Franziskaner Mission 1 | 2020

Zuhören, beten, segnen, helfen! Diese vier Wörter beschreiben die Tätigkeit eines Flüchtlings- seelsorgers kurz und knapp. Verschiedene Sprachen, Kulturen und Glaubenswelten treffen aufeinander und finden doch eine Verbindung: Die Not auf der Flucht und dann die Hoffnung auf eine bessere Zukunft – allen nationalistischen und populistischen Tendenzen zum Trotz! Wir gehören auch dazu! Erfahrungen mit Menschen auf der Flucht TEXT: Jochen Winter | FOTO: Jonathan Stutz /stock.adobe.com Wenn die Menschen aus Nigeria, Erit- rea, aus der Türkei, dem Iran oder aus China im Ankunftszentrum landen, ist die Flucht noch nicht zu Ende. Denn Ankommen in Deutschland bedeutet nicht, dass man auch bleiben kann. Solange man nicht einen positiven Asyl- bescheid in den Händen hält, lebt man ein Leben auf Abruf. Das Geld ist knapp, die Gesundheit angeschlagen, das Heim- weh groß und das Essen fremd. Fast alle Bewohnerinnen und Bewohner der Einrichtung bekommen zunächst eine Ablehnung, weil sie über ein anderes europäisches Land eingereist sind. Das Leben bleibt also weiterhin im Ausnah- mezustand. Manche Medien berichten von »Messermännern« und »Kopftuchmäd- chen«, die in Massen in unser Land strömen mit dem Ziel, dieses Land einzunehmen und unsere Gesellschaft zu unterwandern. Da werden Ängste geschürt auf dem Rücken der Hilfesu- chenden. Auch in unseren Kirchenge- meinden hört man solche Stimmen. Seltener hört man positive Geschichten vom syrischen Gärtner mit dem grünen Daumen, vom liebevollen nigerianischen Familienvater oder von der gut ausgebil- deten iranischen Radiologieassistentin. Wer genau zuhört, der erfährt viel über das Leben in anderen Ländern, über Hoffnung, Überlebenswillen und Glaubenskraft, aber auch über mensch- liche Abgründe, Verzweiflung, Folter und staatliche Gewalt. Hinter den Flüchtlingszahlen verbergen sich unzäh- lige spannende und tragische Lebensge- schichten. Als Seelsorger spende ich Trost und bete oft mit den Betroffenen, egal welcher Religion sie angehören. Beson- ders vor wichtigen Terminen beim Arzt, beim Anwalt, vor der Anhörung zum Asylverfahren oder vor der Geburt eines Kindes werde ich aufgesucht mit der Bitte um Gottes Segen. Viele Christen fragen nach Bibeln in ihrer Sprache oder nach Rosenkränzen. Familien möchten ihre Neugeborenen taufen lassen. Ver- liebte möchten eine christliche Verlo- bungszeremonie. Und manchmal werde ich auch für Trauerfeiern angefragt. Und oft ist ganz konkrete Hilfe notwendig: Paul aus Nigeria hat eine zerbrochene Brille. Innocent aus Kame- run sucht einen Praktikumsplatz. Ludfie aus Marokko hat Probleme mit ihrem Anwalt. Aziza aus Georgien macht sich Sorgen um die Behandlung für ihren schwerkranken Sohn. Huiru aus China kam mit dem Fahrkarten-Automaten nicht zurecht und wurde im Bus beim Schwarzfahren erwischt. Sonntagmorgens im Gottesdienst sitzen neben mir nun viele »fremde« Menschen. Diese »Neuen« kennen unsere Sprache nicht. Meistens kennen sie auch die katholischen Riten nicht, denn sie kommen aus anderen christli- chen Traditionen. Sie ziehen sich anders an, sie verhalten sich anders. Oft bin ich ein Brückenbauer zwischen den Kultu- ren. Eines gilt für beide Seiten: Wer sich auf den jeweils anderen einlässt, wer zuhört und zu verstehen versucht, dem öffnen sich Horizonte und der wird überreich beschenkt. Der Autor Jochen Winter ist Gemeinde- referent und Sozialarbeiter. Seit 2016 arbeitet er als Seelsorger für Menschen auf der Flucht im Ankunftszentrum Baden-Württemberg in Heidelberg und in Flüchtlingserstaufnahme- einrichtungen in Mannheim. 30

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