztendlich die Schule besuchen. Leider ist Juliana nicht das einzige Kind, dem seine Rechte in Brasilien verweigert werden. Laut einem Bericht mit dem Titel »Scenario of Childhood and Adolescence in Brazil 2023« leben hier 10,6 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 14 Jahren in extremer Armut, mit einem monatlichen ProKopf-Haushaltseinkommen von höchstens einem Viertel des Mindestlohns, was ungefähr 65 Euro entspricht. Diese Zahl umfasst 24,1 Prozent der Menschen in der Altersgruppe 0 bis 14 und ist im Vergleich zur Erhebung im Jahr 2020 um 38 Prozent gestiegen. Diese Kinder und Jugendlichen leiden unter dem fehlenden Zugang zu Bildung und zur Gesundheitsversorgung und leiden unter Kinderarbeit und sexueller Ausbeutung. Für diese Situation und so viele andere, die täglich bei SEFRAS auftreten, ist Fürsorge von grundlegender Bedeutung und impliziert ein liebevolles Handeln: nicht nur bezüglich materieller Bedürfnisse, sondern für alle Dimensionen des menschlichen Lebens. Nach Leonardo Boff (brasilianischer Befreiungstheologe) ist »Fürsorge mehr als eine Handlung; sie ist eine Haltung. Daher umfasst sie mehr als nur einen Moment der Aufmerksamkeit. Sie stellt eine Haltung der Beschäftigung, der Sorge, der Verantwortlichkeit und der affektiven Beteiligung am anderen dar«. Es ist die Fürsorge, die stärkt, die Wunden heilt, die das Lächeln und die Hoffnung wiederherstellt. Sie mobilisiert, bringt Menschen zusammen und vermenschlicht sie, und sie kann neue Formen des Lebens und des brüderlichen Zusammenlebens schaffen. Die Autorin Rosângela Helena Pezoti hat in Sozialwissenschaften an der Päpstlichen Katholischen Universität in São Paulo, Brasilien, promoviert. Sie koordiniert heute den Bereich politische Soziologie beim »Franziskanischen Solidaritätsdienst« (SEFRAS) Übersetzung aus dem Portugiesischen: Márcia Santos Sant’Ana 13

Während seines 40-tägigen Fastens auf dem Berg La Verna im Jahr 1224 drückt Franziskus seinen Wunsch aus, sich voll und ganz mit Christus zu identifizieren. Er bittet darum, nicht nur den Schmerz Jesu zu fühlen, sondern auch den Grund und die Motivation für diesen Schmerz, nämlich die Liebe Jesu zur ganzen Menschheit. In der heutigen Welt finden wir eine schmerzhafte Situation vor, die sich in der globalen Spaltung durch Kriege, Klimawandel und die allgemeine Zunahme von Armut ausdrückt und die vielerorts große Migrations- und Fluchtbewegungen verursacht. Die Schmerzen, die wir in Bolivien erleiden, sind ge- kennzeichnet von einer weit verbreiteten Korruption, bei der die Justiz von der Regierung manipuliert und missbraucht wird, begleitet von einer Zunahme des Drogenhandels und des Drogenschmuggels. Wir sind außerdem Zeugen einer ernsthaften Zerstörung der Naturschutzgebiete und der ausgewiesenen Stammesgebiete der Indigenen durch die Ausweitung von landwirtschaftlichen Flächen. Diese Flächen dienen dann hauptsächlich dem Kokaanbau und weiteren Monokulturen von Großgrundbesitzern. Verheerend ist daneben auch der Raubbau an der Natur durch den Abbau von Rohstoffen – sei es durch die Lithiumgewinnung ohne Rücksicht auf die Erhaltung der Natur oder durch das illegale und mit giftigen Substanzen verbundene Goldschürfen. Es macht traurig, wenn man außerdem sieht, in welcher Menge Holz aus dem Urwald geschafft wird. Es gibt zwar festgelegte Höchstgrenzen, aber niemand kontrolliert sie. Nach dem Konflikt von 2019 im Rahmen der Präsidentschaftswahl und der Rückkehr der MAS (Movimiento Al Socialismo) in die Regierung erleben wir interne Auseinandersetzungen um die legitime Vertretung innerhalb der Partei. Sowohl der derzeitige Präsident Luis Arce als auch der ehemalige Präsident Evo Morales haben angekündigt, bei den nächsten Wahlen im Jahr 2025 zu kandidieren. Armut trotz Reichtum Bolivien ist ein Land mit vielen natürlichen Reichtümern aufgrund seiner unterschiedlichen Klimazonen, die eine große Artenvielfalt in Flora und Fauna begünstigen. Dazu kommen Rohstoffe wie Gold und Silber, Zinn, Erz, Lithium, Erdgas und andere. Die verschiedenen Regierungen, zuerst in den Militärdiktaturen und dann in der demokratischen Ära, haben jedoch die Nutzung dieser Ressourcen nicht nachhaltig entwickelt. Sie haben sich Option für die Armen Soziales Engagement in Bolivien auf den Verkauf der Rohstoffe und Schürfrechte an internationale Konzerne beschränkt – mit dem Ziel des unmittelbaren Gewinns. Durch Änderung der Verträge, die die MAS vorgenommen hat, konnte immerhin die Schaffung einiger Fonds ermöglicht werden, mit denen bestimmte Sozialleistungen finanziert werden. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt jedoch ohne nennenswerte Sozialleistungen vom Verkauf verschiedener Produkte auf der Straße. Die Lösung liegt in einer Veränderung der politischen Strukturen, die eine stärkere Demokratisierung des Staates inklusive Gewaltenteilung ermöglichen sowie eine Verbesserung des staatlichen Produktions- und Import-/Exportsystems, das wiederum zu einer besseren Verteilung des Wohlstands führt. Hilfe durch Franziskaner Die Aktivitäten der Franziskanischen Familie (FFB) und der Franziskanischen Bewegung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung (JPIC) helfen hier mit konkreten Projekten. Es liegt auf der Hand, dass strukturelle Lösungen von der Regierung und den politischen und sozialen Institutionen abhängen, die die notwendigen Veränderungen umsetzen. Daher ist das Engagement von FFB und JPIC eine wichtige Arbeit, die den Raum für Veränderungen ermöglicht. In diesem Sinne ist eines unserer Tätigkeitsfelder die Vermittlung menschlicher, christlicher und franziskanischer Werte in den verschiedenen Bildungseinheiten. Im Rahmen der Förderung des sozialen Bewusstseins und angesichts der oben erwähnten Korruption führen wir einen jährlichen »Tag der Ehrlichkeit« durch, der sich seit 20 Jahren mit verschiedenen sozialen Themen befasst, wie Bestechung, Bildung, Gesundheit, Politik und im Jahr 2023 mit Wirtschaft. TEXT: Carmelo Galdóz ofm|PLAKAT: JPIC Bolivien 14

Im Hinblick auf soziale Polarisierung und gewaltsame Konflikte setzen wir uns für die Verwirklichung des Tages des »Geistes von Assisi« ein und bemühen uns um das Engagement aller Kirchen und Religionen für einen Frieden auf der Grundlage der Gerechtigkeit, den Kampf gegen Menschenhandel und Schleuserkriminalität und den Beistand im Migrationskonflikt. Wir führen natürlich auch soziale Projekte durch, wie Suppenküchen, Gesundheitsstationen und andere Hilfen für Bedürftige und Benachteiligte. Wir entwickelten mehrere Projekte, um die Lebensbedingungen bestimmter sozialer Gruppen zu verbessern. Ein großes und wichtiges Projekt ist die Gründung einer Genossenschaft der Sammler und Recycler von verwertbaren Abfällen, die täglich durch die Straßen von Cochabamba ziehen. Dieser Zusammenschluss ermöglicht es ihnen, ihre Arbeit besser zu koordinieren, gemeinsam bessere Verkaufspreise zu erzielen und sich gegenseitig zu unterstützen. Ein weiteres produktives Projekt ist die Förderung einer Gruppe von Frauen, die ihr tägliches Brot selbst herstellen und vermarkten, was ihnen und ihren Familien sowie der Bevölkerung des Umfelds, in dem sie arbeiten, zugutekommt. Es gibt mehrere Wiederaufforstungsprojekte und die Förderung von Familiengärten, die – neben der Verbesserung der Umwelt und der Nutzung natürlicher Ressourcen – Vorteile für die Familien, die sich die Arbeit teilen, ermöglichen. Mit unserem Engagement hoffen wir, Boliviens Reichtum gerecht auf alle Menschen zu verteilen, Armut und Elend zu verringern und so Schmerz durch Liebe zu lindern. Der Autor Carmelo Galdóz ist Beauftragter für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung der Franziskanerprovinz in Bolivien. Übersetzung aus dem Spanischen: Pia Wohlgemuth »Ehrlichkeit in der Wirtschaft, sozial, ökologisch, moralisch.« »Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen.« (2 Kor 8,9) 15

Dem Heiligen begegnen Der Wallfahrtsort Canindé in Brasilien »Der Ort, an dem die Wallfahrtsstätte Canindé errichtet wurde, ist für die Pilger heilig. Nicht nur weil Franz von Assisi dort Menschen im Namen Gottes zusammenbringt, sondern weil der Heilige, der sich den Gläubigen offenbart, lebendig ist. Er bestätigt nicht nur seine Anwesenheit dort, sondern auch die Tatsache, dass der Ort ihn für diese Offenbarung ausgesucht hat.« (OLIVEIRA, S. 98). ZUSAMMENSTELLUNG: Marcia Santos Sant’Ana | FOTOS: Lukas Brägelmann ofm Zusammenstellung und Übersetzung aus dem Portugiesischen: Márcia Santos Sant‘Ana Quelle: santuariodecaninde.com Zitate aus: OLIVEIRA, M. J. S. de: »Os pés e o Sagrado. A peregrinação em busca do Santo vivo em Canindé«. Fortaleza, Realce, 2001 Die Basilika »Heiliger Franziskus der Wundmale von Canindé« liegt im nordostbrasilianischen Ceará, circa 110 Kilometer von der Landeshauptstadt Fortaleza entfernt. Der Name Canindé ist indigenen Ursprungs und bezeichnet unter anderem einen Stamm (Kanindés) und eine Vogel-Art, ein Ara mit gelbem Gefieder aus dieser Gegend. Etymologisch gibt es drei Interpretationen des Namens Canindé: »dein Schoß (oder Kern)«, »dein Bett« und »dein Mantel«. Diese Formulierungen charakterisieren den Ort, der in seiner Einfachheit den seraphischen Heiligen von Assisi und Tausende von Pilgern empfängt. Canindé gilt als wichtiger Pilgerort in Brasilien und ist einer der größten franziskanischen Wallfahrtsorte der Welt, der jedes Jahr Tausende von Gläubigen aus dem ganzen Land, vor allem aus dem Norden und Nordosten, anzieht. Die Basilika, welche im gotisch-barocken Stil erbaut wurde, hat beeindruckende Ausmaße. Sie ist fast 30 Meter breit und 100 Meter lang, der Kirchturm ist 25 Meter hoch. In ihrer langen Geschichte wurde sie mehrfach umgebaut. 1796 wurde sie als Kapelle errichtet, dann als Pfarrkirche 1817 erweitert und schließlich 1925 vom Vatikan in die Rangstufe einer Basilika Minor (kleinere Basilika) erhoben. Die Ausbreitung des franziskanischen Charismas im Landesinneren von Ceará ist seit dem 16. Jahrhundert den Franziskanermissionaren, der franziskanischen Laienbewegung und den Kapuzinern zu verdanken. Mehrere Missionare wirkten in Canindé. Von 1781 bis 1800 war es José de Santa Clara Monte Falco, einer der Franziskaner, der den Bau der Kapelle des Heiligen Franziskus der Wundmale vorangetrieben hat. Die Franziskanerpräsenz erneuerte das religiöse Leben in der ganzen Region und trug dazu bei, dass das Evangelium in Canindé weitergegeben und gelebt wurde. Glauben leben In der Basilika kommen die Pilgerinnen und Pilger in einem kuttenähnlichen Gewand an, das dem Habit des heiligen Franziskus ähnelt. Manche gehen oder laufen auf den Knien, mit weit geöffneten Augen betend. Die Gläubigen zeigen hemmungslos ihre Gefühle der Freude und des Glaubens, in voller Hoffnung und Dankbarkeit, wenn sie vor der Franziskusstatue auf dem Hauptaltar der Basilika stehen. Sie beten mit gefalteten Händen, offenen Armen, auf den Kirchenbänken sitzend oder sogar liegend. Es offenbart sich in diesem Moment eine enorme Dimension des Vertrauens, die die Pilger dem heiligen Franziskus entgegenbringen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren große Wallfahrten und Feste zu Ehren des heiligen Franziskus bereits Tradition und trieben die Entwicklung dieser Stadt voran. Heute ist das Fest des heiligen Franziskus von Canindé eines der wichtigsten Ereignisse im religiösen Kalender des Nordostens. Die Veranstaltung findet auf der Praça do Romeiro statt, einem gigantischen Amphitheater unter freiem Himmel mit Platz für etwa 110.000 Menschen. Die Stadt und der Wallfahrtsort strahlen eine intensive franziskanische Spiritualität aus. Tausende von Gläubigen kommen dort hin und glauben fest an die lebendige Gegenwart des heiligen Franziskus. In der Tat ist er im Herzen eines jeden Pilgers lebendig, der an den einfachen, armen und bescheidenen Heiligen glaubt, der von den heiligen Wunden Christi betroffen ist. Magnet für Pilger Die Basilika ist ein heiliger Ort und wird deshalb von den meisten Pilgerinnen und Pilgern als erstes in der Stadt Canindé besucht. Zwischen dem 24. September und dem 4. Oktober ist der Zustrom von Pilgern am größten. Sie möchten ihren Glauben zum Ausdruck bringen und dem heiligen Franziskus, der Quelle ihres Glaubens, begegnen. Die Verehrenden gehen in der Regel bis zum Altar im Inneren der Basilika und berühren mit ihren Händen all die Szenerien, die Teil ihres Glaubens sind. Für die Pilgerinnen und Pilger ist der heilige Franziskus in seiner Basilika eine lebendige Präsenz. Laut Soares ist »der Blick, den die Pilger suchen, eng, tief verwurzelt und tröstlich. Er heilt Schmerzen und die Wunden des Lebens. Deshalb weisen sie auf den lebenden Heiligen hin, der nur für diejenigen sichtbar ist, die in seine Fußstapfen treten. Die Menschen in Canindé sehen in der Verlebendigung des Heiligen ein Zeichen des friedlichen Zusammenlebens und verstehen den Glauben als kulturellen Ausdruck. Es ist der Weg, den sie finden, um über sich selbst und über ihre eigenen Sozialstrukturen zu sprechen.« (OLIVEIRA, S. 126) 16 | 17

TEXT ZUR MITTELSEITE Nächtliche Luftaufnahme vom großen Wallfahrtsplatz in Canindé; aufgenommen am Fest des Heiligen Franziskus von den Wundmalen (19. September). Im Hintergrund links die Wallfahrtsbasilika und rechts die große Franziskusfigur.

Mittelseite

santuariodecaninde.com

TEXT: Fábio de Sousa Barbosa ofm | FOTOS: Martin Lütticke ofm; Lukas Brägelmann ofm Im Mai 1962 wurde die Pfarrei des Heiligen Franziskus von den Wundmalen in Bacabal, im Bundesstaat Maranhão, gegründet. Sie wurde in einer der ärmsten Gemeinden in Nordostbrasilien, in einem sozial schwachen Umfeld, errichtet und ist heute die zweitälteste Pfarrei in der Diözese Bacabal. Zu Beginn ihres Bestehens stand sie unter der Leitung von Francisco Pohlmann ofm, dem Erbauer der Mutterkirche, die am 31. Dezember 1962 vom damaligen emeritierten Bischof der Diözese Parnaíba (Piauí), Dom Felipe Benito Condurú Pacheco, gesegnet wurde. Am 31. Dezember 1964 übernahm der Franziskaner Eduard Albers die Leitung der Pfarrei. Als Pfarrer strukturierte er die Pfarrei um, indem Die Franziskaner kamen 1952 mit vier Missionaren aus Deutschland nach Nordostbrasilien, genauer gesagt nach Maranhão und Piauí. Sie ließen sich zunächst in São Luís, der Hauptstadt von Maranhão, und in Piripiri, im Bundesstaat Piauí, nieder. Gib nie auf! Lebendiger Glaube in Nordostbrasilien Mit der Gründung der Diözese von Bacabal im Jahr 1968 wuchs die Pfarrei bis 1977 auf 79 Gemeinden an. Heute sind es nur noch etwa 50 Gemeinden, die sich über das ländliche Gebiet erstrecken und in Regionalräten zusammengeschlossen sind, mit der Aufgabe, die Gläubigen zu leiten, zu organisieren und zu vertreten. Die deutschen Missionare erkannten früh, dass die soziale Realität im Landesinneren schneller Reaktionen bedurfte. Die extreme Armut der Bevölkerung war nicht zu übersehen und die Franziskaner waren meistens ein Dorn im Auge der lokalen Behörden, die sich lieber mit den Interessen der Großgrundbesitzer der Region verbündeten. Mangelnder Zugang zu Bildung und er den Pfarrgemeinderat, die Laienvereinigung »Legion Mariens« und die Ehe- und Familienseelsorge gründete. Im Jahr 1966 begannen die Laien mit Gebetstreffen in den Häusern der Gläubigen und mit der Erwachsenenkatechese in der Stadt. Erst im Januar 1967 wurde die regelmäßige finanzielle Unterstützung der Gemeinde Teil der Verpflichtungen der Gemeindemitglieder der Stadt. Die Pfarrer gaben in Zusammenarbeit mit den Vikaren, die in der Hauptstadt und auf dem Land arbeiteten, katechetische Seminare, organisierten in den kirchlichen Basisgemeinden die sonntäglichen Wortgottesdienste für Familien und waren verantwortlich für die Katechesen mit Kindern und Jugendlichen.

Gesundheitsversorgung, hohe Arbeitslosigkeit und andere soziale Ungerechtigkeiten waren die Folge. Dies sind einige der Stigmata, die die Bevölkerung von Bacabal auch heute noch belasten. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Identifikation der Nordostbrasilianerinnen und -brasilianer mit dem Leiden Jesu Christi und dem des heiligen Franz von Assisi verstehen. In vielen Landkonflikten setzten sich die Franziskaner für ein menschenwürdigeres Leben der brasilianischen Kleinbauern ein. Sie kämpften dafür, dass die Bauern ihre Rechte anerkannt bekamen und ihr »tägliches Brot« einigermaßen gesichert war. Bis heute gibt es Menschen in Bacabal, die in ihren einfach gebauten Häusern aus Lehm, Bambus und Stroh vor leeren Tellern sitzen und den Schmerz des Hungers fühlen müssen. Darunter leiden vor allem die Kinder, die sich körperlich und geistig nicht richtig entwickeln können, da sie oft nur einen einfachen Brei aus Maismehl und Wasser zu essen bekommen. Nahrhafte, vitaminreiche Lebensmittel, wie Obst und Gemüse, die für ein gesundes Wachstum unerlässlich sind, kennen sie nicht. Diese Situation der extremen Armut ist das Ergebnis der Korruption in Maranhão. Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft von Maranhão gehört dieser Bundesstaat zu den korruptesten Brasiliens. Die Vernachlässigung der Bedürftigen ist so gravierend, dass sie die Armen zwar nicht tötet, sie aber aus der Gesellschaft ausschließt und in eine gefährliche Lage bringt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Unterschlagung von Geldern für die Schulspeisung in den öffentlichen Schu- len von Bacabal. Lehrende, Schülerinnen und Schüler prangern oft an, dass es in den Schulen keine Mahlzeiten gibt. Einige Lehrer geben sogar Geld aus ihrer eigenen Tasche und bereiten Butterbrote für die Schülerschaft vor, damit die Kinder während des Unterrichts nicht hungern müssen. Angeblich sind auch die Bürgermeister am »VerDer Autor Fábio de Sousa Barbosa gehört als junger Franziskaner zur Ordensprovinz von Bacabal, Nordostenbrasilien. Nach einem einjährigen Sprachkurs in Deutschland setzt er in seiner Heimat das Theologiestudium fort. Übersetzung aus dem Portugiesischen: Márcia Santos Sant’Ana schwinden« von Geldern beteiligt, die für die Schulspeisung in den Schulen hätten verwendet werden sollen. Diese und viele andere Wunden kennzeichnen die benachteiligte Gesellschaft von Bacabal. Jesus wurde gekreuzigt und von einem sozialen, politischen und religiösen System verwundet, das seine Botschaft ablehnte und versuchte, ihn zu beseitigen. Die Menschen in Bacabal tragen dieses Kreuz und leiden unter den sozialen Stigmata, die häufig von korrupten Politikern verursacht werden. Ihr Leiden ist vielleicht nicht mit dem Leiden des gekreuzigten Christi vergleichbar. Trotzdem identifiziert sich die leidende Bevölkerung mit Jesus, feiert den heiligen Franziskus und das Geheimnis der Wundmale. Und das alles, ohne zu klagen. So gehen sie mit immer neuer Hoffnung durchs Leben – im Glauben an bessere Zeiten. Die Pfarrkirche des Heiligen Franziskus von den Wundmalen in Bacabal Die Prozession am Fest des Heiligen Franziskus von den Wundmalen wird zu einer Demonstration des Glaubens. Der Pfarrpatron Franziskus von den Wundmalen wird auf einem Tragaltar durch die Straßen von Bacabal begleitet. 20 | 21

In einer Welt vieler Möglichkeiten verdient jeder Mensch – auch mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen – eine Chance auf Förderung und Unterstützung. Leider ist das in Kenia nicht selbstverständlich, da Kinder mit Behinderungen oft versteckt und isoliert werden. Hoffnungsort Hilfe für kenianische Kinder mit Behinderung TEXT: Miroslav Babić ofm |FOTOS: Small Home Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen und Entwicklungsstörungen sind vielerorts in der Gesellschaft tief verwurzelt. Oft werden diese Menschen abgelehnt, benachteiligt und sozial ausgegrenzt. Sogar grundlegendste Rechte auf Bildung und Gesundheitsversorgung werden ihnen verweigert. Trotz dieser Widerstände leite ich seit 18 Jahren im Herzen Kenias, in einer bergigen, abgelegenen Gegend, die von leuchtenden Farben und fröhlichen, musikalischen Rhythmen strotzt, das ›Small Home‹, das ›Kleine Zuhause‹. Mit Stolz kann ich sagen: Es ist ein Haus der Hoffnung, in dem abgelehnte und stigmatisierte Kinder, deren Leben von Hindernissen geprägt war, leichter wieder in die Gemeinschaft eingegliedert werden. Denn wir glauben, jedes Kind – auch mit Entwicklungsstörungen – hat ein Recht auf Bildung. Deswegen fördern wir inklusive Bildung. Um dies zu erreichen, ist allerdings technische Hilfe und Unterstützung erforderlich, die leider unter hiesigen harten Bedingungen häufig fehlen. Herzlichkeit trägt Eines unserer Kinder heißt Anne: Mit dem Down-Syndrom geboren, wurde sie schon in jungen Jahren missverstanden und abgelehnt. Ihre arme Familie gab dem gesellschaftlichen Druck nach und wollte sie aufgeben. Wir konnten sie schließlich mit offenen Armen aufnehmen. Bei uns fand sie medizinische Versorgung und eine liebevolle Familie, die ihr fehlten. Anne macht augenblicklich Fortschritte beim Sprechen und im täglichen Umgang mit anderen Heimbewohnern. Auch bei Haron waren eine cerebrale Bewegungsstörung und eingeschränkte intellektuelle Fähigkeiten für ihn selbst und seine Familie eine Herausforderung. Man glaubte, seine Behinderung sei eine Schande oder eine Art Bestrafung. Tief verwurzelter Aberglaube verdrängte ihn an den Rand der Dorfgemeinschaft. Glücklicherweise hat Haron bei uns einen Platz gefunden: Er beendete erfolgreich ein besonderes Lernprogramm in der benachbarten Grundschule. Nach der 8. Klasse half ihm eine Berufsausbildung, leichtere Aufgaben selbständig zu übernehmen. Sein Erfolg und seine Freude ermutigen jetzt alle im Dorf, gegen festgefahrene Vorurteile anzukämpfen. Ein weiteres Beispiel ist Faith: Ihre Geschichte steht symbolisch für viele andere. Sie wurde auch mit cerebraler Bewegungsstörung geboren und von Anfang an abgelehnt. In einem patriarchalischen Umfeld, von Aberglauben dominiert, glaubte ihre Familie, ihre Geburt sei ein Fluch und wollte sie aussetzen. Obwohl ihre Mutter dagegen war, gab sie – eingeschüchtert von allen – schließlich nach. Aber Faith wurde nicht allein gelassen: Bei uns fand sie Hilfsbereitschaft, Verständnis und ihr neues, sicheres Zuhause. Hier erkannte sie, dass wir jenseits ihrer Behinderung ihr lauteres Herz sehen, das unglaubliche Kraft und Lebenswillen zeigt. Obwohl wegen 22

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