ihre eigene Würde bewusstgemacht. Sie entdecken ihre inneren Kräfte und die Stärke ihres Glaubens. Dies befähigt sie, ihre Lebensbedingungen durch persönliches Wachsen und soziale und gemeinschaftliche (politische) Aktionen selbst zu gestalten. Sie sind Bürgerinnen und Bürger des Glaubens und der Gesellschaft geworden. Aktuelle Herausforderungen Heute leben wir in einer veränderten Situation: Brasilien ist auf dem Weg der Demokratisierung, aber die Gesellschaft ist gespalten. Die Herausforderungen an die Kirche sind eher mehr geworden. Es gilt weiterhin, die Botschaft aus Sicht der Armen, der Ausgegrenzten, der Stigmatisierten sowie der neuen existentiellen und geographischen Peripherien zu verkünden. Die Theologie der Befreiung hat die biblischen und theologischen Grundlagen der Option für die Armen nach dem Konzil neu herausgearbeitet. Es waren viele Ordensmitglieder, Priester und Laienmissionare, die diese Option praktisch und lebensnah in den Basisgemeinschaften gelebt haben. Ihr Auftrag gilt aber auch heute unter veränderten Umständen. Es ist weiterhin notwendig, dass junge Theologen und Theologinnen durch ihre Reflexion über die Realität die Praxis der Option für die Armen stützen. Evangelikale Kirchen Die signifikante Zunahme der evangelikalen Kirchen unter der ärmeren Bevölkerung – mit ihrem Konzept, den Glauben zu leben und die Gesellschaft zu gestalten –, ist auch eine Folge des Kontaktverlustes der katholischen Kirche mit diesen Menschen und ihrem Umfeld. Sie sind besonders anfällig für die Botschaften aus den sozialen Netzwerken, die sie ohne Orientierungshilfen nicht kritisch einordnen können. Sie sind einer Flut von sozialen, kulturellen, politischen und religiösen Informationen über die sozialen Netzwerke ausgesetzt, die dort von unterschiedlichsten Institutionen, Gruppen oder Einzelpersonen präsentiert werden, um vielfach die Menschen zu manipulieren. Auch unter katholischen Vorzeichen tummeln sich viele Angebote im Internet. Darunter leider auch eine ganze Reihe, die den Glauben der Menschen durch Moralismen und Angriffe auf den Papst und kirchliche Dokumente als nicht mehr katholisch manipulieren. Deshalb ist es heute wichtiger denn je, dass wir Franziskaner und andere Ordensmitglieder sich wieder von Neuem den Menschen annähern und zu ihnen in die Städte gehen, die wir leider häufig verlassen haben. Kleine Gemeinschaften Ich selbst habe jahrelang in einer kleinen Franziskanergemeinschaft gelebt, sowohl im städtischen als auch im ländlichen Milieu. Dabei habe ich gemerkt, wie stark die einfache Tatsache, Seite an Seite dieser Menschen zu leben, die eigenen Vorstellung von Evangelisierung radikal infrage stellt. Und mir wurde bewusst, wie die Menschen andererseits unsere Gegenwart spürten. Es geht dabei nicht einfach darum, das Evangelium zu verkünden, sondern diesen Menschen gleichzeitig das Bewusstsein als Brüder und Schwestern und als Missionare zu vermitteln. Als wir die Gemeinschaft nach fünf Jahren geschlossen haben, fragten wir die Menschen, was unsere Präsenz für sie bedeutet habe. Ihre Antworten waren überraschend: »Wir haben nie erwartet, dass in diesem ›Loch‹ einmal Seminaristen (so nannten sie uns) wohnen würden und dass die Kirche so an uns denkt! Seit ihr hier wohnt, haben die Leute in der Umgebung weniger gestritten. Ihr habt immer die Dinge gemeinsam gemacht, nie einer allein. Ihr wart immer einig und habt nie unter euch gestritten.« Was aber noch beglückender gewesen ist, zeigte sich, als wir schon nicht mehr dort wohnten: Die Gemeinde hat kurze Zeit danach durch Eigeninitiative eine Kapelle gebaut und ein kleines Gemeindezentrum errichtet. Und was besonders wichtig ist: Sie haben sich als Missionarinnen Missionare vor Ort verstanden und selbst die Glaubensverbreitung in die Hand genommen. Diese Erfahrung konnte ich später auch an einem anderen Ort machen. Nach unserem Weggang sind die Menschen bis heute dort missionarisch tätig, indem sie die Familien, die neu in ihrem Wohngebiet ankommen, besuchen und den Glauben mit Gebets- und Katechesegruppen weitergeben. Heute sind daraus zwei lebendige Stadtpfarreien entstanden. Der Autor Walter Schreiber ist Mitglied der nordostbrasilianischen Franziskanerprovinz des heiligen Antonius mit Sitz in Recife. 25 Jahre hat er in kleinen Gemeinschaften am Rand verschiedener Großstädte gelebt und ist heute verantwortlich für die Ausbildung und Studien seiner Provinz. 15
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