Franziskaner - Frühling 2023

Franziskaner Frühling 2023 Weitere Themen: Familiennachzug Ein deutsches Trauerspiel +++ Der Hunger ist zurück Das muss nicht sein +++ Geistlicher Wegbegleiter www.franziskaner.de Alles geregelt?! 800 Jahre franziskanische Ordensregel

4 Nachrichten und Anregungen 6 800 Jahre Ordensregel • Alles geregelt? • Die Ordensregel kritisch beleuchtet • Franziskus verbindet Freiheit mit Regeln • Die Bedeutung für den weltlichen Ordenszweig • Der Schatz der Geschwisterlichkeit 21 Familiennachzug Ein deutsches Trauerspiel … 25 Geistlicher Wegbegleiter 29 Fratelli tutti 30 Bruder FirminusKlause 33 In memoriam 34 Franciscans International Mosambik 36 Franziskanische Geschichte Kann ein Kaufmann gerettet werden? 39 Der Hunger ist zurück Wie schlimm muss es eigentlich noch werden … 4 2 Christlich/Islamisch Ramadan und Fastenzeit 44 Franziskaner sein Georg Schmaußer OFM 46 Erdbebenhilfe Türkei 48 Kursprogramm 49 Bruder Rangel kocht 50 Kommentar 51 Impressum und Germanicus auf Reisen Inhalt Der »Franziskaner« Unser Magazin für franziskanische Kultur und Lebensart erscheint viermal im Jahr und wird klimaneutral auf 100 % Recyclingpapier gedruckt. Sie können es sich kostenlos nach Hause liefern lassen. Deutsche Franziskanerprovinz Provinzialat Frau Viola Richter Sankt-Anna-Straße 19, 80538 München zeitschrift@franziskaner.de Tel.: 0 89 2 11 26-1 50, Fax: 0 89 2 11 26-1 11 Spenden zur Finanzierung dieser Zeitschrift erbitten wir unter Angabe des Verwendungszweckes »Spende Zeitschrift« auf das Konto der Deutschen Franziskanerprovinz IBAN DE49 5109 0000 0077 0244 09 | BIC WIBA DE 5W Bank für Orden und Mission bei der Wiesbadener Volksbank LINKS © MARIJAN MURAT – PICTURE-ALLIANCE.COM; RECHTS © FRANCOIS GALLAND – PICTURE-ALLIANCE.COM Der Hunger ist zurück In den letzten Jahren steigt die Zahl der Hungernden wieder stark an. Kriege, Klimaerhitzung und das Versagen der internationalen Gemeinschaft treiben diese Geißel der Menschheit. Wie groß muss die Hungerkatastrophe eigentlich noch werden, bis wir handeln, fagt Lutz Depenbusch von Misereor im Interview mit uns. Seite 39 Familiennachzug Der Schutz der Familie ist in Deutschland ein hohes Gut. Doch für Geflüchtete sieht die Realität anders aus. Jahrelange Verfahren, bürokratische Hürden, viel zu wenig Personal zermürben viele Familien. Über Ursachen und Verbesserungsmöglichkeiten sprachen wir mit Sophia Stockmann vom Deutschen Caritasverband. Seite 21

3 FRANZISKANER 1|2023 »Regel und Leben …« Ich bin ein Mensch, der Ordnung liebt und deshalb gerne aufräumt. Meine Mitbrüder schmunzeln schon, wenn ich beim Frühstücken die Marmeladengläser ordentlich in der Mitte des Tisches gruppiere und regelmäßig die Zuckerkrümel wegwische. Mir tut es gut, mein Zimmer aufzuräumen, meine Ablage zu ordnen und Überflüssiges auszusortieren. Schwierig wird es freilich, wenn Ordnungsideale sich verselbstständigen und das Aufräumen und Sortieren zum Selbstzweck oder womöglich zwanghaft werden. Da kann es dann eng für einen selbst und für andere werden. Und das dient nicht mehr dem Leben. »Regeln sind wie Laternen«, meinte mein geistlicher Begleiter einmal zu mir. »Sie leuchten uns den Weg in der Dunkelheit. Nur Betrunkene und Verrückte klammern sich an ihnen fest.« Ich finde, da ist was dran. Regeln sollen Orientierung und Sicherheit geben, sie sorgen für Verbindlichkeit und erleichtern damit unser Miteinander im Alltag. Ordnung und Regeln sind nicht das Ende von Kreativität und Freiheit, sondern deren Voraussetzung. Doch wer zum Paragrafenreiter wird, wer im Konfliktfall nur auf Gesetze und Normen zurückgreift, der erstickt das Leben. Außerdem gilt: »Summum ius summa iniuria (höchstes Recht höchstes Unrecht).« Das Diktum von Cicero besagt, dass die buchstabengetreue Anwendung eines Rechtssatzes im Einzelfall zu größter Ungerechtigkeit führen kann. Es braucht daher stets das rechte Maß bei der Anwendung von Recht und Ordnung. »Regel und Leben der Minderen Brüder ist dieses, nämlich unseres Herrn Jesus Christus heiliges Evangelium zu beobachten durch ein Leben in Gehorsam, ohne Eigentum und in Keuschheit« (Bullierte Regel des heiligen Franziskus, 1. Satz). Mich spricht der Auftakt unserer Ordensregel sehr an. In diesem Jahr feiert diese Regel ihr 800-jähriges Jubiläum. »Regel und Leben« – zwei Begriffe, die hier bei Franziskus quasi synonym verwendet werden. Und es kommt ein dritter Begriff hinzu: das Evangelium. Die Regel und das Leben der Minderen Brüder erwachsen für Franziskus aus dem Evangelium, der Frohen Botschaft Jesu. Zugespitzt formuliert: Das Evangelium ist die Regel und das Leben der Minderen Brüder. Eine Regel, die Freiheit atmet! Was das im Einzelnen bedeuten kann, lesen Sie in diesem Heft. Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüre, eine gute restliche Fastenzeit und ein befreiendes Osterfest! Markus Fuhrmann OFM (Provinzialminister) © FRESH STOCK – STOCK.ADOBE.COM

4 FRANZISKANER 1|2023 Klara-Kapelle im Kloster Oberzell Die kleine Kapelle befindet sich im Haus Klara, einem Tagungshaus der Oberzeller Franziskanerinnen auf dem Gelände des Klosters Oberzell bei Würzburg. Die ehemalige klösterliche Ökonomie wurde erst 1972 von der dort lebenden Kongregation der Dienerinnen der heiligen Kindheit Jesu erworben. Einige Jahre später wurden Scheune und Stallungen zu einem Exerzitien- und Bildungshaus umgebaut und 1981 eröffnet; 2011/2012 wurde das Haus generalsaniert und modernisiert. Damals entstand unter dem Dach des Hauses die Kapelle mit Werken der Glaskünstlerin Claudia Krämer-Marloh. Das sogenannte Schlösschen neben Haus Klara ist die Wiege der Kongregation. Hier eröffnete die Würzburgerin Antonia Werr (1813–1868) 1855 eine Einrichtung für strafentlassene und sozial unangepasste Frauen. Das historische Klosterambiente, die familiäre Atmosphäre sowie die großzügigen Grünanlagen um Haus Klara und die Kapelle laden zu einem Besuch ein. Gern können sich Interessierte an der Klosterpforte oder direkt im Haus Klara melden. Tel.: 09 31 46 01-251 | E-Mail: haus-klara@oberzell.de Kloster Oberzell | 97299 Zell am Main Klara-Kapelle >> www.haus-klara.de Viele Orte sind von franziskanischen Gemeinschaften oder einzelnen franziskanisch inspirierten Kunstschaffenden gestaltet worden. Wir stellen sie vor … © OBERZELLER FRANZISKANERINNEN Franziskanische Orte entdecken

5 FRANZISKANER 1|2023 BILD OBEN © CHRISTIEN BÜHNER – UNSPLASH.COM 21.–25. August 2023 Sommerexerzitien mit Einzelbegleitung In diesen Exerzitien wollen wir der Kraft und der Bedeutung der Emotionen nachgehen und sie zu den vier Elementen in Beziehung setzen. Impulse aus den Erzählungen der Bibel und aus anderen geistlichen Quellen, Anregungen für das persönliche Gebet, durchgängiges Schweigen, tägliches Begleitgespräch, Angebot zur Musikmeditation, Gottesdienste, tägliche Abendmeditation am Feuer (wetterabhängig). Begleitung: Ricarda Moufang, Exerzitienbegleiterin; Helmut Schlegel, Franziskaner, Meditations- und Exerzitienbegleiter Ort: Bildungs- und Exerzitienhaus Kloster Salmünster Anmeldung: Helmut Schlegel, Tel.: 01 73 3 00 96 99, E-Mail: helmut.schlegel@franziskaner.de Kursübersicht auf Seite 48 Einer unserer Kurse Syrien: Nothilfeprojekt der Franziskaner Die Erde bebte mehrfach so schlimm wie seit 1939 nicht mehr, über 20 Millionen Menschen sind von dem Erdbeben in der Grenzregion von der Türkei (siehe auch Seiten 46/47) und Syrien betroffen. Die Zahl der Todesopfer steigt auf mehr als 50.000 an, viele Menschen werden noch vermisst oder sind teils schwer verletzt. Ein katastrophaler Ausnahmezustand vor allem in Syrien, wo fünf Millionen Menschen obdachlos geworden sind, in einer Region, in der 90 % der Menschen schon vor den Beben wegen des Krieges in großer Armut und Not lebten. Laut UN sind allein in Syrien 8,8 Millionen Menschen von den direkten Folgen betroffen, die meisten von ihnen benötigen humanitäre Unterstützung. Unsere franziskanischen Mitbrüder, die auch während des furchtbaren Krieges immer in Syrien geblieben sind, sind an vielen Orten wie Aleppo, Latakia oder der Region Idlib verlässlich vor Ort. Sie verteilen Essen, Wasser, Decken und Zelte und versuchen, so viele Menschen wie möglich bei sich unterzubringen. Allein in Aleppo sind in den Franziskanerkonventen, Gemeinderäumen und einer Schule rund 2.500 Menschen untergebracht. In jedem Flur, in jeder Ecke sitzen und liegen völlig verzweifelte Menschen. Die Brüder helfen gemeinsam mit vielen Freiwilligen aus Syrien, so gut es geht, geben Essen aus, spenden Trost und Beistand. Ein neuer franziskanischer Ort Geistlicher Ort Hofheim, so heißt das neue Projekt der beiden Franziskaner Norbert Lammers und Helmut Schlegel im Rhein-Main-Gebiet. Verortet bei den Schwestern vom Guten Hirten in Hofheim-Marxheim, wo die beiden Brüder auch leben, laden sie zu Exerzitien, spirituellen Auszeiten, Tagen der Stille und Orientierung, persönlichen Begleitgesprächen, musikalischen Meditationen und zur Vor allem die Kinder leiden, viele von ihnen haben nie etwas anderes kennengelernt als den Krieg. Sie kennen von klein auf Angst, Ausnahmezustand, Hunger und Gewalt. Wenn Sie den Erdbebenopfern in Syrien helfen möchten: Spendenkonto: Franziskaner Mission München, Liga Bank, IBAN: DE48 7509 0300 0002 2122 18, Verwendungszweck: Syrienhilfe Teilnahme an Gebet und Liturgie in das Maria-Droste-Haus in Hofheim-Marxheim ein. Die Angebote des Geistlichen Ortes gestalten die Brüder gemeinsam mit Frauen und Männern, die in den Bereichen Meditation und Kontemplation, Geistliche Begleitung, Musik und Liturgie erfahren sind. Wer mehr über den Ort und die konkreten Angebote erfahren möchte, kann sich über die Website informieren und dort einen regelmäßigen Newsletter abonnieren: >> www.geistlicher-ort-hofheim.de

6 FRANZISKANER 1|2023 Predella-Tafel von Pietro Lorenzetti aus der Kunstgalerie von Siena in Italien

7 FRANZISKANER 1|2023 Alles geregelt?! 800 Jahre franziskanische Ordensregel Im Jahr 1223 bestätigte Papst Honorius III. die Ordensregel der Franziskaner. Das 800-jährige Jubiläum ist für uns Brüder Anlass, über unser geregeltes Leben nachzudenken. Zugleich nehmen wir es als Anstoß, die Bedeutung von Regeln für jede und jeden einzelnen und für ein gutes Miteinander in den Blick zu nehmen. Was macht Regeln nötig? Was wird durch sie erst möglich? Aber auch: Wann müssen bestehende Regeln überprüft und angepasst werden? Andreas Brands OFM Ich möchte das Nachdenken über »Regeln« mit einer Geschichte aus der franziskanischen Tradition beginnen: Es ist das Jahr 1226. Franziskus liegt im Sterben. Von seinen Brüdern wird er an seinen Lieblingsort Portiunkula gebracht. Er bittet darum, dass man seine gute Freundin Jakoba, die in Rom lebt, benachrichtigt, dass sie zu ihm kommen möge. Sie solle von den leckeren Mandelplätzchen mitbringen und ebenso ein Licht für seine Sterbestunde. Man schickt also zu Jakoba, die jedoch schon aufgrund eigener Eingebung in Assisi eingetroffen war. Mit in ihrem Gepäck hatte sie Mandelplätzchen und ein Licht für Franziskus‘ Sterbestunde. Nun gab es die Regel, dass eine Frau sich nicht in der Klausur der Brüder aufhalten durfte, Jakoba und Franziskus sich jedoch noch ein letztes Mal sehen wollten. Kurzerhand wurde Jakoba zu »Bruder Jakoba«, um diesen Abschiedsmoment zu ermöglichen. Regeln nerven – sind aber nötig Regeln sollen ein gutes Miteinander ermöglichen. Regeln haben aber ein doppeltes Gesicht: Sie helfen, dass unser komplexes Alltagsleben gelingt, – und sie nerven hin und wieder, wenn sie nicht eindeutig oder nachvollziehbar sind. Im Straßenverkehr regeln die Verkehrsregeln, wer bei Begegnungen zuerst fahren darf. Ampeln gestatten die freie Fahrt oder unterbinden sie. Verkehrsschilder organisieren den raschen Fluss des Verkehrs, sie regulieren aber auch meine Geschwindigkeit und haben Einfluss auf mein Fahrverhalten. Ich stelle mir vor, dass es keine Regeln gäbe – ein gemeinsames und sicheres Vorwärtskommen wäre auf unseren Straßen undenkbar. Fazit: So einschränkend und regulierend Regeln sind, sie ermöglichen überhaupt erst die Nutzung von schnellen Fortbewegungsmitteln zur gleichen Zeit, denn ein situatives »Aushandeln« via Augenkontakt wäre nicht möglich. Regeln sind nervig – zumal wenn sie für Kinder und Jugendliche von den Eltern ausgesprochen werden. Sie stehen dem persönlichen Empfinden und Wollen entgegen. Kinder können Situationen oft nicht einschätzen und brauchen klare Direktiven, damit ihr Leben gesichert ist. Das betrifft Essen und Trinken genauso wie genügend Schlaf. Die Regeln geben die Eltern vor, kraft ihrer eigenen Autorität, und Kinder haben sie zu befolgen. Übereinstimmend sind die Bedürfnisse dabei nicht immer, sondern eher selten. Jugendliche beginnen, über Regeln zu diskutieren, stellen sie infrage, hinterfragen, möchten ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche stärker berücksichtigt wissen. Das gehört zum Erwachsenwerden dazu: aushandeln, die eigenen Spielregeln definieren. Regeln ermöglichen Leben. Regeln sind gefasste Lebensvollzüge. Habe ich ein Regularium, kann, soll, muss ich mich daran orientieren. Da steht es schwarz auf weiß – eindeutig. Verpflichte ich mich auf eine Regel, dann weiß ich, was ich zu tun habe. Für viele Menschen – damals wie heute – sind Regeln ein Geländer, an dem sie sich orientieren. Sie können aber auch zur Fessel werden. Dies gilt es immer wieder für sich selbst zu überprüfen: Wenn eine Regel etwas Gutem im Wege steht, muss man die Regel ändern oder ihre Übersetzung an eine neue Lebenssituation anpassen. Eine grundsätzliche Frage lässt sich stellen: Warum binden sich Menschen an eine Lebensregel? Orientierung und die Geländerfunktion wurden schon genannt. Vielleicht ist es auch die Angst, in der Freiheit verloren zu gehen. Aus der © PRISMA ARCHIVO – PICTURE-ALLIANCE.COM

8 FRANZISKANER 1|2023 Psychologie ist uns bekannt, dass wir Menschen Freiheit suchen und der Bindung bedürfen. Unser Leben beginnt mit der Ent-Bindung, wir werden ent-bunden und lernen, in Freiheit und neuen Bindungen unterwegs zu sein. Ein Leben in Freiheit und Bindung scheint ohne Regeln nicht zu funktionieren. Ohne Regeln wird das Leben kompliziert Regeln basieren darauf, dass sie von allen eingehalten werden – in der Regel. Nur so zeigen sie ihre Wirkung. Wenn es nur Ausnahmen gäbe – und es gibt sie mehr als genug, selbst gewählte oder von außen zugebilligte –, würde es äußerst kompliziert, ein gutes Miteinander zu ermöglichen. Erst wenn Regeln allgemeingültig sind, von allen Menschen, die die gleiche Sache tun, akzeptiert und anerkannt werden, kann es gelingen, die damit angestrebten Ziele auch zu erreichen. In autoritären Systemen gibt es zu viele Regeln. Sie kontrollieren das Leben und gestehen dem oder der Einzelnen nicht zu, eigenständig und selbst reguliert mit Situationen umzugehen. Sie haben hier in erster Linie den Machterhalt zum Ziel und nicht ein gutes Leben für alle. Wir Menschen haben ein Gespür für Regeln: ob sie sinnvoll sind, ob sie bevormunden, ob sie dem Leben dienen. Und wenn es Regeln gibt, die mit dem Menschenverstand nicht nachzuvollziehen sind, reagieren wir gereizt und unvernünftig. Sind Regeln in Fleisch und Blut übergegangen und somit akzeptiert, finden sie Zustimmung. Regeln haben Bedeutung für das Leben in Beziehungen. Das gilt in gleicher Weise für die Ehebeziehung wie für ein Gemeinschaftsleben. Immer dort, wo mehrere Menschen sich einem Ziel verschreiben, braucht es Regelungen, um dem gemeinsamen Projekt Stabilität zu geben. Benedikt von Nursia verfasst als erster Mönch seine Regel für das Leben in einer klösterlichen Gemeinschaft und beschreibt darin die Grundvollzüge, die für jeden Mönch gelten sollen, insbesondere jedoch für den Abt (Oberen). Die Benediktsregel gilt als Ausweis religiösen Lebens und wurde von vielen Gemeinschaften übernommen und eventuell den jeweils besonderen Lebensumständen angepasst. Regeln für das Unterwegssein in der Welt Franziskus hat mit seinem Lebensentwurf, der nicht den Rückzug hinter Klostermauern, sondern das Unterwegssein in der Welt beinhaltete – »Euer Kloster ist die Welt« –, eine andere, alternative Ausrichtung für ein Leben in Gemeinschaft geschaffen. Von daher war die Regel des heiligen Benedikt nicht brauchbar für eine Gruppe von Brüdern, die sich auf den Spuren Jesu in der Welt unterwegs wussten und das Evangelium als alleinige Richtschnur ansahen. Doch je mehr Brüder sich der franziskanischen Bewegung anschlossen, desto stärker wurde der Ruf nach einer Regel für die Gemeinschaft. Franziskus sträubt sich anfangs gegen einen geschriebenen Text und verweist die Brüder auf die Heilige Schrift. Dort, so ist er überzeugt, steht alles darüber, wie ihr Leben gelebt werden soll. Doch die Rufe nach einer verfassten Regel werden lauter. Die Brüder suchen nach etwas Verbindlichem, an dem sie sich orientieren können. Franziskus schreibt eine erste Regel, die von Papst Honorius nicht anerkannt wird: viel zu sperrig, viel zu viele Zitate aus den Evangelien, viel zu wenig konkret. Diese sogenannte Nicht-bullierte- (= nicht bestätigte) Regel beschreibt eher eine Haltung, die nötig ist, um den Fußspuren Jesu folgen zu können, und gibt weniger konkrete Verhaltensregeln. Sie ist eine Art Orientierungsrahmen. Der Einzelne und die Bruderschaft insgesamt müssen immer wieder neu prüfen, welcher in einer bestimmten Situation der richtige Weg, der Weg Jesu ist – eine große, andauernde Herausforderung, ein ständiger Suchprozess, der vor Irrtümern sicher nicht gefeit ist. Das war für viele zu viel und vielleicht auch für eine so große Bruderschaft kaum lebbar und für die römische Kirche erst recht nicht akzeptabel. Also sollte eine neue Fassung her. 1223 ist es dann so weit: Papst Honorius III. erkennt die zweite Regel, die sogenannte »regula bullata«, an. Hinweis zum Weiterlesen: Die Texte der Nicht-bullierten-Regel und der Bullierten Regel in deutscher Sprache finden sich online unter: >> www.franziskaner.net/bullierte-regel/ Buchempfehlung: Franziskus-Quellen, Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse. Gebundene Ausgabe. 1800 Seiten. Verlag Butzon & Bercker, 2009, Preis: 98 Euro Dieses Werk bietet erstmalig eine Sammlung aller bedeutenden Quellen zur Geschichte der franziskanischen Bewegung des Hochmittelalters in deutschsprachiger Übersetzung und mit ausführlicher Kommentierung.

9 FRANZISKANER 1|2023 Lebt das Evangelium! Meines Erachtens kann man die Regel des heiligen Franziskus und der ersten Brüder in drei Worten zusammenfassen: Lebt das Evangelium! Auf die Regel haben ich und alle meine Mitbrüder die feierliche Profess abgelegt. Deshalb ist die Regel das verbindende Fundament unserer Gemeinschaft und schafft Zusammenhalt. Wie Franziskus dann das Leben nach dem Evangelium auslegt, ist auf der einen Seite berührend; es zeigt seine Sanftmut, wenn er schreibt, dass die Brüder in Not zu den Ministern Zuflucht nehmen und diese sie gütig und mit Herzlichkeit aufnehmen sollen (BR 10,5). Auf der anderen Seite sind manche Stellen von einem hohen Ideal geprägt, wenn er »streng gebietet«, dass die Brüder sich nichts aneignen sollen, weder Haus noch Ort noch irgendeine Sache (BR 6,1). Da sieht unsere Wirklichkeit ganz anders aus. Ich wohne derzeit in Berlin in einem großen Haus und habe ein sehr schönes Zimmer. So musste ich lernen zu akzeptieren, dass ich das Ideal des Franziskus nicht leben kann. Seine Regel und Auslegung mag ich trotzdem. Sie sind mir ein »Stachel im Fleisch«, der mich und die Gemeinschaft immer wieder anspornt, neu in die Tiefe des Evangeliums einzutauchen, um dieses mit ansteckender Begeisterung zu leben. Johannes Küpper OFM, Berlin In zwölf Kapiteln mit wenigen Bibelzitaten und in einer damals üblichen juristischen Sprache verfasst, entspricht sie eher einer klaren Ordensregel. Die Brüder haben nun ein Werk in den Händen, dem nichts mehr hinzugefügt werden soll. Der Orden der Minderbrüder hat eine Lebensform gefunden, der dem eher bunten und mitunter ungeordneten Miteinander Einhalt gebietet und Klarheit schafft, nach innen und nach außen. Das gibt den Brüdern Sicherheit, nimmt jedoch auch Spontaneität und Freiheit. Die Regel schafft Verbindendes, nimmt aber Visionen. Die Regel ordnet, engt jedoch den Freiraum des Bisherigen ein. Den Brüdern, die die Regel einfordern, schenkt sie wohl Verlässlichkeit und Stabilität. Der Regel sei nichts mehr hinzuzufügen, schrieb Franziskus. Dabei wird er einige Zeit später selbst erfahren, dass es erforderlich sein kann, Regeln auch ändern zu können (und zu müssen), wenn sie dem Leben entgegenstehen. Die Ordensstatuten, die Ausführungsbestimmungen zur Regel, haben dies im Laufe der 800 Jahre auch erfahren, meistens durch die Anforderungen einer sich verändernden Welt. Und heute? Das Freiheitsempfinden wächst – die Einsicht in Regeln und die Rücksichtnahme auf andere schwindet. Was passiert, wenn Regeln außer Kraft gesetzt werden und Willkür um sich greift? Eine Frage, die nicht nur Menschen in der Vergangenheit beschäftigt hat, sondern auch heute von großer Sorge begleitet wird, wenn sich Strömungen Bahn brechen, die das Regelwerk des verantworteten Miteinander-Lebens, im Kleinen wie im Großen, national und international, außer Kraft setzen. Regeln sind notwendig; mit ihnen garantieren wir eine Ordnung für ein gemeinsames Leben. Sie müssen immer wieder auf ihre Legitimität hin überprüft werden, auf ihr maßvolles Reglement und ihre Anwendbarkeit. Regeln, von Menschen für Menschen gemacht, dürfen nie das letzte Wort haben. Sie bedürfen der Veränderung, so wie sich auch das Leben verändert. Ohne ihren Kern aufzugeben, bedarf es der behutsamen Korrektur, um lebensfähig zu bleiben. Die einzige Verbindlichkeit, die es zu erhalten gilt, ist diese: Es muss dem Leben dienen. Dies gilt es immer wieder sicherzustellen. Eine Franziskusfigur in Berlin trägt die Regel

10 FRANZISKANER 1|2023 »Leben und Regel der Minderen Brüder ist …« Die Ordensregel kritisch beleuchtet Johannes-Baptist Freyer OFM Für die Franziskanische Familie beginnt mit dem Jahr 2023 eine Serie von 800-jährigen Jubiläen: die Weihnachtsfeier mit Krippenspiel in Greccio 2023, der Empfang der Stigmata 2024, die Entstehung des Sonnengesangs 2024/25, der Tod des Franziskus 2026, die Heiligsprechung von Franziskus 2028. Zu dieser Reihe von Jubiläen gehört im Jahr 2023 auch das 800-jährige Gedenken der Bestätigung der endgültigen Regel des Minderbrüderordens durch Papst Honorius III., die wegen des angehängten päpstlichen Siegels (Bulle) auch »Bullierte Regel« (BR) genannt wird. Kostbarkeit aus der Reliquienkammer des Sacro Convento in Assisi: die Ordensregel, die Papst Honorius III. am 29. November 1223 bestätigte Mit dieser päpstlichen Anerkennung der Regel wird aus der ursprünglichen Bruderschaft um Franziskus von Assisi, die den Fußspuren Jesu Christi im Geist des Evangeliums folgen wollte, definitiv ein kirchenrechtlich errichteter Orden mit dem offiziellen Namen »Mindere Brüder«. Damit wurde eine schrittweise Institutionalisierung der sich am Evangelium orientierenden Lebensweise des Franziskus und der zahlenmäßig schnell wachsenden Bruderschaft innerhalb der Kirche abgeschlossen. Auffallend ist, dass dazu mit der den Text einleitenden Formel »Solet annuere« (im Sinne von: Der © TONI SCHNEIDERS – PICTURE-ALLIANCE.COM

11 FRANZISKANER 1|2023 apostolische Stuhl stimmt, wie gewöhnlich, zu) eine niedrige Kategorie päpstlicher Beurkundungen gewählt wurde. Andere zeitgenössische Orden, wie etwa der Predigerorden (Dominikaner), wurden mit einer bedeutenderen und feierlicheren Formel bestätigt. Tatsächlich bestätigte Papst Honorius, wie es im Text heißt, nur die bereits von seinem Vorgänger Innozenz III. gutgeheißene Regel. Dabei handelt es sich um die 1209 bestätigte Lebensform von Franziskus und der ersten Brüder, die allerdings nur aus wenigen Zitaten des Evangeliums bestand und nicht den Text der Bullierten Regel enthielt. Mit dieser Anknüpfung an eine auch nur mündlich gegebene Erlaubnis aus dem Jahre 1209 umging die päpstliche Kurie 1223 das Verbot des Vierten Laterankonzils von 1215, neue Ordensregeln zu genehmigen. Alle künftigen Regeln sollten sich an den Regeln von Benedikt oder Augustinus orientieren. Das allerdings hatte Franziskus energisch von sich gewiesen. Folglich blieb nur ein frommes Kabinettstück, um den Willen des Franziskus auszuführen und die Konzilsentscheidung zu umgehen. Von einer kirchlich akzeptierten Bruderschaft … Nicht von der Hand zu weisen ist gleichwohl die Tatsache, dass ausgehend von der Urregel eine Entwicklung der Lebensform und folglich auch eine Erweiterung des Urtextes bis hin zur Redigierung eines allerdings päpstlich nicht bestätigten Textes im Jahre 1221, der »Nicht-­ bullierten-Regel« (NbR), stattgefunden hatte. Dieser im Laufe der Jahre zwischen 1209 und 1221 immer wieder erweiterte Regeltext bezeugt die Entwicklung der Gemeinschaft der Minderbrüder angesichts der immer wieder neuen Herausforderungen an ihre Lebensform. Die 24 Kapitel (der NbR) belegen auch, wie Franziskus selbst den Geist des Evangeliums im konkreten Leben der Brüdergemeinschaft verwirklicht sehen wollte. Daher wurden diese Abschnitte ausführlich mit Bibelzitaten untermauert, allerdings nie zur Approbation durch die römische Kurie vorgelegt. Ganz anders liest sich die schon zwei Jahre später approbierte »Bullierte Das Evangelium beobachten »Regel und Leben der Minderen Brüder ist dieses, nämlich unseres Herrn Jesu Christi heiliges Evangelium zu beobachten.« Gefragt, welche Bedeutung für mich unsere Ordensregel hat, komme ich immer wieder auf diesen Satz zurück. Das Evangelium beobachten, mehr will Franziskus nicht für sich und nicht für seine Brüder. Es ist eine Aufgabe, die mit Neugierde zu tun hat. Wer beobachtet, schaut nicht einfach zu, er schaut genau hin, will wissen, um was es geht. Im Evangelium geht es darum, wie sich Gottes Liebe in seiner Menschwerdung in die Welt hineingibt und sich in ihr ausbreitet. Ein guter Beobachter wird sie in Schöpfung und Geschöpfen entdecken. Wenn ich Gott so entdecke, dann kann ich mich ihm nicht entziehen. Mein Leben wird zum Antwortversuch auf das, was ich durch meine Beobachtung entdeckt habe: die Antwort eines Geliebten. Wo mir mein Antworten gelingt, wird diese Welt zu dem, was durch die Botschaft Jesu angekündigt wurde, sie wird zum Reich der Gerechtigkeit und des Friedens, zum Reich Gottes, das unter uns bereits angebrochen ist. Thomas Abrell OFM, München Regel«: In nur zwölf Kapiteln, mit einem Minimum an biblischen Verweisen, dafür aber in der damals üblichen juristischen Terminologie, wurde diese Regel aufgesetzt. Aus einer kirchlich akzeptierten Bruderschaft, die einer größeren Bewegung von Frauen und auch Laien verbunden war, war ein approbierter Orden mit institutionellen Strukturen unter der Schirmherrschaft des Papstes geworden. Diese Regel spiegelt folglich deutlich eine Mutation der Gemeinschaft wider, die sich in wenigen Jahren vollzogen hatte. Aus der anfänglich kleinen Gruppe von Brüdern um Franziskus und einem wachsenden Kreis von Sympathisanten war bereits eine internationale Gemeinschaft von circa 5.000 Brüdern geworden. Erste Strukturen hatten sich in der Einführung von zwölf Provinzen als Lebensräume der Bruderschaft entwickelt. Während der Pilgerreise 1219 ins Heilige Land, mit dem Höhepunkt der friedlichen Begegnung mit dem Sultan, hatte es einen Aufruhr in der Gemeinschaft gegeben. Die Vikare, die Franziskus zur Leitung während seiner Abwesenheit zurückließ, hatten gegen dessen Willen versucht, der Brüdergemeinschaft eine der klassischen Ordensregeln aufzuzwingen. Auch waren immer mehr Kleriker, Prediger, in die Gemeinschaft eingetreten, die keiner Handarbeit mehr nachgingen, wie noch die ersten Brüder. Zudem wurden die ersten festen, wenn auch kleinen Niederlassungen gegründet, und die Brüder zogen nicht mehr, wie die Gründergeneration, als »Itineranten«, Pilger und Fremdlinge, von Dorf zu Stadt, um das Evangelium durch Wort und Tat zu verkünden. Es zeigte sich, dass eine spirituelle Regel auf der Basis interpretierbarer Bibelzitate nicht mehr ausreichte. … zu einem Orden mit institutionellen Strukturen Von einer großen Gruppe, vor allem gebildeter Brüder, wurde eine richtige Regel verlangt. Franziskus selbst sah sich den damit verbundenen Auseinandersetzungen nicht mehr gewachsen und zog sich aus der formalen Leitung der Gemeinschaft zurück, blieb aber der charismatische Stachel im Fleisch der Bruderschaft, der sich aus der Abfassung

12 FRANZISKANER 1|2023 Der Not gehorchen Mich fasziniert an der Regel eines ihrer zentralen Worte: »die Regel geistlich leben«. Ein Schlüssel zum Zugang dieser Weisung finde ich in dem Rat, den Franziskus seinen Brüdern gibt, wenn sie in irgendeine Not kommen. Auf Notsituationen angemessen zu reagieren, ist für ihn eine Form, die »Regel geistlich zu leben«. Den Notwendigkeiten, also dem, was die Not wendet, entsprechend Resonanz zu geben, ist für ihn wichtiger als Buchstabengehorsam gegenüber der Regel. Bei aller Strenge in der Armutsfrage gilt für Franziskus: Die Brüder dürfen nach Maßgabe der Orte und Zeiten und in einer endgültigen Regel nicht verdrängen ließ. Neben ihm waren die Protagonisten dieser Regel einige gebildete Brüder, darunter Juristen, vonseiten der römischen Kurie Kardinal Hugolino, ein alter Bekannter des Franziskus, und nicht zuletzt die 1223 auf dem Pfingstkapitel in Assisi versammelten Provinziale. Gerade aus den Kreisen der Letzteren kam die Forderung nach einer ordentlichen Regel, die dann am 29. November 1223 vom Papst bestätigt wurde. Dass Franziskus sich bei der Endabfassung einmischte, wird im Text selbst deutlich. Die vielen Sätze mit Verben in der ersten Person Singular, in der Ichform, verweisen auf Texteinfügungen durch Franziskus selbst. Auch die auffallend ermahnende Ausdrucksweise, verbunden mit konkreten Weisungen, entspricht seinem gängigen Sprachstil und eher nicht dem kurialen Wortschatz. Auch wenn nur wenige Bibelzitate eingefügt sind, so bleibt doch eine theologisch-spirituelle Ausrichtung des Textes erkennbar, die dem Geist des Heiligen entspricht. Wenn auch die Anpassung der ursprünglichen Lebensform an einen formalen Regeltext für einen sich etablierenden Orden deutlich wird, so bleiben doch die wichtigsten originalen Charaktere des ursprünglichen Lebens – »den Fußspuren des Herrn Jesus folgend« – erhalten: die entschiedene Treue zum Evangelium, der auch der Gehorsam der Kirche gegenüber unterworfen ist; die Vermeidung einer starken Hierarchisierung durch die grundlegende Haltung der Geschwisterlichkeit; die Bedeutung der Gemeinschaft in Balance mit der Würde des Einzelnen; der prophetische Charakter der Verkündigung des Gottesreiches; die Überwindung von Herrschafts- und Machtstrukturen durch den Dienstcharakter; der Sendungsauftrag einer missionarischen Berufung. Allerdings ging die von Franziskus gewollte friedliche und dienende Lebensweise der Brüder unter Andersgläubigen verlustig. Das war der päpstlichen Kurie angesichts der gewollten Kreuzzüge wohl doch zu viel des Guten. Wenn auch das Wesentliche der ursprünglichen Lebensform und Berufung gerettet wurde, so war die Regelbestätigung von 1223 doch ein einschneidender Wendepunkt für die »franziskanische Bewegung«. Diese Regel hat für die Gemeinschaften des sogenannten Ersten Ordens der Minderbrüder bis heute Gültigkeit. Natürlich haben sich die Zeitumstände rasant geändert. Aber die grundlegenden Elemente der franziskanischen Berufung, die trotz aller Widrigkeiten in der Regel zum Tragen kommen, inspirieren und bestimmen nach wie vor sogenannte Konstitutionen, mit denen der Geist des Evangeliums, wie Franziskus und seine Brüder ihn erfasst haben, in unserer Zeit lebbar wird. Johannes-Baptist Freyer OFM lehrte als Professor für Theologiegeschichte und Franziskanische Theologie an der Päpstlichen Universität Antonianum in Rom. Von 2005 bis 2011 war er Rektor der Universität. Heute ist er als Referent bei »Franziskaner Helfen«, der Missionszentrale der Franziskaner, in Bonn tätig. kalten Gegenden entsprechende Kleidung und entsprechendes Schuhwerk tragen. Trotz strengen Geldverbots dürfen sie alles tun, um kranken Brüdern zu helfen. Trotz Reitverbot dürfen sie das Pferd benutzen, wenn beispielsweise eine Krankheit es erfordert. Wer moralisch schwer versagt und sich gegen die Gebote Gottes oder der Kirche versündigt hat und sich in Gewissensnot befindet, soll vom Minister mit Erbarmen aufgenommen werden und Verzeihung zugesprochen bekommen. Dazu gehört auch die Not, dass Brüder manchmal nicht wissen, wie sie Evangelium und Regel überhaupt in ihren konkreten Situationen leben können.

13 FRANZISKANER 1|2023 In Form leben Franziskus verbindet Freiheit mit Regeln »Bist du wieder in Form?« Die Frage richtet sich häufig an Menschen, die durch Krankheit, Burn-out oder Unfall eine Zeit lang ausgeschaltet waren. Hundertjährige und Extremsportlerinnen werden gefragt, was sie derart in Form bringt und in Form hält, dass sie Außergewöhnliches erreichen. Ihre Rezepte enthalten unterschiedliche Zutaten: eine ausgewogene Ernährung, Bewegung, genügend Schlaf, Disziplin, Training, Willensstärke. Extremsportler nennen auch Meditation und Auszeiten als Mittel, die eigenen Ressourcen zu erneuern. Was lässt mich »in Form sein« und bleiben? Kenne ich in meinem Leben Regeln, Rhythmen und Grundsätze, die mir dazu verhelfen? Benedikts Regel Dass Seele und Körper vielschichtig zusammenspielen, wussten auch die Wüstenväter und Wüstenmütter der frühen Kirche. Ihre Weisheitsworte enthalten Erfahrungswerte, die das Leben innerlich wie äußerlich gelingen lassen. Benedikt von Nursia sammelte solche und verband sie mit Erfahrungen religiöser Gemeinschaften, die sich durch achtsame Lebensgestaltung auszeichneten. Seine Klosterregel aus dem 6. Jahrhundert stellt eine derart gelungene Synthese dar, dass sie bis heute weltweit für ein spirituelles und gemeinschaftliches »Leben in Form« genutzt wird. Anselm Grün interpretiert Weisheiten aus der Benediktsregel auch für Manager, ihre persönliche Lebensgestaltung und ihren Einsatz für ein menschlich gutes Klima in Unternehmen. Absage an Regelwerke Als Franz mit seinen ersten Gefährten in Rom eintraf, um ihre neue Lebensform dem Papst darzulegen, suchte der zuständige Kardinal Johannes ihnen die Benediktsregel nahezulegen. Sie hatte in der lateinischen Kirche inzwischen zusammen mit der Augustinusregel, nach Niklaus Kuster OFMCap Auch für diese geistliche Not hat Franziskus ein Einsehen. Resümee: »Die Not hat kein Gebot«, heißt es in der Nicht-­ bullierten Regel (NbR 9,20). Dazu kommt: Die Gemeinschaft findet Stärkung darin, wenn die Brüder einander ihre Not offenbaren. Diese Rücksicht auf Notlagen ist für mich kein Plädoyer für Individualismus in seiner negativen Ausprägung, etwa in dem Sinn, die Plattform und die Vorteile der Gemeinschaft zu nutzen, aber ansonsten zu machen, was mir gefällt … Franz Richardt OFM, Ohrbeck der sich aktive Priester- und Hospitalgemeinschaften zu richten hatten, Monopolcharakter erlangt. Franz stellte sich jedoch quer und errang den Segen des Papstes für eine Lebensform, die einzig das Evangelium als Grundlage und Inspirationsquelle akzeptierte. Zwei Jahre später spiegelt die »Lebensform« für San Damiano dieselbe Freiheit mit Blick auf eine Schwesterngemeinschaft. Beziehungen statt Normen In der forma vivendi für Klara von Assisis Schwestern drückt Franz das Entscheidende in lauter Beziehungen aus. »Von Gottes Geistkraft inspiriert habt ihr euch zu Töchtern des himmlischen Vaters gemacht, dem ihr innig verbunden wie Maria dient«: Die erste Beziehung spricht von freien Töchtern eines Vaters, der alle Menschen geschwisterlich verbindet, und keine irdische Autorität darf diese Freiheit und Verbundenheit durchbrechen. »Ihr habt euch mit dem Heiligen Geist liebend verbunden und entschlossen, das Evangelium so beherzt wie die Apostel zu leben«, die Jesus folgten! »Deshalb versprechen wir Brüder euch Schwestern liebevoll verbunden zu sein und euch sorgsam zu unterstützen.« Franz nennt in 44 Wörtern – im Lateinischen ist es ein einziger Satz – die tragenden Beziehungen, göttliche wie menschliche, sowie die entscheidende Orientierung am Evangelium und an der Lebensweise Jesu. Schritte zur Brüderregel Sowohl Franz wie Klara machten in den folgenden Jahren die Erfahrung, dass eine wachsende Gemeinschaft konkretere Regeln benötigt. Beide weisen jedoch klassische Modelle wie die Benediktsregel

14 FRANZISKANER 1|2023 und zisterziensische Konstitutionen zurück, die Gebet, Arbeit, Gemeinschaftsleben und Gastfreundschaft allzu detailliert festschreiben. »Wo der Geist Gottes wirkt, da ist Freiheit«, hielt schon Paulus fest (2 Kor 3,17). Inspiratio divina steht denn auch an einer Schlüsselstelle der Ordensregel, die von der Aufnahme neuer Brüder oder Schwestern handelt: Von Gottes inspirierender Kraft Geleitete sollen liebevoll aufgenommen werden, geschwisterlich ermutigt die Ratschläge Jesu im Evangelium auf sich beziehen und sie individuell frei in die Tat umsetzen. Das gemeinsame Unterwegssein der Brüder und das Gemeinschaftsleben der Schwestern führte denn auch zu rein praktischen Regelungen. Sie betreffen Gemeinsames wie das Profil der Lebensorte und die Lebensgrundlage, die tragenden Rhythmen im Tag, die Kleidung Der Kapuziner Niklaus Kuster lebt in Rapperswil am Zürichsee und lehrt franziskanische Spiritualität und Kirchengeschichte an der Universität Luzern sowie an Ordenshochschulen in Münster und Madrid. und die Mahlzeiten, die Zuständigkeiten und den Schutz der Gemeinschaft sowie Fragen der Bildung und der Tätigkeiten. Definitive Regeln? Sowohl Franz wie Klara legen nach erfahrungsreichen Jahren eine Regel vor, die vom Papst approbiert wird, wiewohl das Vierte Laterankonzil 1215 solches untersagt hat. Die definitive Brüderregel erhält Ende November 1223 das päpstliche Siegel, Klaras »Lebensform« dreißig Jahre später im August 1253. Beide Texte haben bestätigenden Charakter, nach innen wie nach außen: Als rechtliche und kirchenpolitische Dokumente akzeptieren sie die Minderbrüder und die Armen Schwestern als neue Orden in der lateinischen Kirche und ermöglichen ihnen damit eine weltweite Ausbreitung. Für die Gemeinschaften selbst halten Das Reitverbot Im 3. Kapitel der Bullierten Regel verbietet Franz von Assisi seinen Brüdern ausdrücklich das Reiten, außer eine besondere Notlage oder die Schwäche des Mitbruders machen es erforderlich. Als junger Ritter war er selbstbewusst mit dem Pferd unterwegs, hatte dann aber leibhaftig erlebt, wie ihn die Begegnung mit einem Aussätzigen buchstäblich vom hohen Ross herab auf Augenhöhe mit diesem brachte. Ich kann mich nicht erinnern, schon einmal auf einem Pferd gesessen zu haben, geschweige denn geritten zu sein. Trotzdem hat das Reitverbot für mich eine aktuelle Bedeutung, wenn ich – soweit möglich – bewusst aufs Auto verzichte und öffentliche Verkehrsmittel nutze. »Park & ride« lädt mich ein, der Umwelt zuliebe das Auto stehen zu lassen, stattdessen mit Bus und Bahn zu reisen. So ist reiten (ride) übrigens erlaubt. Desgleichen dürfte mit dem Fahrrad unterwegs zu sein (to ride a bike) Franz gefallen. Die Fahrt mit dem Drahtesel fällt also wohl auch nicht unter das Reitverbot. Maximilian Wagner OFM, Vierzehnheiligen Über die Auslegung des geschriebenen Wortes ließ sich schon immer vortrefflich streiten © S. DILLER – ASSISI.DE

15 FRANZISKANER 1|2023 die Regeltexte die für das Zusammenspiel grundlegenden Vereinbarungen fest. Diese sind nicht von einer Gründergestalt vorgegeben, wie sie etwa Benedikt von Nursia väterlich-meisterlich Anfängern und »Söhnen« auferlegt. Die Lebensformen des franziskanischen Ersten und Zweiten Ordens sind durch brüderliche und schwesterliche Kapitelsversammlungen über Jahre gereift, beraten und in eine stimmige Endgestalt gebracht worden. Dass die Brüderregel »je nach Ort und Zeit und Klima« (BR 4,2) zu interpretieren ist, wahrt die Freiheit der Brüder im gemeinsamen Umgang mit dem Grundlagendokument. Mit der Fantasie der Liebe In der Brüderregel, die vor 800 Jahren vom Papst bestätigt wurde, fehlen viele spirituelle Passagen, die Franz zwei Jahre zuvor mit Gefährten in den Regeltext eingefügt hatte. Sie ließen das Dokument allzu persönlich gefärbt erscheinen, sodass das Pfingstkapitel der Brüder 1221 und päpstliche Juristen den Text zur Verdichtung in die Hände des Gründers zurücklegten. In der Endredaktion fielen neben Gebeten und einem Aufruf an die ganze Menschheit zur gemeinsamen Gottesliebe auch viele Bibelzitate weg. Doch hält der Regeltext in den eröffnenden Worten wie im Schlusssatz unmissverständlich fest, worin die tragende, wegweisende und inspirierende Orientierung liegt: »Leben und Regel der Minderbrüder ist dieses: unseres Herrn Jesus Christus heiliges Evangelium zu beobachten ...« (BR 1,1) – »auf dass wir ... das heilige Evangelium unseres Herrn Jesus Christus beobachten, was wir fest versprochen haben« (BR 12,4). Klara tut es Regel und Leben »Regel und Leben der Minderen Brüder ist dieses …« So beginnt unsere Ordensregel. Regel und Leben – die Regel steht nicht alleine da. Es gibt sie nur zusammen mit dem Leben. Und eigentlich ist das Leben wichtiger als die Regel. 2009, beim 800-jährigen Jubiläum der (verloren gegangenen) Urregel des heiligen Franziskus haben wir uns schon einmal ausführlich mit unserer Ordensregel beschäftigt. Damals war es für mich eine tröstliche Erkenntnis, dass die Regel gar nicht so wichtig ist. Wichtiger ist das Leben. Der Gedanke, der mir am stärksten hängen geblieben ist, hat damit zu tun: Unsere Ordensregel ist keine Vorschrift, sie ist eine Nachschrift. Franziskus hat nicht als Schreibtischtäter eine Regel geschrieben, die den Brüdern vorschreibt, wie sie leben sollen. Franziskus hat gelebt, und dann hat er in der Regel nachgeschrieben, was er mit seinen Brüdern gelebt hat. Und wenn Regel und Leben nicht zusammenpassten, dann wurden die Regel und später die Konstitutionen und Statuten neu geschrieben, damit es wieder stimmte. … Weil es um das Leben geht. Martin Lütticke OFM, Dortmund Franz gleich und fügt zudem ins Herzstück ihrer konzentrisch komponierten Regel die Lebensform der Frühzeit ein: Die Schwestern leben als freie Töchter des himmlischen Vaters und innige Freudinnen des Heiligen Geistes das Evangelium als Weggefährtinnen Jesu, liebend-­ sorgsam unterstützt von den Brüdern (KlReg 6,3–4). Franziskus ermutigt in derselben Freiheit seinen Gefährten Leo, der sich nähere Weisungen erhoffte: »Auf welche Weise auch immer es dir besser erscheint, Christus zu gefallen und seinen Fußspuren und seiner Armut zu folgen, so tut es mit dem Segen Gottes und brüderlich verbunden mit mir« (Leo). Dazu sind keine detaillierten Regeln erforderlich, sondern die Freiheit und die Fantasie der Liebe, persönlich-individuell wie gemeinsam-geschwisterlich. Fresko von Andrea de' Bartoli in der Katharinenkapelle der Basilika San Francesco in Assisi

© ANTON PETRUS – STOCK.ADOBE.COM Ich bin der Herr, dein Gott. 1. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. 2. Du sollst den Namen Gottes nicht verunehren. 3. Du sollst den Tag des Herrn heiligen. 4. Du sollst Vater und Mutter ehren. 5. Du sollst nicht töten. 6. Du sollst nicht ehebrechen. 7. Du sollst nicht stehlen. 8. Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen. 9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau. 10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut. Kurzfassung der Zehn Gebote nach dem Katechismus der katholischen Kirche. Die Zehn Gebote sind im Alten Testament in zwei weitgehend übereinstimmenden Fassungen (Ex 20,2–17; Dtn 5,6–21) überliefert und enthalten eine Liste religiöser und ethischer Regeln, die im Judentum und im Christentum eine grundlegende Bedeutung haben.

17 FRANZISKANER 1|2023 regula bullata Die Bedeutung für den weltlichen Zweig Gisela Fleckenstein OFS Die 1223 durch Papst Honorius III. anerkannte und bis heutige gültige Regel des Franziskanerordens ist auch für den weltlichen Zweig der Franziskanischen Familie ein Meilenstein der franziskanischen Bewegung. Wurde doch darin die Lebensweise des Franziskus von Assisi innerhalb der katholischen Kirche bestätigt. Und nur weil es den Ersten Orden gibt, gibt es auch einen Dritten Orden. Innerhalb des Dritten Ordens nimmt der Säkularorden mit denjenigen, die außerhalb klösterlicher Gemeinschaften weltlich-franziskanisch leben, eine besondere Stellung ein. Der Ordo Franciscanus Saecularis, wie er seit 1978 offiziell heißt, ist weltweit der einzige Laienorden, für den die Spielregeln eines »richtigen« Ordens Gültigkeit haben. Nicht mehr alles ist erlaubt Eine Regel bedeutet eine Verbindlichkeit und eine Richtungsvorgabe. Nicht mehr alles ist erlaubt. Die Nicht-bullierte Regel des Franziskanerordens von 1221 war noch ein gewachsenes Dokument aus den Anfängen des franziskanischen Neuaufbruchs auf dem Weg des Evangeliums. Die Bullierte Regel des Franziskanerordens ist zuvorderst ein kuriales Rechtsdokument. Doch der Inhalt ist nicht verstaubt, da die seit 800 Jahren gültige Urkunde zugleich ein geistliches Dokument ist. Es ist die offizielle Richtschnur für alle Brüder, die im Sinne des heiligen Franziskus und nach seinem Vorbild »die Armut und Demut und das heilige Evangelium unseres Herrn Jesus Christus beobachten wollen, was wir [in der Profess] fest versprochen haben« (BR 12,4). Für Franziskus von Assisi und die franziskanischen Orden gibt es kein Leben nach dem Evangelium ohne die Kirche. Wichtig ist die durchscheinende und bis heute leuchtende Spiritualität der Ordensregel. Franziskanische Spiritualität Dr. Gisela Fleckenstein OFS ist Historikerin und stellvertretende Leiterin des Landesarchivs Speyer. Sie hat zahlreiche Beiträge zur franziskanischen Geschichte veröffentlicht und ist Mitglied des »Dritten Ordens« der Franziskanischen Familie. ist nicht an Strukturen und Hierarchien gebunden. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Dafür steht vor allem der Säkularorden. Schon in seinen Anfängen hatte er Mitglieder aus allen sozialen Schichten. Einfaches Leben und Orientierung am Evangelium Das geistliche Lebensmotto der Brüder ist das einfache Leben. Einfach leben in einer Beziehung zu Gott, in der Geschwisterlichkeit zu den Menschen und in Ehrfurcht vor der Natur und allen Geschöpfen. Dies bedeutet in der Nachfolge des Franziskus den Verzicht auf Besitz und Eigentum, Solidarität mit den Armen, eine Weltzugewandtheit, um das Reich Gottes zu verkünden, und eine allumfassende Geschwisterlichkeit. Die Umsetzung der sich aus dem Evangelium ableitenden Schritte ist immer von der jeweiligen Realität abhängig. Einfachheit ist immer relativ und lässt sich weltweit gelebt kaum an objektiven Maßstäben festmachen. Die Bullierte Regel hat daher nicht zu einer Einheitlichkeit im Franziskanerorden beigetragen, denn mit Berufung auf die Regel entwickelte der Erste Orden neue Zweige, wie beispielsweise Minoriten und Kapuziner. Der Säkularorden erhielt 1289 seine erste eigene bullierte Regel; diese wurde 1883 überarbeitet und dann noch einmal 1978 durch Papst Paul VI. Diese eigene Regel zeichnet eine moderne franziskanische, vor allem durch das Zweite Vatikanische Konzil geprägte Spiritualität aus. Aber weiterhin bleibt die Grundlage das Leben nach dem Evangelium. Und damit schließt sich der Kreis zur Bullierten Regel des Franziskanerordens, die die Franziskanische Familie seit 800 Jahren verbindet.

18 FRANZISKANER 1|2023 Der Schatz der Gesch Alles geregelt – auch außerhalb des Klosters? Frau Bendel, Sie sind Mitglied des dritten, weltlichen Zweiges der Franziskanischen Ordensfamilie (OFS – ordo franciscanus saecularis). In diesem Jahr feiern wir das Jubiläum der Bestätigung der Regel des ersten Ordens vor 800 Jahren. Welche Bedeutung haben Regelwerke nach Ihrer Erfahrung für ein Leben als franziskanisch orientierter Mensch? Wie im alltäglichen Leben braucht es Regeln, damit ein Miteinander gelingen kann. Daher sind Regeln erst einmal etwas Positives – wenn sie nicht zum sogenannten allein seligmachenden Heil erklärt werden und die Luft zum Leben nehmen. Franziskus wollte ja erst einmal gar keine Regel. Aber wenn Menschen dann in größerer Zahl zusammenkommen und gemeinsam leben wollen, braucht es eine Orientierung. Die erste Orientierung sind immer Gott mit seiner Liebe zu uns Menschen und Jesus, der diese Liebe in dieser Welt sichtbar macht. Franziskus hat versucht, diese göttliche Liebe in den Alltag zu übersetzen. Und diesen »Übersetzungsauftrag« hat er uns, die wir franziskanisch in dieser Welt leben wollen, hinterlassen. Gerade in diesen Zeiten, die geprägt sind von Kriegen, Klimakrise, fehlender Nachhaltigkeit, Egoismus und immer mehr säkularen Strömungen, hoffe ich, dass der franziskanische Geist die Welt und auch die römische-katholische Kirche beleben und erneuern kann. Die Regel ist da so etwas wie eine Orientierungshilfe, wie sich franziskanisches Leben weltweit äußern und in verschiedensten Lebensformen entfalten kann. Worin besteht für Sie der wesentliche Unterschied zwischen der Regel des OFS und der Regel des ersten Zweiges? Die Regel für den OFS entstand in direkter Anlehnung an die Regel des 1. Ordens. Aber für uns gilt das ehelose Leben nicht. Und wir leben auch nicht in klösterlicher Gemeinschaft. Das bedeutet für uns auf der einen Seite eine Art »Freiheit«, den Tagesablauf und das geistliche Leben selbst auszugestalten; zum Beispiel die spirituellen Zeiten: wie, womit, wie oft, welchen Inhalt wähle ich, anstatt vorgegebene Gebetszeiten, Brevier, Bibelstudium. Das ist nicht immer einfach, vor allem, wenn man noch Familie hat. Wie kann ich da franziskanische Akzente setzen, ohne die anderen Familienmitglieder zu vereinnahmen? Diese Frage stellt sich auch in anderen Lebensbereichen. Wir können unseren Beruf an unterschiedlichsten Arbeitsstellen ausüben und haben hier die Möglichkeit, den franziskanischen Geist mit hineinzubringen. Das gilt auch für das Ehrenamt. Wer beispielsweise in dem Verwaltungsrat einer Pfarrei mitarbeitet, kann Überzeugungsarbeit leisten, das Geld nach ethisch vertretbaren Gesichtspunkten anzulegen statt nur nach der Höhe der Zinserträge. Oder wenn Politikerinnen und Politiker unserem Orden angehören, können sie in Brüderliches Gemeinschaftsleben Unser Generalminister hat unserer Provinz vor Kurzem geraten, das geistliche und brüderliche Gemeinschaftsleben sei das beste Zeugnis, um jungen Männern, die so ein Leben suchen, eine Perspektive als Franziskaner aufzuzeigen. Auch im Provinzkapitel kamen wir zu der Feststellung: »Die Brüder sollten geistliche Gespräche führen, sich über die Dinge, die sie beschäftigen, austauschen und sich füreinander interessieren …« Ich finde diesen Rat in der Bullierten Regel im Kapitel 6 wie folgt ausgedrückt: »Und wo immer die Brüder sind und sich treffen, sollen sie sich einander als Hausgenossen erzeigen. Und zuversichtlich soll einer dem anderen seine Not offenbaren …« In einer Berufungskrise habe ich mit Mitbrüdern über mein Scheitern und Ringen, meine Schwächen und sonstigen Nöte gesprochen, und es hat sehr geholfen. Einander die Not offenbaren ist für mich wie ein Schlüssel für gelungenes Zusammenleben. So wird eine Gemeinschaft authentisch und lebendig, und aus der offenbarten Not entstehen Verständnis und Humor, die helfen, sich selbst und den anderen so anzunehmen, wie wir sind. René Walke OFM, Hülfensberg

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