Wenn wir heute von biblischen Propheten sprechen, denken wir vermutlich hauptsächlich an die Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel, vielleicht noch an Amos, Jona oder auch Elija. Im Alten Testament gibt es aber weitaus mehr Propheten als diese.
Die Juden benennen sogar einen ganzen Teil ihrer Bibel mit dem Titel Propheten („Nebiim“). Er umfasst die Bücher Josua, Richter, 1 und 2 Samuel, 1 und 2 Könige, die in christlichen Bibelausgaben zu den Geschichtsbüchern zählen und als „Vordere Propheten“ bezeichnet werden. Hinzukommen die drei großen Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel sowie die zwölf kleinen Propheten (Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja und Maleachi), die als „Hintere Propheten“ bezeichnet werden. Darüber hinaus rechnen wir Christen die Klagelieder, Baruch und Daniel zu den Propheten. Die „Hinteren Propheten“ werden in der christlichen Tradition Schriftpropheten oder klassische Propheten genannt, wohingegen die „Vorderen Propheten“ als vorklassische Propheten bezeichnet werden. Es wird deutlich, dass ein großer Teil sowohl des jüdischen als auch des christlichen Alten Testaments aus prophetischen Schriften besteht. Aber was bedeutet Prophetie im Alten Testament? Was zeichnet sie aus?
Reiche Bedeutung
Heute werden Menschen, die die Zukunft vorhersagen, landläufig als Propheten bezeichnet. Allerdings ist dies eine Verengung einer ursprünglich reicheren Bedeutung. Im Alten Testament sind die Propheten vor allem Zeitkritiker, die von ihrer Zukunftserwartung her die Gegenwart analysieren. So beurteilt zum Beispiel der Prophet Jesaja die Politik des jeweiligen Herrschers vor dem Hintergrund eines bestimmten Gottesverständnisses. Er empfiehlt dem Volk Israel, nicht der eigenen Politik, sondern JHWH zu vertrauen: „Denn so spricht der GOTT, der Herr, der Heilige Israels: Durch Umkehr und Ruhe werdet ihr gerettet, im Stillhalten und Vertrauen liegt eure Kraft.“ (Jesaja 30,15) JHWH erweist sich als ein geschichtsmächtiger Gott, der die verfeindeten Völker Israels für seine Pläne benutzen, aber auch in die Schranken weisen kann.
Das hebräische Wort „nabi“ heißt so viel wie „berufener Redner“. Zusätzlich gibt es im Alten Testament weitere Titel, die für Propheten verwendet werden: „Gottesmann“ und „Seher“ oder „Schauer“. Der Titel „Gottesmann“ impliziert die Fähigkeit zu wunderbaren Taten. So heilt zum Beispiel Elischa den syrischen Offizier Naaman von seinem Aussatz (vgl. 2 Könige 5). Der Titel „Seher/Schauer“ meint, dass diesen Propheten die Botschaft Gottes in einer Vision oder Audition in Ekstase verkündet wird. Samuel und Gad werden „Seher/Schauer“ genannt, wohingegen Amos und Jesaja sich selbst als solche bezeichnen. Der am meisten verwendete Titel ist aber „nabi“, der zum Beispiel Mose, Debora, Natan, Jeremia und Ezechiel gegeben wird. Die unterschiedlichen Titel deuten auf die vielfältigen Aufgaben der Propheten hin.
Beamte oder freie Propheten
Insgesamt gibt es vier Typen von Propheten: Ordens- oder Genossenschaftspropheten, Tempel- oder Kultpropheten, Hofpropheten und freie, oppositionelle Einzelpropheten.
Die Ordens- oder Genossenschaftspropheten lebten in einer Art Konvent von Prophetenjüngern, die sich um eine herausragende Gestalt gruppierten. Durch Ekstase und Tanz stellten sie Kontakt zu Gott her. Ihre Hauptaufgabe war die Verkündigung von Gottessprüchen und Heil. Sie lebten meist als Bauern oder Hirten und trafen sich regelmäßig mit ihrem Meister.
Die Tempel-oder Kultpropheten zählten, vor allem in Jerusalem, zum staatlichen Beamtenapparat. Zu dieser Gruppe gehört zum Beispiel Samuel, der im Tempel seine Berufung erfuhr (vgl. 1 Samuel 3). Die Hofpropheten standen im Dienst der Könige und der Politik. Auch sie verkündeten Gottessprüche, aber hauptsächlich sollten sie den Frieden sichern und Unheil abwenden. Vertreter dieses Typs sind Natan (vgl. 2 Samuel 7,1-17) und Gad (vgl. 1 Samuel 22,5). Die freien, oppositionellen Einzelpropheten sind zwar zahlenmäßig die kleinste, aber gleichzeitig die wirkungsgeschichtlich bedeutendste Gruppe, und das, obwohl sie nur geringes Ansehen genossen. Zu dieser Gruppe zählen die meisten Schriftpropheten. Sie stammen aus unterschiedlichen Milieus (Amos war Bauer, Jesaja Weisheitslehrer, Ezechiel und Jeremia Söhne angesehener Priesterfamilien), aber sie wurden alle durch eine Berufungserfahrung aus ihrem Umfeld herausgerufen und zu oppositionellen Kritikern der Gesellschaft, die oftmals Spott, Hohn und sogar Verfolgung ertrugen.
Form und Inhalt
In der prophetischen Rede tauchen sechs Wendungen wiederholt auf. Die Botschaftsformel „So spricht JHWH“ ist auch in diplomatischen Briefen nachweisbar und wurde somit vermutlich aus dem Alltag übernommen. Eine zweite Wendung ist die Wortereignisformel „Und das Wort JHWHs erging an …“. Sie kommt im Alten Testament insgesamt 240-mal vor, besonders bei Jeremia und Ezechiel. Es stehen also nicht die ekstatischen Ereignisse im Vordergrund, sondern allein das Wort und der Inhalt der Rede. Außerdem erfolgt hin und wieder der Aufmerksamkeitsruf „Hört das Wort JHWHs, Söhne Israels!“. Am Ende der prophetischen Rede steht die Schluss- oder Überlieferungsformel, entweder „Spruch JHWHs“ oder „hat JHWH gesprochen“ oder „redete JHWH“.
Der Inhalt der prophetischen Rede kann ganz unterschiedlich sein. Ein Prophet ist Mahner und Heilsverkündiger zugleich. Er überbringt dem Volk die Worte Gottes, durch ihn spricht Gott zu seinem Volk. Das Droh- oder Gerichtswort kündigt Unheil an und kann an Einzelne, Gruppen oder das ganze Volk gerichtet sein (zum Beispiel Amos 7,11: „Denn so sagt Amos: Jerobeam stirbt durch das Schwert und Israel muss in die Verbannung ziehen, fort von seinem Boden.“). Die Anklage oder das Scheltwort ist im Prinzip ein Drohwort, nur dass hier zusätzlich durch die Nennung der Sünde eine Begründung geliefert wird (vgl. Amos 4,1-3).
Der Weheruf ist die stärkste Form der Drohung und aus der Totenklage abgeleitet. Er benötigt keine Begründung, da diese schon im Adressaten enthalten ist (zum Beispiel Jesaja 5,8: „Wehe denen, die Haus an Haus reihen und Feld an Feld fügen, bis kein Platz mehr da ist und ihr allein die Bewohner seid inmitten des Landes.“). In der Heilszusage wird das Heil als präsentische Größe verstanden, es ist für das Volk Israel bereits gegenwärtig (zum Beispiel Jesaja 41,10: »Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir; hab keine Angst, denn ich bin dein Gott! Ich habe dich stark gemacht, ja ich habe dir geholfen und dich gehalten mit meiner siegreichen Rechten.“). Hiervon unterscheidet sich die Heilsankündigung, in der es um künftiges und bevorstehendes Heil geht (zum Beispiel Jesaja 41,17: „Die Elenden und Armen suchen Wasser, doch es ist keines da; ihre Zunge vertrocknet vor Durst. Ich, der HERR, will sie erhören, ich, der Gott Israels, verlasse sie nicht.“).
Es wird deutlich, dass der Begriff des alttestamentlichen Propheten reichhaltiger ist als die heutige Engführung auf eine Art Wahrsager. Der Prophet verkündet Gotteswort in Menschenwort. Er wird somit zum Sprachrohr Gottes und das in ganz unterschiedlicher Weise. Auch im Neuen Testament spielen die Propheten Israels eine große Rolle und sie werden häufig von Jesus zitiert.
Erstveröffentlichung Zeitschrift Franziskaner Mission 4 / 2020