Franziskaner - Winter 2022

9 Die Einwohnung Gottes unter den Menschen »Und dasWort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.« (Johannes 1,14) Diesen Ausschnitt aus dem Prolog des Johannesevangeliums hörenwir in der Messe amerstenWeihnachtstag. Durch eine kleine Übersetzungsvariante eines einzigen Wortes in diesem Vers kann sich den Hörenden und Lesenden eine neue Perspektive und eine Verbindung zur Theologie des Alten Testaments erschließen: »Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gezeltet …« Denn das hebräische Wort für »wohnen« kann auch mit »zelten« übersetzt werden. Aus dem hebräischen Verb für »wohnen« beziehungsweise »zelten« entstand der Begriff der »Schechina« Gottes, der im Judentum eine zentrale Rolle spielt und »Einwohnung«, »Zelt aufschlagen« oder »Anwesenheit« Gottes unter denMenschen bedeutet. Zudem wird mit dieser Übersetzung eine Brücke zum Neuen Testament geschlagen, denn die ersten 14 Verse des Johannesevangeliums lassen sich als eine sinngemäße Wiedergabe (Relecture und Paraphrase) der ersten beiden Bücher des Alten Testaments – Genesis und Exodus – lesen: von der Schöpfung der Welt (Genesis 1–2) bis zurOffenbarung und demBau des Zeltheiligtums am Sinai (Exodus 20–40). Diese Verbindung wird vor allem durch die Wörter »Zelt«, »Wort« und »Herrlichkeit« zum Ausdruck gebracht. Es ist nicht unüblich, dass die Autoren des Neuen Testaments für ihre Schriften Lesarten oder Interpretationen des Alten Testaments voraussetzen. Dies geschieht auch beimBeginn des Johannesevangeliums. Der oben zitierte Vers spricht eindeutig vonderMenschwerdung des Logos, des Wortes. Mit den Begriffen »Zelt«, »Wort« und »Herrlichkeit« werden drei bedeutende alttestamentliche Ausdrücke aufgenommen. Das Zeltendes »Wortes« nimmt denBau des Zeltheiligtums, mit dem Gott mitten unter seinem Volk wohnen will, aus Exodus 20–40 auf. Dadurch wird auch auf Mose Bezug genommen. Mit ihm endet der Johannesprolog, nachdem er mit Anspielungen auf Genesis 1 begonnen hat. Der Evangelist Johannes wählt diesen Bogen von der Erschaffung der Welt bis hin zum Zeltheiligtum nicht zufällig, sondern weil das Alte Testament ihm diesen Bogen vorgibt. Denn die Schöpfung zielt von Beginn an auf den Schabbat und das Zeltheiligtum – und damit auf die Schechina Gottes. Die Schöpfung ist erst durch die Einwohnung Gottes unter seinem Volk vollendet, denn bei der Fertigstellung des Zeltheiligtums im Buch Exodus werden Formulierungen aus der ersten Schöpfungserzählung (Genesis 1,1–2,3) wieder aufgenommen. Ziel der Entstehung und der Entwicklung derWelt ist die Einwohnung Gottes unter seinemVolk sowie mit dem Schabbat und demZeltheiligtum der Kult, die Liturgie. Die Schöpfung ist also auf das Volk Israel hin angelegt, denn unter diesem Volk wollte Gott wohnen. Ja, sie ist angelegt auf das Aufschlagen des Zeltes Gottes unter denMenschen. Im Johannesprolog wird diese im Alten Testament grundgelegte Erkenntnis aufgenommen. Uns wird damit vor Augen geführt, dass Jesus für uns Christ:innen die gelebte Erfüllung der Einwohnung Gottes in der Welt ist, denn Er selbst ist durch seine Geburt die leibhaftige Einwohnung Gottes geworden. Wir feiern also anWeihnachten nicht nur, dass Gott Mensch geworden ist, sondern dass er unter uns Menschen wohnen will. Johannes Roth OFM Menschen auf der Flucht Die Zahl der Menschen, die weltweit aus ihrer Heimat gewaltsam vertrieben wurden, war noch nie so hoch wie heute. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR ging Mitte 2022 von weltweit rund 103 Millionen Flüchtlingen, Asylsuchenden und Binnenvertriebenen aus. Verglichen mit dem Stand von Ende 2021 bedeutet diese Zahl, dass 13,6 Millionen Menschen mehr auf der Flucht sind als im Vorjahr. – Dies entspricht einem Anstieg von 15 Prozent. Hauptgrund für diesen rasanten Anstieg ist die russische Invasion in der Ukraine, die Millionen Menschen zur Flucht zwang. Demnach waren Mitte 2022 etwa 5,4 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer ins Ausland geflüchtet, und 6,3 Millionen waren Binnenvertriebene. Viele von ihnen suchen derzeit Schutz und Wohnung bei uns in Deutschland. Auch Brüder und Schwestern der franziskanischen Familie haben Geflüchtete aufgenommen, so zum Beispiel die Oberzeller Franziskanerinnen oder die Schwestern in Sießen. Die Franziskaner in Vossenack haben zusammen mit der Franziskusstiftung in den ehemaligen Räumen des Internates insgesamt 58 Asylsuchende und Flüchtlinge untergebracht, darunter viele Menschen aus der Ukraine. »… und hat unter uns gewohnt«

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