Bruder Niklaus Kuster ofmcap

Für uns am Weg geboren – Die Provokation von Greccio

Die Rolle des Herbergswirts war unbeliebt in den Krippenspielen, die wir in der Volksschule zur Adventszeit aufführten. Wer schickt denn schon gern ein junges Paar, das die Geburt seines Kindes erwartet, hilflos in die Nacht? Ablehnung statt Mitgefühl? Geschäfte statt Menschlichkeit? So eindringlich die Spielszene ins Heute spricht, so verzerrend und falsch ist sie historisch!

Mitte Oktober 2019 in Betlehem: Ein jüdischer Führer spricht in einer Felshöhle, die an die „Geburtsgrotte“ grenzt. In solchen Wohnhöhlen hätte damals eine Sippe mit ihren Kindern und Tieren gelebt. Eine niedrige Mauer trennte den Raum der Tiere vom Bereich der Menschen, die nachts auf Matten am Boden ruhten. Auf dieser Mauer und in den Höhlenwänden waren Vertiefungen für das Futter der Tiere. Nachts, wenn Menschen, Schafe und Ziegen schliefen, fanden Säuglinge darin einen bergenden Ort. Die Geburt Jesu werde von der christlichen Antike in diesem Milieu verortet: bei einfachen Leuten am Rand der kleinen Stadt.

Nicht Wirtschaftsgebaren haben „Herbergen“ verschlossen, sondern jüdische Reinheitsgebote. Die junge Jüdin Maria hätte nie im Leben daran gedacht, ihr Kind in einer Herberge zur Welt zu bringen. Karawansereien waren laut und es herrschte oft ein Gedränge – kein geeigneter Ort für eine Gebärende. Doch schwerer wogen religiöse Normen: Nach damaliger Überzeugung machte eine Geburt alle unrein, die irgendwie mit der Gebärenden selbst oder Orten, Gefäßen und Stoffen einer Geburt in Berührung kamen. Und Reinigungszeremonien waren aufwändig! Das Bild der Geburt Jesu in einer Wohnhöhle verortet die biblische Weihnachtserzählung zutreffender, als es die abendländische Tradition mit Stall und hartherzigem Herbergswirt tut. Müssten unsere Krippenspiele also umgeschrieben werden?

 

Das Kloster von Greccio. Bild von Bruder Augustinus Diekmann

Die erste Krippe?
Herbergswirte kommen in der Krippeninstallation nicht vor, mit der Franziskus 1223 in der Heiligen Nacht von Greccio feierte. Der Poverello wird fälschlicherweise als Erfinder der Weihnachtskrippe bezeichnet. Die Tatsache, dass es schon vor Franziskus Krippendarstellungen gab, wird auch von modernen Historikern wie Dieter Berg übersehen, der den Irrtum in seiner Franziskusbiografie von 2017 wiederholt.

Nachdem Franziskus das feierliche Papstschreiben mit dem definitiven Text der Ordensregel in Rom erhalten hatte, kehrte er nach Fontecolombo in den Sabinerbergen zurück und verbrachte da den Advent zusammen mit Brüdern. Hier traf er Giovanni, den Herrn von Greccio, der ihn einlud, die Heilige Nacht mit ihm und Menschen des Tales in seinem Dorf zu feiern. Franz bat ihn, für die Feier eine Waldhöhle vorzubereiten, mit Panoramablick über das ganze Rietital.

Thomas von Celano, der erste Biograf des Heiligen, beschreibt die Feier detailreich: Giovanni stattet die Höhle wunschgemäß mit Heu und Stroh aus. Ein Bauer führt einen Ochsen und einen Esel herbei. Schafe kommen dazu. Was in dieser Szene fehlt, war ein junges Paar mit einem Neugeborenen. Die Weihnachtsbotschaft bewegt die Anwesenden mit nie erlebter Ergriffenheit. Die Mitternachtsfeier spricht alle Sinne der Brüder und Talbewohnenden an: Ihre Nasen können das Stroh riechen, ihre Ohren die Tiere hören. Dass sich Gottes Liebe schutzlos und verletzlich als Kind in menschliche Arme gelegt hat, darüber predigt Franziskus mit Blick auf das Stroh in der Krippe. Diese blieb deshalb leer, weil der Bruder eine Brücke zur Eucharistie schlug, die über dieser Szene auf einem Tragaltar gefeiert wurde. Sahen Hirten damals Gottes Gegenwart in einem Baby, so zeigt sich diese heute im schlichten Brot des Altares.

Innovation und Provokation

Die Weihnachtsfeier in einer Höhle von Greccio hat nicht nur innovative Kraft, die eine reiche Krippenspieltradition begründet und sich heute weltweit in allen Kulturen entfaltet. Sie hat im damaligen Kontext auch provokative Züge! Assisis Domportal stellt das Jesuskind in jenen Jahren keineswegs als „armen König“ dar: Die Gottesmutter sitzt im romanischen Tympanon edel gekleidet auf einem Thron und trägt eine große Krone auf dem Kopf, während sie ihr Kind stillt. Macht und Hoheit kennzeichnen auch in einer Stadt, die den staufischen Grafen kurz zuvor verjagt und eine republikanische Ordnung eingeführt hat, die königliche Würde des Gottessohnes und seiner thronenden Mutter.

Franziskus hatte jedoch als junger Kaufmann in Krise die Nähe des „lichtvollen Gottes, der über allem steht“, nicht in Assisis Kloster- und Stadtkirchen gefunden, sondern draußen vor den Toren: im desolaten Landkirchlein San Damiano! Eine Ikone zeigt den Gottessohn da ganz menschlich, halb nackt und schutzlos, mit offenen Augen, offenen Ohren, weit offenen Armen – am Kreuz und zugleich auferstanden. Indem Franziskus darauf mit seiner Stadt brach und nach San Damiano zog, um das zerfallende Kirchlein wiederaufzubauen, provozierte er Assisis Bürgerschaft: Nicht im Prachtdom San Rufino, der neuen Kathedrale für den Weltenherrscher, erfuhr er Gottes Zuwendung, sondern draußen vor den Toren, in einer ärmlichen Kapelle, einem Zufluchtsort der Randständigen und der Kirche des „armen Christus“. Es war der Anfang von Franziskus’ brüderlichem Leben. In Greccio bekräftigte er gegen Ende seines Lebens dieses Credo: Bereits in seiner Geburt wagt sich Gottes Sohn ganz menschlich und verletzlich in die Welt. Sein irdischer Weg beginnt nicht in Rom, sondern in einem Winkel des römischen Imperiums. Die Geburt geschieht nicht im nahen Palast des Herodes, sondern unter einfachen Leuten. Sie macht keinerlei Schlagzeilen, sondern bewegt zunächst nur Hirten, Menschen am Rand.

 

Orthodoxe Krippenikone (Ausschnitt). Bild von falco auf Pixabay

Pastorale Herausforderung

Im Rietital schweift der Blick von den Felshöhlen der Brüder hinüber zum Dorf Greccio und seiner markanten Kirche. Wie seit vielen Jahren schon feiert der Pfarrer dort in jenem Jahr 1223 Weihnachten im lateinischen Messritus. Weit hinten in der Talebene leuchten zudem die Lichter der Stadt Rieti, wo der adelige Bischof das Geburtsfest Gottes in der Kathedrale pontifikal und im Palast rauschend zelebriert. Die Brüder sprechen 1223 in der Eremitage Greccio vom selben Gott wie der Bischof von Rieti – und doch konträr verschieden: ein Gott, der sich aussetzt und auf Stroh betten lässt, ein Gottessohn, der zwischen Schafen, Ochs und Esel zu finden ist, in kalter Nacht und von nackten Felsen umgeben, in menschliche Arme gelegt und an der Brust einer jungen Frau ruhend. Das brüderliche Krippenspiel in der Feier der Heiligen Nacht nimmt zunächst eine pastorale Herausforderung an: Sie macht Gottes Zuwendung fern der kirchlichen Binnenräume und traditioneller Liturgie in der Lebenswelt der Menschen spürbar.

Soziale Provokation

Im hohen Mittelalter hat die Feier zudem sozial provokative Kraft. Wem wendet Gott sich primär zu? Während sich Städte wie Assisi bürgerliche Freiheit erkämpften, blieb die Landbevölkerung weitgehend leibeigen und abhängig. Freie und gebildete Bürger schauten verächtlich auf Bauernfamilien außerhalb der Stadtmauern, die als kulturlos galten. Gottesgeburt draußen vor den Toren, zwischen Herdentieren, auf Heu und in einer Felshöhle! Franziskus hatte auch die soziale Provokation neu erfasst, die in der biblischen Weihnachtserzählung mitschwingt. Gottes Sohn beginnt seinen Weg von Hirten bewundert, am Rand der Gesellschaft. Und die Fortsetzung der biblischen Geburtsgeschichte spitzt diese Botschaft zu: Ein Despot fürchtet um seine Macht und trachtet dem Kind nach dem Leben. Die Eltern fliehen aus ihrem Land. Jesus hat daher schon als Kleinkind „Migrationshintergrund“.

Eine weitere Provokation liegt in der friedenspolitischen Botschaft: Der Ochse stand seit der Zeit der Kirchenväter für Israel und der Esel für die nicht-jüdischen Völker. Indem Franziskus in der engen Höhle von Greccio nur Tiere und keine Menschen zur Krippe stellt, verdeutlicht er, wem „Friede auf Erden“ verheißen ist: allen Völkern jeden Glaubens. Die Papstkirche hetzte damals gegen die islamische Welt und suchte den Fünften Kreuzzug zum Erfolg zu führen. Franziskus war vier Jahre zuvor mit seiner Friedensmission in Ägypten gescheitert, hatte jedoch im Islam eine Gottesfreundschaft und eine Menschenliebe gefunden, die ihn nachhaltig prägte. Hoffnung ohne Grenzen und Geschwisterlichkeit in der einen Menschheitsfamilie leuchtete auch in Passagen der Brüderregel auf, die das päpstliche Rom aus der eben approbierten Fassung wegstrich. Franziskus‘ Weihnachtsfeier erinnert nun daran, dass Gottes Liebe allen Menschen gilt und keine Gewalt sich auf das Evangelium berufen darf.

Der Evangelist Matthäus, der die Flucht nach Ägypten erzählt, zieht gegen Ende seines Evangeliums ebenso ernste wie zeitlose Konsequenzen aus der Solidarität, die Gottes Sohn schon in seiner Geburt zu allen Menschen zeigt. Wo immer Menschen hungrig und durstig sind, findet sich Gottes Sohn an ihrer Seite. Wo Menschen nackt und fremd sind, lässt Christus sich mit ihnen kleiden und aufnehmen – oder übersehen und abweisen (Mt 25). Wenn Papst Franziskus heute Flüchtlinge an den Grenzen Europas „unsere Geschwister auf der Suche nach einer sicheren Zukunft nennt“, würde sein Vorbild aus Assisi hinzufügen: und sie sind die Lieblingsgeschwister des Gottessohnes, der selber „für uns am Weg geboren“ ist.

Erstveröffentlichung in der Zeitschrift Franziskaner Mission, 2023/4


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