Franziskaner Mission 3 | 2021

Möglichkeiten Erstens: Der Geschlagene schlägt zurück – dann aber richtig! Im Handumdrehen wird aus dem Zwist eine Massenschläge- rei. Wer hat Schuld? Der erste hatte nur beleidigt, körperliche Gewalt kam dann durch den zweiten ins Spiel ... Zweitens: Der Beleidigte dreht sich um und geht – und hat den Hohn aller auf seiner Seite. Er ist für allezeit der Verlierer. Jesus zeigt einen dritten Weg: Der Beleidigte hält die andere Wange hin, das heißt: Er lässt die Gewalt nicht eskalieren, er flieht aber auch nicht. Er stellt sich der Situation. Mutig. Auf alle Fälle hat er das Überraschungsmoment auf seiner Seite, denn er tut, womit kei- ner rechnet. Die beiden schauen sich in die Augen. Begegnung ist möglich. Die Frage: »Wo ist eigentlich das Problem?« Und vielleicht die Chance auf eine fried- liche Lösung im gegenseitigen Respekt, bei der keiner das Gesicht verliert. Diese neue Sicht auf eine der wohl bekanntesten Schriftstellen, die ich einem Kollegen in der gemeinsa- men Firmvorbereitung verdanke, macht etwas mit vielen Jugendlichen und ich hoffe, sie fällt dem einen oder der ande- ren zur rechten Zeit ein und lässt sich in den Alltag übersetzen vom Schulhof bis zum Arbeitsplatz. Hemd und Mantel Vielleicht ist Jesu zweite Forderung der Lebensrealität einiger von uns näher. Es geht um eine andere Form von Gewalt, die sich Menschen in verschiedensten Zusammenhängen antun: »Wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel!« (Matthäus 5,40) Auch dieser Satz reizt zum Widerspruch. Der Hauch von Heiligenlegenden weht mit. Stoff für fromme Märchen, aber die Realität in einem Scheidungskrieg oder beim Verteilen des Erbes sieht anders aus. Wir sind eben »nur Menschen«. Lassen Sie uns diese jesuanische Forderung, bevor wir sie zu schnell in der Märchenschublade ablegen, genauer anschauen und in eine konkrete Gegenwartssituation holen: Es gilt, den elterlichen Haushalt aufzulösen. Alles wurde von den Anwälten bis auf den letzten Cent ausgerechnet und gegen- einander abgewogen. Nun geht es um die Verteilung der wertvollsten Dinge. Und dann ... Dann sagt eine(r): »Wenn du die Jugendstilkommode willst, dann nimm auch die Lampe und den Tisch. Lass uns das doch nicht auseinanderreißen, wenn dein Herz daran hängt.« Genau an diesem alten Tisch ist nun vielleicht ein Gespräch möglich, vielleicht das erste richtige Gespräch seit sehr langer Zeit. Erinnerungen, die an diesem Möbelstück hängen, brechen auf, schöne, schmerzhafte ... Vielleicht: »Mutter hat dich immer vorgezogen!« Oder: »Ich konnte Vater doch nie was recht machen. Du warst immer seine Prinzessin.« Vielleicht: »Weißt du, wie sehr ich es gehasst habe, immer Prinzessin zu sein!« Vielleicht auch ein »Das tut mir leid!« Vielleicht ein gemeinsamer Wein oder Tee. Vielleicht sogar gemeinsames Lachen. Nicht alles ist gut, aber es liegt auf dem Tisch, ist ein Beginn, die Chan- ce, über Dinge zu reden, die wirklich wichtig sind. In gegenseitigem Respekt. Was Jesus vorschlägt – und was ich zu verdeutlichen versucht habe – ist weder eine weltfremde Utopie noch das Dreh- buch zu einem rosaroten Sonntagabend- film mit romantischem Landhaus in Cornwall und Happyend-Garantie. Es hat höchsten Realitätsanspruch! Aller­ dings braucht es dazu eine solide Grund- lage. Wenn alles nur aufgesetztes Geha- be ist, hat dieser Weg wohl kaum eine Chance. Das Gegenüber vermutet – vielleicht sogar zu Recht – reine Strategie. Solide Grundlage Im Buch Levitikus, auf das sich Jesus be- zieht, spricht der HERR zu Mose: »Seid  heilig, denn ich, der HERR, euer Gott bin heilig.« (Levitikus 19,1-2) Das heißt für uns: Ich sehe in meinem Mitmen- schen, trotz allem Ärger, aller Wut, aller Verletztheit, allem Schmerz, auch den Menschen, dem Gott, ebenso wie mir, Heiligkeit zuspricht. Einen Menschen, der aus Gottes Liebe, als sein geliebtes Kind geschaffen ist, ebenso wie ich selbst. Die Autorin Laurin Katharina Singer ist Weggefährtin in der franziskanischen Familie. Sie ist Schauspielerin und Schriftstellerin und arbeitet in der Jugend- und Erwachsenen­ katechese. Für das Bistum Magdeburg ist sie Gottesdienstbeauftragte. Quelle: Desmond Tutu: Gott hat einen Traum. Neue Hoffnung für unsere Zeit. Heinrich Hugendubel Verlag, München 2004, S.56 Das Leben des südafrikanischen Frie- densnobelpreisträgers und Bischofs Desmond Tutu war ganz bestimmt kein heiterer Sonntagabendfilm. Er kämpfte gegen das unmenschliche Unrecht der Apartheid und musste selbst deshalb im Gefängnis Brutalität und Entwürdi- gung erleben. Und nicht trotz, sondern wegen dieser Erfahrung schreibt er: »Gottes Liebe zu uns und unsere Liebe zu anderen ist die einzigartige, größte Motivationskraft auf der Welt. Und diese Liebe und das Gute, das sie schafft, werden immer über den Hass und das Böse triumphieren. Wenn wir aber wirk- liche Partner Gottes sein wollen bei der Verklärung der Welt und wenn wir mit- wirken wollen an diesem Triumph der Liebe über den Hass, des Guten über das Böse, dann müssen wir zuallererst verstehen, dass Gott ebenso sehr wie uns auch unsere Feinde liebt.« Gegenseitiger Respekt Vielleicht geht es im Gebot der Feindes- liebe erst einmal darum: Nicht künstlich ein warmes, inniges Gefühl zu erzeugen und von mir zu erwarten, sondern: meinem Gegenüber mit dem Bewusst- sein zu begegnen, dass er, genau wie ich, von Gott geliebt ist, unabhängig von Schuld oder Verdienst, genau wie ich. Das führt zumindest zu einer Begegnung in gegenseitigem Respekt. Hieraus, und ich meine, nur hieraus, ist Frieden möglich. Das ist viel verlangt. Zu viel? Trauen wir uns das zu? »Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!« (Matthäus 5,48) – Jesus traut uns das zu. Wir sind eben nicht »nur Menschen«! 6 | 7

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