Das Amazonasgebiet besteht aus neun Ländern: Bolivien, Peru, Ecuador, Kolumbien, Venezuela, Brasilien, Guayana, Surinam und Französisch-Guayana. Es handelt sich um ein Gebiet mit einer reichen biologischen Vielfalt, in dem 20 Prozent des Süßwassers der Erde konzentriert sind. Das bedeutet Reserven an Grundwasser, Oberflächenwasser und den sogenannten fliegenden Flüssen, die als Luftströme das Klima der Erde ausgleichen. Schon die Ureinwohner dieser Länder pflegten eine enge Beziehung der Harmonie mit diesem sensiblen Ökosystem und erkannten, dass der Amazonas und das Amazonasgebiet unser gemeinsames Haus sind, das von uns allen gepflegt und respektiert werden muss. In der Amazonasregion leben etwa 400 indigene Völker mit mehr als 275 verschiedenen Sprachen, Weltanschauungen und Spiritualitäten. Alle sind miteinander verbunden und bilden ein reiches Wissensnetz, in dem die verschiedenen überlieferten Kenntnisse in ständiger Kommunikation – auch mit der Flora und Fauna dieses riesigen Gebiets – stehen. Dabei spielt der Himmel eine wichtige Rolle. Ich selbst schaue noch heute gerne in den dunklen Himmel und stelle mir vor, ich würde nach und nach Lichtpunkte im Universum erkennen, so wie meine Vorfahren. Diese Lichtpunkte nehmen in meinem Gedächtnis Gestalt an, die mir von meinen Vorfahren überliefert wurde. Es sind Erinnerungen an die Sterne, die nach einem langen Arbeitstag im Wald oder an den Ufern der Flüsse eine erholsame Nacht versprachen. Am nächsten Morgen wurden am Lagerfeuer die Träume der vergangenen Nacht zwischen Groß und Klein, Jung und Alt ausgetauscht. In den dunklen Nächten Amazoniens werden wir vom Licht einer vermeintlichen Sternschnuppe überrascht. In der Vorstellung der Amazonasbewohner sind Sternschnuppen immer ein Vorbote für etwas Gutes. Eine indigene Geschichte, die von Generation zu Generation weitergegeben wird, deren Autor aber unbekannt ist, erzählt von so einer Sternschnuppe. »Als die Welt erschaffen wurde, war der Nachthimmel praktisch leer und trüb, denn es gab nur den Mond und ein paar Sterne. Die Sterne fühlten sich einsam und verbrachten jede Nacht damit, auf die Erde zu starren. Sie sahen schöne junge ›Índios‹ in den vielen Indigenenstämmen des Amazonas und glaubten, dass diese glücklicher wären, wenn sie mit ihnen am Himmel leben würden. Die Lichtstrahlen der Sterne haben die Macht, die Bewohner der Erde zu verführen und zu verzaubern. Deshalb blinzeln sie jede Nacht und versuchen, die Aufmerksamkeit hübscher Jungen auf sich zu ziehen. Wenn der Stern merkt, dass ein ›Índio‹ zu ihm aufschaut und seine Schönheit bewundert, steigt er zur Erde hinab und verwandelt sich in eine schöne junge Frau. Mit einem Wimpernschlag wird aus dem Stern erst eine Sternschnuppe und dann eine Frau, die zu ihrem Bewunderer geht. Der ›Índio‹, der schon durch den Anblick des schönen Sterns in der Ferne verzaubert war, TEXT: Laura Vicuña Pereira Manso cf | FOTO: Daniel Lamborn / stockadobe.com verliebt sich in der Gegenwart des schönen Mädchens in sie. Beide beginnen zu reden und zu flirten. Sie verbringen den Rest der Nacht zusammen, und vor Sonnenaufgang kehrt das schöne Mädchen mit dem jungen ›Índio‹ an den Himmel zurück. Auf diese Weise füllt sich der Himmel immer mehr mit Glanz und Schönheit, denn jede Nacht wird ein Junge in die Gesellschaft eines leuchtenden Sterns am Himmel aufgenommen. Und deshalb kreuzt hin und wieder eine Sternschnuppe den Himmel über dem großen Amazonasgebiet.« Bis heute schauen verliebte Paare nach oben, um eine Sternschnuppe am Himmel zu sehen. Denn sie wollen, wie in dieser Legende, dass ihre Liebe für immer leuchtet. Die mythologischen Geschichten aus Amazonien erzählen häufig von der frohen Botschaft, die uns eine Sternschnuppe am Himmel bringt. Sie erwärmen nicht nur die Herzen von Verliebten, sondern auch von Reisenden, Träumenden und hoffnungsvollen Menschen. Viele diese Erzählungen sind Erinnerungen, die meine Geschwister und ich von unseren indigenen Verwandten gehört haben. Diese Geschichten waren immer präsent in unseren Gesprächen. Auch wir selbst geben die Erfahrungen unserer Vorfahren mündlich weiter. Leider sind viele dieser Geschichten heute verlorengegangen. Aber manchmal tauchen sie wie aus dem Nichts auf und bevölkern die Gedanken der Menschen an den Ufern der Flüsse und Bäche des Amazonas. Die Autorin Laura Vicuña Pereira Manso, indigener Abstammung, ist franziskanische Katechetenschwester und Anthropologin. Sie engagiert sich im Missionarischen Rat der Indigenen, vor allem in Rondônia, Brasilien. Übersetzung aus dem Portugiesischen: Marcia Santos Sant‘Ana Anmerkung: Im Portugiesischen hat Stern (»estrela«) eine weibliche grammatikalische Form (Genus). Die Sterne der Legende, die junge Männer von der Erde in den Himmel holen, sind also weiblich. 30 | 31
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