Oft ist das, was uns beschäftigt, uns sorgt und uns Angst macht, auch die Quelle für das, was jetzt dran ist. Mit dem Blick auf die Welt aus ihrer Perspektive kommentieren Franziskaner jeden Freitag, was sie wahrnehmen.
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung Carsten Schneider hat in diesen Tagen den Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit veröffentlicht. Die Tagesthemen betiteln ihren Bericht dazu mit „Einige Fortschritte, viele Herausforderungen“. Während die Rentenanpassung mittlerweile abgeschlossen ist, bleibt die Lohngerechtigkeit weiterhin Herausforderung. Und so gibt es unzählige weitere Faktoren, die verglichen und bewertet werden; zeitlich passend zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober, an dem sich die Wiedervereinigung in diesem Jahr zum 33. Mal jährt.
Das Thema bleibt sensibel – Ost oder West – Ossi oder Wessi. Ich lebe in Thüringen, unmittelbar an der Grenze zu Hessen. Unser Franziskanerkloster mit Wallfahrtsort lag zu DDR Zeiten im 500 m Sperrstreifen, ohne Passierschein war kein Hinaufkommen, russische Soldaten hielten Wache. Wenn zu den Wallfahrten der Berg dann doch wieder reichlich mit Menschen gefüllt war, gaben die Soldaten den Mitbrüdern den Auftrag, dafür Sorge zu tragen, dass die Leute nicht vom heutigen Aussichtspunkt Südspitze in den politischen Westen schauen. Kurzerhand stellten die Brüder ein Schild auf mit der Aufschrift: „Gucken verboten!“, was letztlich dazu führte, dass alle hingingen, um nachzusehen, was man denn dort nicht sehen durfte.
Das ist Geschichte. Heute feiern wir am 3. Oktober jährlich die Wallfahrt der Einheit: Sie beginnt in Hessen in der Kapelle der Einheit. Nach dem Wortgottesdienst pilgern wir dann zum Hülfensberg und feiern dort den Abendmahlsteil. Der Prediger des letzten Jahres war unser kroatischer Pfarrer aus der hessischen Nachbargemeinde. Er war recht neu und sagte eingangs: „Ich kenne noch kaum jemanden und man sieht es euch nicht an, ob ihr Wessis oder Ossis seid!“ Und das ist auch nicht wichtig, wie ich finde.
Neben den wohl wirklich wichtigen Fragen zu den Zahlen und der Gerechtigkeit aus dem Jahresbericht gilt es für mich am Tag der Deutschen Einheit an das Wunder zu erinnern. Die Wiedervereinigung in ihrer historischen Geschichte mag den Namen „Vereinigung“ in vielen Bereichen nicht wert sein. Doch der friedliche Fall der Mauer und die Freude dieser Tage sollen wieder lebendig werden und uns Kraft und Zusammenhalt schenken, damit zusammenwächst, was zusammengehört: Ostfamilie, Flüchtlingsfamilie, Westfamilie und alle anderen, die miteinander in unserem Land nach Wegen suchen, Einigkeit und Gerechtigkeit in Freiheit miteinander zu leben.
Der Blick zurück, der Blick nach vorn, und der Blick nach innen.
Franziskaner kommentieren, was wichtig ist.
Immer freitags auf franziskaner.de
Der Beitrag von Bruder René spricht mir aus der Seele. Ich selbst lebe seit vielen Jahren als Wessi hier im hessischen „Grenzgebiet “ und habe kurz nach der Wende sechs Jahre in Thüringen gearbeitet und teilweise auch gelebt. Ja, es dauert, bis das zusammenwächst was zusammen gehört. Aber wir alle, ob Ossi oder Wessi, sollten nie das Wunder der Wiedervereinigung vergessen, dass das alles überhaupt möglich war. Und dafür weiterhin dankbar sein, egal wie schwierig die Zeiten sind. Ich hatte keinerlei familiäre Beziehungen zur DDR, aber mir treibt es noch heute Tränen in die Augen und Schauer über den Rücken, wenn ich an die Zeiten der Wende denke. Lasst uns einfach alle ein bisschen dankbarer und demütiger sein, und nichts vergessen was war. Und die ganz grossen Wunder brauchen vielleicht noch ein bisschen mehr Zeit, die sollten wir uns alle geben. Wir sind auf einem guten Weg. Pace e bene !