Franziskaner - Winter 2022

42 franziskaner 4|2022 © ink drop– stock.adobe.com »Bitte nicht berühren!« So werden wir in Museen gemahnt, um kostbare Kunstschätze zu schützen. Bitte nicht berühren, um nichts zu beschädigen. Auch wir Menschen sind kostbare Kunstwerke. Wir sind es geworden, weil wir berührt worden sind. Ohne Berührung kann kein Kind (über)leben, ohne sanfte und liebevolle Berührung kann sich niemand zu einem vollen Menschsein entwickeln. Berührungen sind für Menschen selbstverständlich – ebenso der Abstand zum Göttlichen. Doch Gott landet einen Überraschungscoup: Gott kommt uns nah – beängstigend nah, hautnah. Gott wirdMensch. »Entäußert sich all seiner Gewalt, wird niedrig und gering …« Welch tiefes Geheimnis. Gott kommt imKind, macht sich anfassbar, macht sich begreifbar, macht sich berührbar. Jesus bringt die Menschenfreundlichkeit Gottes und das Heilsame in dieWelt. Er berührt diejenigen, die es ammeisten brauchen. Im»GeistlichenWegbegleiter« dieses Jahres haben wir auf die Begegnungen Jesu verwiesen, auf die Berührungsgeschichten, in denen er nicht auf Abstand bleibt, sondern den Menschen nahekommt und im guten Sinne »handgreiflich« wird. Er lässt sich von ihrem Schicksal berühren, lässt sich anrühren und spürt, was die/der Einzelne braucht. Jesus begegnet dem Mann mit der verdorrten Hand, der Frau, die als Sünderin gilt, dem Taubstummen, dem reichen Jüngling, der Frau am Jakobsbrunnen, demGelähmten, demSynagogenvorsteher Jairus, demBesessenen vonGerasa, der Fraumit dem verkrümmten Rücken, dem blinden Bartimäus. Er segnet die Kinder und legt ihnen die Hände auf. Er lässt den Apostel Thomas die Wundmale berühren. Dass von Jesus eine heilende Kraft ausgeht, bekunden die Evangelistenmit der Bestätigung: »Und alle, die ihn berührten, wurden geheilt.« (Markus 6,56) Was Leben aus demGlauben praktisch bedeutet, auch das verdeutlicht Jesus ganz handgreiflich in der Fußwaschung. Als verwundeter Heiler wurde er zum Diener der Menschen. Papst Franziskus fordert uns auf, das geschundene Fleisch des anderen zu berühren, in Kontakt mit seinenWunden zu kommen. Wir sollen das Fleisch der Verletzten berühren, auf die Wahrheit der Gewaltopfer hören und die Realität mit ihren Augen betrachten. Der Krieg gegen die Ukraine und die große Zahl der Geflüchteten stellen uns immer wieder vor diese Herausforderung. In den vergangenen zweieinhalb Jahren hieß es coronabedingt: »Bitte nicht berühren!« Distanz war die neue Formder Nächstenliebe. Mittlerweile spüren wir mehr als deutlich die negative Kehrseite des Abstandhaltens. Wir brauchen die menschliche Zuwendung, wir brauchen die Umarmung, wir brauchen die Streicheleinheiten. Bei aller notwendigen Vorsicht wagen wir wieder die Annäherung. Gott kommt uns nah, erstaunlich nah. Hat unter uns gewohnt. Macht sich berührbar. Das Schild an der Krippe lautet: »Bitte berühren!« Um zu fühlen, was Menschwerdung bedeutet, um zu spüren, was es braucht zumMenschsein, um uns die Zärtlichkeit Gottes schenken zu lassen. Bitte berühren, um diese Zärtlichkeit weiterzugeben an die kostbaren KunstwerkeMensch – vorsichtig, angemessen, mit Fingerspitzengefühl. Gott wird auch heute Mensch, damit wir MenschenMensch werden. Sein Blick aus der Krippe lädt uns ein: bitte berühren! Bitte berühren! Stefan Federbusch OFM kommentar

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