Franziskaner Mission 3 | 2021

Beten ist die zentrale Glaubenspraxis im menschlichen Leben, ob für Christen, Hindus oder Muslime. Alle wünschen sich eine stille Zeit mit dem, der uns er- schaffen hat. Eine Zeit, in der wir selbst vom Alltag abschalten können. Aber auch das gemeinsame Gebet der Familie ist eine wunderbare Sache. Friedvolle Gedanken können Kör- per und Geist stärken sowie Weisheit ins Herz bringen. Ja, das Gebet wirkt sich sogar auf die Gesundheit des Menschen aus. Körper und Geist kommen durch das Gebet und die Gebetswiederholun- gen zur Ruhe. Ich stamme aus Bengalore in dem Staat Karnataka in Indien, wo wir Christen eine Minderheit sind, sehr klein an der Zahl. Die Tradition des Familien- gebetes hält uns aber zusammen und stärkt unseren Glauben. Ich muss sagen, dass unsere gemeinsamen Gebete in der Familie einen großen Anteil daran hatten, dass ich Priester geworden bin. Normalerweise arbeiten die Erwach- senen in Indien den ganzen Tag und die Kinder sind in der Schule. Wenn sie abends nach Hause kommen, rufen die ältesten Familienmitglieder – noch vor dem Abendessen – sie zum Gebet zu- sammen. Das haben sie schon von ihren Großeltern gelernt. Die Kinder lieben es nicht so sehr, denn gegen 19 Uhr kommen die interessantesten Kinder- sendungen im Fernsehen. Dann kann es schon einmal zu kleineren Auseinander- setzungen zwischen den Jüngeren und den Älteren kommen. Außerdem sollen sie noch ihre Hausaufgaben machen und auch im Haus etwas mithelfen. Manchmal sind die Gebete auch sehr lang und dann ist es besonders anstrengend für die Jüngeren, sitzen zu bleiben und zu beten. Mein Vater erzählte mir oft, dass sein Vater, wenn er spätabends von der Arbeit kam, zuerst auf die Kerze am Hausaltar blickte. Er sah sofort, ob sie etwas kleiner gewor- Der Autor Sandesh Manuel ist indischer Franziskaner und lebt zurzeit im Franziskaner­ kloster Wien. Neben seelsorglichen Diensten dreht er mit Leidenschaft YouTube-Musikvideos, um so seinen christlichen Glauben zu verkünden. Kinderfernsehen oder Ave Maria Familiengebetstradition in Südindien den war, das heißt er konnte daran sehen, ob die Familie schon gebetet hatte. Wenn nicht, gab es Ärger. Ja, es ist eine schöne Tradition, wenn die ganze Familie nach der Arbeit und Schule zusammenkommt, sich auf den Boden setzt oder kniet und gemein- sam betet. Beim Gebet betet nicht nur einer vor. Jeder macht mit und hat einen Part: Die Kinder beten den Rosenkranz, die Älteren lesen die Bibeltexte vor, die Mut- ter sucht die Lieder aus und stimmt sie an, und zwar in unserer Muttersprache, Kannada. Nach dem Familiengebet gehen alle zum Familienvater und bekommen seinen Segen. Oh Christus, segne mich, sende deinen heiligen Geist und salbe mich. Mit dem Feuer deiner Liebe entzünde mein Herz. Entferne das Ego, entferne den Stolz, und hilf den Menschen, die sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen. 26 | 27

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