30.08.2019 Bruder Gregor Geiger

Irak zwischen Unsicherheit und Hoffnung

Die christliche Stadt Karakosch / Baghdede

Irakkarte. Karakosch / Baghdede liegt im Nordirak.

Nicht weit von Mossul, dem antiken Ninive – wo der Prophet Jona wirkte, liegt Karakosch oder, wie die Bewohner der Stadt sie nennen, Baghdede. Am 6. August 2014 überrannten Kämpfer des „Islamischen Staats“ (IS) die Stadt. Die Einwohner – etwa 50.000, fast alle Christen – mussten buchstäblich über Nacht die Stadt verlassen. Viele flohen ins nahe kurdische Autonomiegebiet, nicht wenige auch ins Ausland; so auch nach Deutschland, wo es vor allem in Köln, Dortmund und Essen größere Gemeinden von Baghdedern gibt. Die Terroristen plünderten, brandschatzten und nisteten sich in den Häusern ein. Besonders auf christliche Gotteshäuser und christliche Symbole hatten sie es abgesehen. Die Kirchen wurden geschändet und verwüstet, Kreuze und Heiligenbilder zerstört.

Im Oktober 2016 eroberten irakische Truppen Baghdede zurück. Knapp die Hälfte der Einwohner, etwa 22.000, kehrten in den folgenden Monaten in ihre Heimat zurück.

Leben in einer verwundeten christlichen Stadt

Heute, keine drei Jahre später, wirkt die Stadt auf den ersten Blick wie eine normale arabische Kleinstadt. Kirchtürme prägen das Stadtbild. Am Rand der Altstadt befindet sich die Hauptgeschäftsstraße, daneben ein kleiner Basar. Wenige Straßen weiter spielt sich das „Nachtleben“ ab, hauptsächlich in arabischen Cafés und Wasserpfeifencafés. Die Stadt ist ins Umland gewachsen, fast alle Menschen leben in Einfamilienhäusern, die relativ groß sind – arabische Familien sind groß. Am Stadtrand gibt es einen kleinen Park, der hauptsächlich als Kulisse für Hochzeitsfotos dient. Auf den zweiten Blick erkennt man überall Wunden. Häuser stehen leer, sind beschädigt oder ausgebrannt. Dem Kirchturm der Hauptkirche, der Marienkirche, fehlt die Spitze. Der Turm der modernen Mar-Behnan-Kirche (Mar Behnan ist ein Heiliger aus der Gegend) liegt abgeknickt im Hof. Oft sieht man Reste von zerstörten Kreuzen.

Eine der zahlreichen alten Kirchen, in denen die Gemeinde ihre Gottesdienste feiert.

Kaum jemand erzählt von sich aus von den Erfahrungen der Flucht oder der Rückkehr in die zerstörte Stadt. Es scheint, die Wunden sind zu frisch, die Leute richten den Blick auf die Gegenwart und die Zukunft. Beides ist nicht einfach. Der IS hat nicht nur christliche Häuser und Kirchen zerstört, sondern praktisch die ganze Infrastruktur der Region. Vor allem die nahe Großstadt Mossul, in der bis vor wenigen Jahren viele Baghdeder arbeiteten, liegt zu großen Teilen in Trümmern. Ein drängendes Problem ist daher die Arbeitslosigkeit und, damit verbunden, die Perspektivlosigkeit. Immer wieder höre ich, gerade von jungen Menschen, sie wollen weg von hier, weil sie hier für sich keine Zukunft sehen.

Alle Baghdeder haben Verwandte, oft nahe Angehörige, die in der ganzen Welt verstreut leben. Bei der wichtigen Rolle, die die Großfamilie hier spielt, ist das eine enorme Belastung. Andererseits können manche hier nur leben, weil sie von ihren Angehörigen aus dem Ausland unterstützt werden.

Die Sprache Jesu ist hier lebendig

Die Einwohner Baghdedes sprechen bis heute Aramäisch, die Sprache Jesu, die sich natürlich weiter-entwickelt hat. Die Landessprache ist Arabisch, das heute fast alle, abgesehen von einigen älteren Frauen, beherrschen. Die Alltagssprache dagegen ist Aramäisch, das hier, im Gegensatz zu den meisten anderen Orten, wo es noch gesprochen wird, nicht nur auf den familiären oder kirchlichen Bereich beschränkt ist, sondern auch auf der Straße oder im Basar selbstverständlich benutzt wird. Wenn Jesus einen seiner Jünger begrüßt hat, hat er wahrscheinlich zu ihm gesagt „Schlam ‘alach“, „Friede über dir“. Heute grüßt man sich hier mit „Schlama ’lluch“.

Die Christen geben sich durchweg als irakische Patrioten. Die irakische Fahne ist überall zu sehen; auch im Pfarrsaal, wo sie neben der Fahne des Vatikans hängt. Ob der Patriotismus echt ist oder eher eine Notwendigkeit, ist schwer zu beurteilen. Einerseits ist der irakischen Armee die Befreiung zu verdanken. Andererseits ist der irakische Staat weiterhin instabil, nachdem 2003 unter amerikanischer Führung das Regime Saddam Husseins gestürzt wurde.

Familie in den kirchlichen Sozialwohnungen.

Von Saddams Herrschaft ist immer wieder die Rede. Zum einen war er ein Diktator, der kompromisslos und grausam gegen Gegner vorging. Zum anderen genossen unter ihm Minderheiten, also auch die Christen, einen gewissen Schutz. Nach dem Sturz seines Regimes entstand ein Machtvakuum, wirtschaftlicher Niedergang und Chaos waren die Folge. Der Zorn der Mehrheitsbevölkerung richtete sich häufig gerade gegen die Minderheiten und dabei besonders gegen die Christen, da diese im Verdacht stehen, Verbündete der westlichen Länder, vor allem der USA, zu sein, die man hier als christliche Länder betrachtet. Als der amerikanische Präsident damals seinen Krieg gegen das Regime als „Kreuzzug“ bezeichnete, war das Wasser auf die Mühlen vieler Muslime.

„Der Fruchtbare Halbmond“

Baghdede liegt in der Ebene von Ninive. Die Gegend ist fast völlig flach; Getreidefelder, also im August dürre oder verbrannte Stoppelfelder, so weit das Auge reicht – der „fruchtbare Halbmond“. In der Ebene verstreut liegen kleine Dörfer: christliche – syrisch-orthodoxe, syrisch-katholische oder chaldäische –, solche von arabischen Sunniten, von Schabak (Schiiten), von sunnitischen Turkmenen oder Kurden, von Jesiden usw. Manchmal leben zwei oder mehreren dieser Gruppen in einem Dorf. So ist es in weiten Teilen des nördlichen Irak. Die Bevölkerung setzt sich aus einigen größeren Gemeinschaften, vor allem sunnitische Araber und ebenfalls sunnitische Kurden, und vielen kleineren zusammen. Auch Muslime oder Christen bilden keine Einheit, sondern sind unterteilt in verschiedene ethnische und konfessionelle Gruppen. Häufig leben sie problemlos nebeneinander, doch auch Konflikte bleiben nicht aus. Am Ein- und Ausgang jedes Dorfes gibt es einen Checkpoint des Militärs, teils vom irakischen, teils vom kurdischen. Die starke Militärpräsenz ermöglicht es, dass die Lage in der Gegend momentan ruhig ist. Der IS ist zwar aus dem Irak zurückgedrängt, aber es gibt immer noch viele Sympathisanten der Idee eines „Islamischen Staates“.

Wo es geschlossene christliche Gemeinden gibt, wie in manchen Dörfern oder in Stadtteilen einiger Städte – zum Beispiel in Erbil, der Hauptstadt des kurdischen Autonomiegebietes –, haben diese durchaus Zukunft. Schwieriger ist es dort, wo Christen zerstreut leben wie in Mossul. Auch dort wird gerade eine der zahlreichen zerstörten Kirchen wiederaufgebaut. Wenn demnächst die Universität Mossul wiedereröffnet wird, rechnet man auch mit christlichen Studenten, die in einem Studentenwohnheim neben der Kirche eine Heimat finden sollen.

Das kirchliche Leben

Lektor im syrisch-katholischen Gottesdienst. Gläubige beim nachmittäglichen Rosenkranz.

Beeindruckend ist das kirchliche Leben in Baghdede. Die meisten Kirchen tragen noch die Spuren der Zerstörung, sind aber alle wieder für den Gottesdienst hergerichtet. Nach der Befreiung und der Rückkehr der christlichen Bewohner wurden sogar zwei neue Kirchen gebaut. Eine davon ist eine Containerkirche, die zuvor in Erbil (Kurdistan) in einem Flüchtlingslager stand. Dort waren viele Christen aus Baghdede und anderen christlichen Gemeinden untergebracht; die meisten konnten in ihre Heimat zurückkehren.

Es mag für manche Mitteleuropäer befremdlich klingen, dass in einer halb zerstörten Stadt neue Kirchen gebaut werden. Die Kirchen sind jedoch bei den Sonntagsgottesdiensten voll: Kinder, Jugendliche, Erwachsene, ältere Menschen. Für die Menschen vermitteln die Gottesdienste ein Stück Heimat und Normalität.

Der Gottesdienst wird hier im syrischen Ritus gefeiert, der sich etwas vom römischen Ritus (auch „lateinischer Ritus“ genannt), der in der Westkirche üblich ist, unterscheidet. Das Messgewand des Priesters sieht aus wie der Rauchmantel in römisch-katholischen Kirchen. Die Messe beginnt mit der Gabenbereitung, danach folgt der Wortgottesdienst. Der Friedensgruß kommt nach dem Glaubensbekenntnis, die Brotbrechung vor dem Vaterunser. Das Messbuch ist zweisprachig, Syrisch und Arabisch. Mit „Syrisch“ bezeichnet man die Form des Aramäischen, die in der ersten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrtausends die wichtigste Kultur- und Theologensprache des Orients war. Moderne Aramäisch-Sprechende, die kein Syrisch gelernt haben, verstehen davon etwa so viel, wie ein moderner Deutscher vom Nibelungenlied versteht. Bei den Gottesdiensten wechselt der Priester frei zwischen Syrisch und Arabisch, die Wandlungsworte sind auf Syrisch. Im syrischen Ritus gibt es viele Wechselgebete zwischen Priester und Gemeinde. Die Gemeinde kann problemlos in beiden Sprachen antworten. Fast der ganze Gottesdienst wird gesungen, in ganz fremdartigen Melodien. Man kann sich vorstellen, dass solche Melodien schon am Hof von König Nebukadnezar zu hören waren. Oder dass die Priester am Jerusalemer Tempel so ähnlich die Psalmen sangen.

Leere Kirchen: Kein Thema

Etwa ein Dutzend Priester – fast alle jünger als 40 – leben in einem Haus neben der Hauptkirche und betreuen verschiedene Kirchen der Stadt. Weitere Priester, die von hier stammen, leben bei ihren Familien. Priesternachwuchs ist hier kein Thema. Man ist stolz darauf, dass 80 Priester, die aus Baghdede stammen, überall in der Welt wirken, teils als Seelsorger für syrisch-katholische Exil-Gemeinden, teils als Pfarrer ganz „normaler“ Gemeinden.

„Unsere Botschaft ist der Friede“! Bemalte Betonmauer vor der syrisch-orthodoxen Kathedrale, Bagdad.
Bilder von Bruder Gregor Geiger.

Unweit der neuen Containerkirche unterhält die Kirche gut 300 Wohnungen für Familien, die sich kein eigenes Haus leisten können. Eine wichtige Aufgabe der Kirchen ist es, den Menschen Lebensmöglichkeiten zu erhalten – Wohnung, Bildung und Arbeit. Einige der christlichen Kindergärten und Schulen sind wiedereröffnet, bei anderen sind die Renovierungen noch im Gange.

Manche Sorgen der deutschen Kirche können die Menschen hier so wenig verstehen, wie manche Deutsche die Situation der irakischen Christen verstehen können. Leere Kirchen sind kein Thema. „Aus der Kirche austreten“ gibt es nicht. Es sind gewiss nicht alle hiesigen Christen gläubig oder gehen regelmäßig in die Kirche. Aber den christlichen Glauben aufzugeben, ist undenkbar, auch wenn man dafür mit dem Verlust der Heimat oder gar des Lebens bezahlen muss. Eine Diskussion um das Zölibat gibt es hier nicht; es gibt in der syrisch-katholischen Kirche keine Zölibatsverpflichtung für Priester, auch verheiratete Männer können zum Priester geweiht werden. Trotzdem gibt es in der ganzen Diözese nur einen einzigen verheirateten Priester. Die schwindende Rolle der Familie in der westlichen Welt stößt hier auf völliges Unverständnis.

Viele der Christen, die im Irak geblieben sind, sind dankbar für die Unterstützung durch kirchliche Institutionen vor allem aus Deutschland und Italien. „Kirche in Not“ ist vielen ein Begriff.

In der syrisch-katholischen Kathedrale in der Hauptstadt Bagdad sind 2010 bei einem Gottesdienst 47 Gläubige bei einem Terroranschlag getötet worden. Der Komplex wurde daraufhin von einer Betonmauer umgeben und wird vom Militär bewacht. Die Betonmauer wurde bemalt. Auf einer der Wände steht auf Arabisch ein beeindruckendes Zeugnis des christlichen Selbstverständnisses in diesem Land geschrieben: „Unsere Botschaft ist der Friede“

Erstveröffentlichung: Zeitschrift Franziskaner Winter / 2020


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