Franziskaner Mission 3 | 2021

von Gemeinschaften, teilten ihre Ideale, konnten so ihrer Endlichkeit entfliehen und an einer gemeinsamen Zukunft, am Fortbestehen der Menschheit arbeiten. Diese Ordnungen verlangten vom Subjekt Selbstbeherrschung und Triebauf- schub. So trugen sie dazu bei, dass das Subjekt mit dem Mangel, dem Verlust umgehen konnte. Subjekt und Gemein- schaft waren vor den zerstörerischen Fol- gen totalisierender Ansprüche geschützt, denen es darum geht, den Mangel, der das menschliche Wesen erst konstituiert, zu beseitigen. Über die letzten fünf Jahrzehnte hat sich dieses Szenario jedoch drama- tisch verändert. Der rasende Fortschritt von Wissenschaft und Technik hat die Gesellschaften der westlichen Welt grundlegend verändert. Früher von pro- duktiven Prozessen geleitet werden sie heute von einem unbeständigen Finanz- kapitalismus beherrscht. Dieser Kapitalis- mus ist allgegenwärtig wie einst nur die Götter. Im Neoliberalismus hat er eine Lehre gefunden, auf die er seinen Kultus gründen kann. Genährt vom Konsum haben in dieser neuen Ordnung weder Triebauf- schub noch Selbstbeherrschung Platz. Ihr Imperativ ist die unmittelbare Befriedi- gung unaufschiebbarer Bedürfnisse, die von ihren Medien unaufhörlich produ- ziert und reproduziert werden. Neue Techniken wie das Erstellen von Nutzer- profilen drehen das Rad immer schneller. Und die Nutzer – von Maschinen gehört und verstanden – legen ein immer zwanghafteres Verhalten an den Tag. Der Trieb des totalen Genusses überwindet das Gesetz des Begehrens. Damit wird das Subjekt wieder zu einer narzisstischen Einheit, das jede Grenze ab- lehnt. Im Ande- ren kann es nur eine Bedrohung oder ein Objekt sehen, das es zu gebrauchen und zu konsu- mieren gilt. In der Politik hat es der Neoliberalismus übernommen, den Schutz öffentlicher Daseinsvorsorge einzureißen, staat- liches Handeln zugunsten der Soli­ darität und damit die letzten Hindernisse auf dem Weg zu einem totalen Kapita- lismus zu beseitigen, eines Systems, das es vermag, den Subjekten die Wettbewerbslogik des Markts einzupflan- zen. Grenzen fallen Die rasant fortschreitende Auflösung sozialer Bindun- gen lässt Tag für Tag mehr Subjekte als verlassene, einsame Individuen zurück. Ohne transzendente Ideale, denen sie sich unterwerfen, ohne ein vereintes Handeln im Namen eines gemeinsa- men zivilisatorischen Projekts kennt die Aggressivität keine Grenzen mehr. Die Grenzen, die einst Einhalt boten vor dem Anderen, der stets unterschiedlich und doch gleich ist, sind gefallen. Verstärkt wird der Prozess des Aufbrechens sozialer Bindungen durch die Virtualisierung der Beziehungen. Das zeigt sich unter anderem in den sozialen Medien und der Art und Weise, in der diese genutzt werden. Schritt für Schritt erlischt die Alterität. Je mehr das An- schauen, die physische Gegenwart des Anderen aufgegeben wird, umso schnel- ler schlägt Aggressivität in blanken Hass und Gewalt um. Diese Affekte wenden sich immer gegen andere, in denen das Individuum – wie Narziss – sein Spiegel- bild nicht wiedererkennt. Bindungen und Bande, die das Gesetz des Begehrens ermöglicht, wer- den ersetzt durch Netze aus Hass, die aus dem Verlangen nach dem Absoluten ge- knüpft sind. Das Individuum der Gegen- wart verfällt der Illusion, jeden Mangel überwinden zu können. Das Individuum wendet sich gegen all diejenigen, die an- ders scheinen als es selbst und ihm daher als fehlerhaft erscheinen. Die Andersar- tigkeit, die Verschiedenheit erinnert das Subjekt an den unerbittlich bestrittenen Verlust. Darin wird sie zur Bedrohung, zur Gefahr für das Individuum, das Totalität beansprucht. Das Ergebnis sind Hasstira- den gegen Migrierende, Homosexuelle, Indigene, Schwarze und Arme. Kurz gesagt, gegen all diejenigen, die aus welchem Grund auch immer nicht mit den Standards einer vom puren Konsum getriebenen Gesellschaft in Einklang ste- hen. Diese Gesellschaft macht aus einem Laster eine Tugend. Sie glaubt, sich von der Sünde frei gemacht zu haben. Doch indem sie sich einem Überfluss verschrie- ben hat, der zur Erschöpfung führt, ist sie der Sünde unterworfen und verfallen. Die beiden Autoren sind: Dr. William César Castilho Pereira , klinischer Psychologe und emeritierter Professor an der Päpstlichen Universität von Minas Gerais, und Domingos Barroso da Costa , Master in Psychologie sowie Doktorand an der Päpstlichen Universität von Minas Gerais. Übersetzung aus dem Portugiesischen: Marten Henschel (www.textdesign.net ) Die Franziskaner Mission dankt dem Übersetzer ausdrücklich für seine fachliche Hilfe. 11

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