Als Bruder Jordan von Giano, der erste Chronist der Franziskaner in Deutschland, nach seinem Besuch beim Generalminister des Ordens in Italien im Jahr 1231 Bruder Thomas von Celano wiedertraf, war die Freude groß. Beide gehörten zur Schar von zwei Dutzend Brüdern, die sich auf besonderen Wunsch des Franziskus ein Jahrzehnt zuvor auf den Weg über die Alpen zu den Deutschen gemacht hatten. Während Thomas wenige Jahre später nach Italien zurückkehrte, baute Jordan als Kustos von Thüringen weiter tatkräftig die deutsche Provinz mit auf. In seiner Freude über ihr Wiedersehen, schenkte Thomas – der sich gerade einen Namen als „Franziskus-Biograf“ erarbeitete – seinem alten Weggefährten Reliquien des sehr jungen Heiligen Franziskus. Mit diesen überaus kostbaren Geschenken im Gepäck, wanderte Jordan über Würzburg zurück in seine Ordenskustodie nach Eisenach. Dort angekommen, übergab er die Reliquien seinen Mitbrüdern in einem feierlichen Akt, den Jordan in der für ihn typischen demutsvollen Art ausführlich beschreibt.
In dieser Reliquienübertragung schwingt die Frage mit, wie es nach dem Tod des Franziskus 1226 und seiner sehr zügigen Heiligsprechung 1228 um die Zukunft der Gemeinschaft bestellt war? In der sogenannten „Ersten Lebensbeschreibung des heiligen Franziskus“ von Thomas von Celano, aber auch in den Reliquien, lebte das Charisma des Armen aus Assisi als Identifikationsfigur zwar fort, doch war damit noch keine problemlösende Antwort über die Zukunft der Gemeinschaft gegeben. Was sich im Schatten der Lichtgestalt des Franziskus schon begann abzuzeichnen, forderte seine Nachfolger und mit ihnen die Brüder insgesamt unmittelbar heraus: Die Aufgabe, aus einer charismatisch geführten Gemeinschaft eine regelgeleitete Institution zu formen oder anders formuliert: Aus Spontaneität musste auf Dauer und folglich von Intuition auf Institution umgestellt werden.
Dass dieser unumgängliche Prozess ebenso tiefgreifend wie spannungsreich verlaufen würde, sah bereits Franziskus kommen. Entsprechend versuchte er mit seinem Testament, dem sicherlich persönlichsten Text, den wir von ihm besitzen, den Ursprung seiner Bewegung zu bewahren: „Und nachdem mir der Herr Brüder gegeben hatte, zeigte mir niemand, was ich tun sollte, sondern der Höchste selbst hat mir offenbart, dass ich nach der Form des heiligen Evangeliums leben sollte…“. Unterdessen stieg die Zahl seiner Brüder in die Tausende. Allein in Deutschland waren es gegen Ende des ersten Jahrzehnts ihrer Präsenz einige Hundert, die von Augsburg bis Lübeck und von Bremen bis Magdeburg Konvente gegründet hatten und unentwegt neue Gegenden für den Orden erschlossen.
Das nicht absehbare Ende des Wachstums schuf indes Probleme in organisatorischer, aber auch in spiritueller Hinsicht. Die deutsche Provinz wurde nur neun Jahre nach ihrer Gründung 1230 in eine Rheinische und eine Sächsische Provinz aufgeteilt, um die Wege und die Vielzahl der Klöster innerhalb der Provinzen so zu organisieren, dass deren Leitung durch den Provinzial und die Kustoden einigermaßen gewährleistet werden konnte. Mit der äußeren Expansion ging eine nicht weniger einschneidende innere Entwicklung des Ordens einher. Aus den in Kleingruppen von Ort zu Ort ziehenden Brüdern, die unter den Menschen lebten, in einfachen Worten predigten und in Hospitälern aushalfen, wurde nach und nach eine in Klöstern sesshafte Ordensgemeinschaft.
Die Gründe für diesen Wandel waren ganz unterschiedlich: Einerseits zeichnete sich mit der Zeit immer deutlicher ab, dass nicht alle Brüder in gleicher Weise für ein Leben als Wanderprediger geeignet waren. Überdies stieß diese Lebensform zudem perspektivisch an natürliche Grenzen, denn ältere Brüder mussten dem durchaus strapaziösen franziskanischen Wanderleben Tribut zollen. Andererseits wurden die Stimmen innerhalb und außerhalb des Ordens lauter, die eine Weiterentwicklung der Predigttätigkeit sowie einen Ausbau des seelsorglichen Angebots forderten. Dieser vielschichtige Prozess wurde von den Päpsten gefordert und gefördert sowie von den Ordensgenerälen befördert. Dadurch änderte sich das innere Gefüge und das äußere Bild der ursprünglichen Gemeinschaft um Franziskus, von der der Bischof und Historiker Jakob von Vitry noch um 1221 schrieb, die Brüder lebten nach der Weise der Urkirche. Die päpstlich verordnete Einführung des einjährigen Noviziats 1220, die schriftliche Fixierung der durch den Papst bestätigten Ordensregel 1223, die Einrichtung von Studienhäusern zunächst in den Universitätszentren Paris, Oxford und Bologna, aber auch in Magdeburg sowie weiteren Städten seit den 1220er Jahren und nicht zuletzt die rasche Zunahme der Priesterbrüder markierten die Wegstrecke zu einem generationenübergreifenden Orden.
Was ein Teil der Brüder positiv als Konsolidierungsprozess der Gemeinschaft werteten, nahm ein anderer Teil als fortschreitende Selbstentfremdung namentlich von den Zielen des Franziskus wahr. Bei den langwierigen und phasenweise auch heftigen Auseinandersetzungen im Orden, erwiesen sich die deutschen Franziskaner als durchaus streitbar. Zusammen mit den Brüdern der englischen Provinz führten sie die Opposition gegen den Generalminister Bruder Elias an, der 1239 abgesetzt wurde. Derweil teilten sich im selben Jahr 1239 beide Provinzen in Deutschland abermals: An Sprachgrenzen orientiert, teilte sich die Rheinische Provinz in die Straßburger und Kölnische Provinz auf, während sich von der Sächsischen die Skandinavische und Böhmische Provinz abtrennte. Die Provinzen wurden provinziell, was sich auch in der Herkunft neuer Brüder spiegelte: Auf die multinationale erste Brüdergeneration folgte eine regional verwurzelte zweite Generation.
Aufs Ganze gesehen erwuchs aus der anfänglichen Brüderschaft um Franziskus binnen weniger Jahrzehnte ein Orden, der die Grenzen der lateinischen Christenheit überschritt. Doch drängt sich angesichts der Entwicklung die vielleicht überraschende Frage auf: Wer hat den Orden eigentlich gegründet? War es der charismatische heilige Franziskus oder war es nicht eher das Werk der ersten Generalminister, die den Orden formten? Vermutlich war es eine Gemeinschaftsleistung.
Lesetipp: Vergegenwärtigung der Geschichte
Aufbau der Provinzverwaltung
Nachdem sich 2010 vier Franziskanerprovinzen in Deutschland zu einer großen Verwaltungseinheit vereinigt hatten, musste eine neue Verwaltung für mehr als 350 Brüder und 35 Klöster aufgebaut werden.