Franziskaner Mission 3 | 2024

Befreiungsgeschichte Am vereinbarten Tag, nach kurzem Kontakt mit den UN-Mitarbeitenden, geleiten diese uns in einen freundlich eingerichteten Raum. An dem großen rechteckigen Tisch sitzen sonst vermutlich Geschäftsmänner und -frauen oder Manager in modernen Kleidern und Anzügen. Jetzt sitzen dort einige Jugendliche, Frauen und Männer in Jogginghosen und abgenutzten T-Shirts, den einzigen ihnen verbliebenen Kleidungsstücken. Schwester Sonia und ich stellen uns kurz vor. Und dann geht es überraschend schnell. Bei den meisten hat sich viel angestaut. Sofort beginnen sie deshalb zu erzählen – von der Sternstunde ihrer Befreiung, aber auch von dem vorausgegangenen Leid. »Ich habe nicht geglaubt, dass ich da nochmal rauskomme«, sagt Don Umberto (Name geändert), 61 Jahre alt, nach wie vor sichtlich bewegt von seiner »Befreiung«. Letzte Woche noch blickte er gegen die Wand seiner verdreckten Zelle, jetzt genießt er den Panoramablick aus dem 17. Stock eines eleganten, sauberen Hotels auf die Skyline von Guatemala-Stadt. Freudentränen laufen ihm immer wieder durchs Gesicht, Tränen der Erleichterung und des unfassbaren Glücks. Auch Glenda (Name geändert), eine 25-jährige Studierende, kann ihr Glück noch gar nicht fassen: »Ich hatte Angst gehabt, dass ich hier im Hotel morgens aufwache und sich alles als Traum herausstellt – und ich wieder in meiner Zelle bin.« Tomas (Name geändert), 30 Jahre alt, sitzt die seelische Achterbahnfahrt rund um seine Entlassung noch in den Knochen: »Ein Wächter befahl mir, mich zu rasieren. Das ist normalerweise ein Hinweis auf die anstehende Entlassung. Aber tagelang tat sich nichts. Ich war richtig niedergeschlagen. Dann, vier Tage später, wurde ich tatsächlich entlassen.« Auch ihm rollen Tränen der Dankbarkeit über die Wangen: »Auf diesen Tag habe ich lange gewartet.« Der Autor Frank Hartmann gehört der Deutschen Franziskanerprovinz an und lebt seit 2022 in Guatemala. Neben seiner Mitarbeit in der Pfarrseelsorge arbeitet er in der Kommission Seelsorge an Migrierenden der Ordensleutekonferenz. Am Tag vor unserer Begegnung haben Mitarbeitende mit der Gruppe erste Orientierungs-Rundgänge durch die Stadt unternommen. »Sie glauben gar nicht, wie ich das genossen habe«, strahlt eine Frau mittleren Alters, »zum ersten Mal wieder in Freiheit.« Haftbedingungen Ihre oft noch verhaltene Freude über die wieder erlangte Freiheit wird vor dem Hintergrund ihrer Passion nur allzu verständlich. Zu frisch sind die Spuren der Demütigung und der Schmerzen. In erschütternden Worten schildern die Betroffenen ihr Leid: »Als ich in die Zelle gebracht wurde, dachte ich, jetzt werde ich lebendig begraben«, berichtet Glenda schluchzend. »Wir wurden behandelt wie höchst Kriminelle und in ein Hochsicherheitsgefängnis gesteckt. Dort war es Tag und Nacht unerträglich heiß, ständig war da der Durst, Hunger. Die Zelle war ekelhaft dreckig.« Edgardo (Name geändert), ein sportlicher, junger Mann, ergänzt: »Das können Sie sich nicht vorstellen, wie das ist: Drei Jahre in einer Zelle, fünf mal fünf Meter groß, mit 18 Mitgefangenen. Das ist die Hölle.« In der Runde sitzt auch ein etwa 45-jähriger Mann, seine Augenhaut ist dunkel gerötet. An seiner Seite ist sein Sohn, 22 Jahre alt. Sie haben sich bisher kaum am Gespräch beteiligt. Plötzlich beginnt der Vater: »In unserer Haft, zwei lange Jahre, mussten wir die ganze Zeit bei Licht schlafen, nicht eine Minute wurde das Licht abgestellt.« Bewegend ist auch die Schilderung einer Katechetin. Sie wurde, schon inhaftiert, unter Druck gesetzt, ihren Pfarrer anzuzeigen. Ihre erzwungene Aussage gegen ihn wurde in den sogenannten sozialen Medien veröffentlicht. Seitdem, bricht es aus ihr hervor, seien alle Freundschaften und Beziehungen in ihrer Heimatgemeinde zerbrochen. Auch ihr Pfarrer sei ruiniert. So perfide arbeite das System! Schließlich hielt sie den Druck nicht mehr aus: »An der Wand in meiner Zelle schaute ein Nagel raus. Ich habe versucht, ihn herauszubekommen. Damit wollte ich mir die Pulsadern aufschneiden.« Sie hämmert mit der Faust auf die Pulsader der anderen Hand, während sie dies berichtet. Glaube hält über Wasser Angesichts der vielfachen psychischen Folterungen, denen die Menschen ausgesetzt waren, taucht die Frage auf, woher sie die Kraft zum Aushalten nahmen. Ich brauche diese nicht zu stellen. Ohne Ausnahme beziehen sich alle auf ihren Glauben. »Ich sah nie jemanden und sprach mit niemanden. Hätte ich nicht mit Gott reden und beten können, wäre ich verrückt geworden«, so berichtet etwa Cindy (Name geändert), eine Soziologiestudentin, über ihre Monate in Isolationshaft. »Gott hat noch etwas mit mir vor. Das hat mich am Leben gehalten«, fügt Tomas hinzu. Ganz oft habe er mit dem Finger auf die Zellenwand geschrieben: Der Herr ist mein Hirte. Selbst kleinste Strohhalme wurden ergriffen. Lucia (Name geändert), eine zierliche Frau um die 55, erzählt: »In meiner Zelle hatte ich kein Fenster, nur ein kleines Loch. Ich erinnere mich genau an diesen einen Tag. Es war der fünfte Juli, gegen vier Uhr nachmittags. Ich sah durch das Loch eine Wolke, die sah genauso aus wie die Lupita (Lupita ist die Jungfrau von Guadalupe und populärste Anrufung Mariens in Zentralamerika). Das hat mich getröstet. Für mich war das ein Zeichen des Himmels.« Bewegend ist auch das Glaubenszeugnis des 22-jährigen Mannes: »Ich habe immer fest daran geglaubt, Gott wird mich da rausholen. Als ich im Flugzeug saß, habe ich nur noch geweint. So dankbar war ich Gott.« Diese Stunde war sicher die Sternstunde ihres Lebens und Glaubens. Menschen winken aus einem Bus, nachdem sie aus einem nicaraguanischen Gefängnis entlassen wurden und Anfang September 2024 auf dem Flughafen in Guatemala-Stadt gelandet sind. 29

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