Franziskaner - Winter 2022

11 franziskaner 4|2022 atratze Niklaus Kuster OFMcap gelehrter Franziskaner verfasste zur Zeit der Erfurter Klostergründung dasWerk »Der Bund des heiligen Franzmit FrauArmut«. In einer meisterhaften Szene fragt die Gefährtin Jesu die ersten Brüder, wo denn ihr Kloster sei. Sie fahren mit ihr auf eine Anhöhe und zeigen ihr die Welt, so weit ihr Auge reicht. Mit dem weiten Panorama vor Augen sagte Franziskus der edlen Frau: »Schau, so weit dein Auge reicht: Die ganze Welt ist unser Kloster – unser Lebensraum, in dem wir wohnen, arbeiten, essen, beten und Erfahrungenmit Menschen teilen!« (Vgl. FQ 682–683). In jener Zeit schritt in Assisi der Bau des Sacro Convento und der prachtvollen Wallfahrtskirche San Francesco voran. Wer sich heute nicht vom Pfälzer Minoriten Thomas Freidel durch das UNESCO-Weltkulturerbe führen lässt, kann aus demMund eines heimischen Stadtführers auch Kommentare wie diesen hören: »Meine Damen und Herren, unter diesem Prachtbau liegen der Leib und der Geist des Poverello begraben!« Doch ist dem so? Die franziskanischen Reformbewegungen der Spiritualen, Observanten und Kapuziner mochten dieses Urteil im Lauf der Jahrhunderte teilen: Sie distanzierten sich vom Leben in den großen Stadtklöstern und setzten wieder auf Armut, Wanderpastoral, kleine Gemeinschaften und die alten Eremitagen. Mit demWachstum ihrer Gemeinschaften fanden jedoch auch sie zum klösterlichen Leben zurück und sind wieder in ansehnlichen Stadtkonventen anzutreffen. Tatsächlich zeichnet sich bereits in den frühen Regeltexten der Bruderschaft ein Ja zu festen Niederlassungen ab. Die Ordensregel von 1221 hält noch fest: »Wir haben von der ganzen Welt nichts anderes nötig als Nahrung und Kleidung (...) Und die Brüder sollen sich freuen, wenn sie mit unbedeutenden und verachteten Leuten umgehen, mit Armen und Schwachen und Kranken und Aussätzigen und Bettlern am Wege (...) Auch unser Herr Jesus Christus ist arm gewesen und ein Fremdling und hat von Almosen gelebt, er selbst, die selige Jungfrau und die Jünger.« (FQ 77) Von dieser Maxime der Frühzeit ließen sich auch die ersten Brüder in Erfurt noch leiten, die vor den Mauern bei einem Hospital lebten. Schon der Poverello selbst öffnet sich jedoch für einWanderleben mit eigenen Zentren. Zwar hält die definitive Ordensregel 1223 fest: »Die Brüder sollen sich nichts aneignen, weder Haus noch Ort noch sonst eine Sache (...) und wie Pilger und Gäste in dieser Welt (...) dem Herrn in Armut dienen (...), weil Christus sich für uns in dieser Welt arm gemacht hat.« (FQ 98) Doch wird Franziskus im Testament schreiben: »Hüten sollen sich die Brüder, Kirchen, ärmlicheWohnungen und alles, was für sie gebaut wird, überhaupt anzunehmen, wenn sie nicht sind, wie es der heiligen Armut entspricht, die wir in der Regel versprochen haben; und sie sollen dort immer herbergen wie Pilger und Gäste.« (FQ61) Beide Texte sprechenmit einem biblischen Motiv (1 Petrusbrief 2,11) die Grundhaltung an, welche die Brüder in ihremWanderleben wie imWohnen beherzigen sollen. Sie sind zu Gast in dieser Welt, und ihr Dasein bleibt das von Pilgern: zielgerichtet, dynamisch, teilend. Pilgernde richten sich nirgends fest ein. Sie erholen sich in Herbergen und teilen dort Räume und Erfahrungen mit Weggefährt:innen aller Art. Sind Klöster offene Häuser, und bleiben Brüder innerlich wie äußerlich auf demWeg, bleiben sie Franziskus’ Mahnung treu. Das biblischeMotiv imPetrusbrief spricht in jede Lebensform: Glaubende sind – wie es der frühchristliche Brief an Diognet ausdrückt – »in jedem Land zu Hause und auch in der Heimat Gäste, unterwegs in das wahre Vaterland«. Entscheidend ist diese innere Grundhaltung, sei es imWohnen oder im Unterwegssein. Ruine der Barfüßerkirche in Erfurt, die beim Bombenangriff 1944 zerstört wurde © michael nitzschke – picture-alliance.com

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