06.12.2023 Interview mit Till Magnus Steiner

Israel/Palästina: Für Frieden braucht es ein Wunder

Überall ist die Hoffnung auf Frieden in diesen Tagen ein Thema, nicht nur auf einer Hausfassade in Frankfurt am Main. Aber es herrschen Kriege überall auf der Welt. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine führt zu großen Ängsten und Verunsicherung, nun schreckt weiteres Blutvergießen. Auch wenn bei uns das geschäftige Treiben der Vorweihnachtszeit nicht ruht, ist der Schock über den Krieg im Heiligen Land überall zu spüren.

Am 7. Oktober wurden bei einem Terrorangriff der Hamas 1200 friedliche Menschen auf einem Festival und in mehreren Kibbuzim im Süden Israels grausam ermordet. Mehr als 240 Menschen wurden als Geiseln nach Gaza verschleppt. Um die Terrororganisation auszuschalten und die Geiseln zu befreien, folgte ein massiver Angriff der israelischen Armee gegen Terroristen und Organisationsstrukturen der Hamas im Gazastreifen. Bis Mitte November forderte dieser Krieg wahrscheinlich schon über 10.000 vor allem zivile Opfer in diesem dicht besiedelten Gebiet und löste eine humanitäre Krise unvorstellbaren Ausmaßes aus. All dies hat nicht nur im Nahen und Mittleren Osten, sondern weltweit zu massiven Protesten geführt und in vielen Ländern gesellschaftliche Spaltungen vertieft. Eine auf Dauer tragfähige und für beide Seiten akzeptable Friedenslösung für die Menschen in Israel und Palästina scheint derzeit kaum vorstellbar.

Die Redaktionsmitglieder der Zeitschrift „Franziskaner“, Bruder Johannes Roth und Thomas Meinhardt, sprachen am 31. Oktober 2023 mit dem Theologen und Journalisten Till Magnus Steiner, der seit zehn Jahren mit seiner Familie in Jerusalem lebt, darüber, wie er diese Tage und Wochen erlebt, die Auswirkungen einschätzt und ob und wie er die Chancen für eine zukünftige tragfähige Lösung für Israelis und Palästinenser sieht.

 

Br. Johannes Roth: Herr Steiner, was war Ihrer Meinung nach der Auslöser für diesen in dieser Dimension noch nicht da gewesenen Angriff der Hamas auf Zivilisten in Israel?

Till Magnus Steiner ist katholischer Theologe, Bibelwissenschaftler und freier Journalist. Er lebt mit seiner Familie in Jerusalem. Bild von Steiner, privat.

Till Steiner: Das ist eine schwer zu beantwortende Frage, warum die Hamas gerade jetzt Israel angegriffen hat. Das Massaker geschah kurz nach dem 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Krieges in einer Zeit, in der sich mehrere arabische Staaten offen für Friedensverträge mit Israel zeigen. Im Rahmen der Abraham Accords Declaration haben die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain Israel anerkannt, und zwischen Saudi-Arabien und dem jüdischen Staat gab es bedeutende Fortschritte auf dem Weg zu einer Normalisierung der Beziehungen. Dadurch verlieren die Palästinafrage und auch die Hamas in der arabischen Welt an Relevanz, mit der Folge, dass die Perspektiven für eine grundlegende Verbesserung der Lebenssituation der Menschen in Gaza schwinden.

Was ich jedoch viel deutlicher als den Auslöser dieses Terrorangriffs sehe, ist, dass den Israelis vor Augen geführt werden sollte: Ihr seid nicht sicher, ihr seid in eurem eigenen Land nirgendwo sicher vor uns. Das Ziel war eine blutige Machtdemonstration der Hamas. Das so etwas passieren könnte, haben in den letzten Jahren einige, so zum Beispiel der ehemalige israelische Verteidigungsminister Avigdor Lieberman, vorausgesagt. Diese Warnungen wurden aber nicht ernst genommen. Die Regierung in Israel glaubte, dass der Hamas daran gelegen sei, sich eher als Regierung in Gaza zu festigen und deshalb nach den Erfahrungen des letzten Gaza-Krieges kein Interesse an einer großen Auseinandersetzung mit Israel habe. Und genau das hat sich nicht bewahrheitet. Im Endeffekt hat die Hamas mit ihrem Anschlag deutlich gemacht, was ihr Ziel ist: die Vernichtung des Staates Israel.

Thomas Meinhardt: Musste die Hamas nicht von Anfang an damit rechnen, dass ein solcher Terrorangriff einer Selbstmordaktion wegen der Reaktion Israels gleichkommt?

Till Steiner: Es gibt die Theorie, dass die Hamas geglaubt habe, mit der Entführung vieler Geiseln ihre in israelischen Gefängnissen sitzenden Kämpfer freizupressen. Doch das halte ich für unwahrscheinlich. Ja, die Hamas musste damit rechnen, dass diese Terroraktion zu einem sehr verlustreichen Krieg gegen Israel führt. Sie sind bewusst und mit äußerster Brutalität nach Israel eingedrungen. Sie haben zudem ihre Brutalität gefilmt, online gestellt, und wir alle in Israel haben an diesem Samstagmorgen, am 7. Oktober, direkt diese furchtbaren Videos vor Augen gehabt, die man sich nicht im schlimmsten Traum hätte ausdenken können und deren Schreckensbilder die ganze Nation traumatisiert haben.

Thomas Meinhardt: Es ist ein ähnliches Vorgehen wie beim sogenannten Islamischen Staat vor einigen Jahren.

Till Steiner: Genau. Und das war, denke ich, das Ziel der Hamas und – so muss man es leider auch sagen – ihr Erfolg. Den Krieg hat die Hamas am ersten Tag gewonnen – zumindest anfänglich –, weil in der israelischen Gesellschaft momentan jeder Glaube an die eigene Sicherheit komplett zerstört ist. Das ist der Sieg, den die Hamas schon erreicht hat; und es ist auch nicht auszuschließen, dass die Hamas Interesse hat an einem langen blutigen Konflikt und den damit einhergehenden Bildern, um ihre Position in der arabischen Welt und der palästinensischen Gesellschaft zu festigen. Der Kampf in Gaza wird wahrscheinlich Monate dauern. Es wird ein Straßenkampf. Und die Hamas ist darauf vorbereitet, mit ihren Tunnelsystemen. Vielleicht glaubt die Hamas wirklich, dass sie diesen Krieg irgendwie gewinnen bzw. einen Waffenstillstand erreichen könnte. Das sei dahingestellt. Aber aus israelischer Perspektive steht fest: Nachdem die Hamas am 7. Oktober mordend einmarschiert und bis in die Schlaf- und Kinderzimmer schutzloser Familien eingedrungen ist, kann nichts mehr sein wie zuvor. Die Bilder des Massakers und die Angst, die mit ihnen einhergeht, werden aus den Köpfen der Israelis nie wieder verschwinden. Daher kann es aus der Sicht des Staates Israel nur ein Kriegsziel geben: die völlige Entmachtung der Hamas.

Ich habe nach dem 7. Oktober viele Gespräche mit Freunden geführt. Am meisten davon hängen geblieben sind die Worte einer engen Freundin, die viele Jahre in der Holocaust-Gedenkstätte in Yad Vashem gearbeitet hat. Sie sagte mir: »Ich habe dort jahrelang gearbeitet, mich mit den Gräueltaten der Nazis beschäftigen und viele Menschen durch die Ausstellung führen können, weil ich wusste, dass diese Zeitvorbei ist. Ich dachte, wir leben im Staat Israel als Juden in Sicherheit. Hier gibt es zwar Terroranschläge, aber hier gibt es einen Staat, der mich beschützen kann. Und dann dies: Mitten im jüdischen Staat findet ein Pogrom gegen Juden und Jüdinnen statt.« Die Terroristen der Hamas haben den jüdischen Bürgern Israels deutlich gezeigt: Selbst in eurem eigenen Staat, in euren eigenen Betten seid ihr nicht sicher. Und diese Botschaft und die damit einhergehende Angst ist nun in den Köpfen vieler meiner Freundinnen und Freunde verankert. Darum kämpft jetzt Israel mit seiner Armee und hat dieses klare Kriegsziel ausgerufen: Von der Hams darf keine Gefahr mehr ausgehen, es darf diese Terrororganisation im Gazastreifen nicht mehr geben.

Thomas Meinhardt: Wer wird in der israelischen Öffentlichkeit dafür verantwortlich gemacht, dass so etwas überhaupt geschehen konnte, was man sich bis dahin nicht vorstellen konnte?

Till Steiner: Die Schuldfrage ist eindeutig: Der Staat hat komplett versagt. Die jüdischen Staatsbürger haben verstanden: Der Staat, der mich beschützen soll, der Staat, der mir zugesichert hat »Nie wieder Holocaust, nie wieder Pogrom«, hat komplett versagt. Das heißt: Auch die Köpfe der Armee und der Sicherheitsdienste haben versagt und dies auch eingestanden. Auch Naftali Bennett, der ehemalige Ministerpräsident, hat erklärt, er habe Fehler begangen. Einzig Benjamin Netanjahu sieht bisher keinerlei Schuld bei sich selbst. Das wird in der israelischen Öffentlichkeit allerdings anders gesehen.

Das, was am 7. Oktober geschehen ist, war auch so furchtbar, weil Israels Sicherheitskräfte zu spät reagiert haben. Es dauerte zum Teil Stunden, bis in bestimmte Kibbuzim Soldaten eintrafen. Freunde von uns saßen über zwölf Stunden in dem Kibbuz, in dem das Musikfestival stattfand, mit Zwillingen, die vier Monate alt sind in einem Schutzraum – einem Raum zum Schutz vor Raketen, nicht vor Terroristen. Die Kinder haben geweint, und die Eltern mussten ihre Hände vor die Münder der Kinder halten und haben einfach gebetet, dass sie dort wieder lebend rauskommen. Die Angst ist nun ein dauernder Wegbegleiter in ihrem Leben. Wenn man so etwas erlebt hat, wenn man Angehörige oder Freunde an diesem schrecklichen Tag verloren hat – und Israel ist ein kleines Land, jeder ist hier direkt oder indirekt Leidtragender des 7. Oktobers –, dann ist klar: Die Bilder und Erlebnisse von diesem 7. Oktober werden in den Köpfen dieser und der nächsten Generation immer präsent sein und die Gesellschaft in Israel auf Jahrzehnte prägen. Viele Menschen hier haben nun noch eine größere Angst ¬– und das ist das Gefährliche – nicht nur vor dem Terror, sondern auch vor der anderen Seite, vor den Palästinensern.

Br. Johannes Roth: Haben die massiven gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die geplante sogenannte Justizreform der rechtsreligiösen Regierung einen Anteil daran, dass die staatlichen Organe Israels hier versagt haben?

Till Steiner: Das würde ich nicht sagen. Ich komme gleich auf die Frage zurück. Zuerst möchte ich jedoch betonen, dass ich es bemerkenswert finde, was in Israel passiert ist: Bis zum 7. Oktober war die Gesellschaft aufgrund der geplanten Justizreform gespalten. Ja, entscheidend in den Protesten war auch der Widerstand vieler Reservisten, die sich klar gegen die Regierung positioniert haben und ihren Dienst verweigert haben. Doch am 7. Oktober schaltete die israelische Gesellschaft um – an einem Tag – und sagte: Jetzt sind wir eins. Die Protestbewegung, die jede Woche über 100.000 Demonstranten gegen die Justizreform auf die Straße gebracht hat, wurde von einer Minute auf die andere auf eine Hilfsorganisation umgeschult und hat das geleistet, was in den ersten Tagen die Regierung nicht geschafft hat. Die Erste Hilfe für die Bewohner des Südens, also für die Terroropfer, kam von diesen Menschen, die vorher gegen die Regierung demonstriert haben. Das ist etwas sehr Bemerkenswertes. Im Krieg, trotz aller Spannungen in der Gesellschaft, steht Israel als ein Volk zusammen und stellt sich gemeinsam gegen die Terroristen.

Aber um Ihre Frage zu beantworten: Das Problem waren nicht die Spannungen in der Gesellschaft. Das Problem war eine fatale Fehleinschätzung: Man hat die Bedrohung durch die Hamas nicht mehr ernst genommen; und zwar nicht nur in Israel, sondern auch nicht in den USA. Man muss sich das mal verdeutlichen, mit Blick auf das, was am 7. Oktober geschehen ist: Der sogenannte Sicherheitszaun, der den Gazastreifen von Israel trennt, war überhaupt nicht gebaut, um eine solche Bedrohung abzuwehren. Die Terroristen haben diesen Zaun einfach überrannt. Die Arbeitshypothese nach 2014 – dem vorherigen großen Gaza-Krieg – war, dass die Hamas geschwächt ist und es ihr darum geht, die Macht im Gazastreifen aufrechtzuerhalten. Und man hatte den festen Glauben im Sicherheitsapparat in Israel, dass die Hamas zwar immer wieder Gefechte anfangen wird, um eine größere Fischereizone zu bekommen, um mehr Waren über die Grenzübergänge zu erhalten usw., aber man hat nicht daran geglaubt, dass sie einen Krieg riskieren und das, wofür die Hamas ja eigentlich steht, nämlich diesen Israelhass, wirklich in die Tat umsetzen würde. Man hatte mit Terroranschlägen gerechten. Daran ist man in Israel gewöhnt. Man hat gedacht, es wird wieder zu Raketenangriffen kommen. Man hat die Lage einfach unterschätzt, weil man geglaubt hat, die Hamas wäre an einer Deeskalation interessiert. Doch am 7. Oktober zeigte sich das genaue Gegenteil. Es ging um den reinen Terror. Der Hamas geht es nicht um ihr politisches Überleben. Ihr geht es um ihre Ideologie. Und das hat sie deutlich gezeigt. Die Folge ist, dass für die Zivilisten im Gazastreifen nun im wahrsten Sinne des Wortes die Welt untergeht. Aber das ist dieser Terrororganisation egal.

Br. Johannes Roth: Vielen Beobachtern erscheint es unwahrscheinlich, dass die Hamas einen solchen großen Angriff alleine organisieren konnte. Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach der Iran und auch die libanesische Hisbollah in diesem Konflikt, und wie groß ist die Gefahr eines Flächenbrandes oder einer weiteren Eskalation im Norden Israels?

Till Steiner: Momentan führt Israel nicht nur einen Krieg im Gazastreifen, sondern kämpft im Norden gegen die Hisbollah, fliegt Angriffe gegen Stellungen pro iranischer Milizen in Syrien und wird aus dem Jemen beschossen. Diese vier Regionen haben gemeinsam, dass dort Terrororganisationen aktiv sind und großen Einfluss haben. Nicht die Staaten führen die Kriege, sondern die Hamas und die Hisbollah und im Jemen die Huthi-Rebellen. Das sind alles Terrorgruppen, die finanziert und ideologisch unterstützt werden vom Iran. Sie werden ausgebildet und erhalten Waffen vom iranischen Regime. Das heißt, was im Gazastreifen passiert, kann man nicht trennen vom Iran. Welches Interesse aber hat der Iran an einer solchen Gewalteskalation? Da kommt vielleicht die Theorie vom Anfang zum Ausdruck, dass der Iran einfach große Angst hatte vor der Normalisierung der Beziehung zwischen Israel und Saudi-Arabien, die die Position des Iran in der Region wahrscheinlich sehr schwächen würde. Eine solche Normalisierung ist jetzt de facto durch den Krieg auf Eis gelegt. Man muss aber auch sagen, dass der Iran zwar seinen »Halbmond der Sicherheit« um Israel herum aufgebaut hat, aber keine alleinige Entscheidungskraft besitzt. Die Hisbollah beispielsweise ist ein Staat im Staat im Libanon. Und die Hisbollah wird sich nicht opfern für den Iran. Das sieht man auch sehr gut im aktuellen Gaza-Krieg. Im Gazastreifen öffnet sich gerade die Hölle, und oben im Norden wird sehr zurückhaltend – nach mathematisch anmutenden Regeln – gekämpft. Sowohl auf der Seite der Hisbollah als auch auf der Seite Israels. Niemand will dort einen entfesselten Krieg, die Hisbollah nicht und Israel nicht. Und man sieht sehr genau, es wird sozusagen Zahn um Zahn, Auge um Auge geschossen. Die Hisbollah möchte und muss auch zeigen, allein um ihren eigenen Machtanspruch aufrechtzuerhalten, dass sie an der Seite der Palästinenser steht. Sie unterstützt ihre »Brüder« im Gazastreifen. Andererseits hat die Hisbollah kein Interesse an einem Krieg mit Israel nach der Erfahrung von 2006. Und die Hisbollah ist Teil eines sehr ausgeklügelten Machtgefüges im Staat Libanon, der ja ein zerbrechliches Konstrukt ist. Sollte die Hisbollah Israel massiv militärisch angreifen, verliert sie gleichzeitig ihre Position im Libanon, weil Israel dann in den Libanon einmarschieren und das Land zum Schlachtfeld würde.

Das Gefährliche an der Nordgrenze ist im Endeffekt die Frage, ob die Mathematik im täglichen Ablauf funktioniert: »Wir schießen euch einen Panzer kaputt, ihr schießt uns eine Raketenabschusseinrichtung kaputt.« Was passiert, wenn bei diesen Gefechten im Norden ein Schuss fehlgeht? Dann brennt es dort.

Thomas Meinhardt: Wie wirkt sich der Krieg in Gaza auf das Verhältnis zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten aus? Besonders wenn der Krieg aller Voraussicht nach eine ganze Weile andauern wird und er unter Umständen weiterhin sehr schlimme Bilder produzieren wird. Könnten auch die arabischen Regierungen destabilisiert werden?

Israel, geografische Übersicht. Skizze von Agentur Meinhardt.

Till Steiner: Die ersten Friedensabkommen hatte Israel mit Jordanien und Ägypten geschlossen, doch diese waren nie »warme« Friedensabkommen. Es waren Friedensabkommen mit zwei arabischen Regierungen – es war nie ein wirklicher Frieden zwischen den Völkern. Weder der jordanische König noch as-Sisi in Ägypten haben jemals darauf verzichtet, Israel wegen der Behandlung der Palästinenser scharf zu kritisieren. Ihre Kritik war und ist ohne Zweifel zum Teil berechtigt, doch sie dient in den meisten Fällen zur innenpolitischen Stabilisierung des Machtsystems. Und dies kennzeichnet genau die Spannung, in der die arabischen Machthaber stehen, wegen des zunehmenden Drucks auf ihren Straßen. Der Israelhass wird in den nächsten Monaten zunehmen, sozusagen gefüttert durch blutige Bilder aus dem Gazastreifen. Traurigerweise können wir davon ausgehen, dass je weiter die Bodenoffensive voranschreitet, je weiter Israel in den Süden vordringt, desto blutiger wird der Krieg sein. Das Kalkül der Hamas basiert genau darauf: umso blutiger, umso besser. Kurz nach dem 7. Oktober erklärte die Hamas öffentlich, dass sie sich nun eine Erhebung der arabischen Völker gegen Israel wünsche. Aus meiner Perspektive ist klar, dass keine der arabischen Regierungen ein Interesse daran hat, in einen Konflikt mit Israel zu geraten. Die Machthaber werden einen Balanceakt versuchen, um zu zeigen, sie stehen an der Seite der Palästinenser. Sie werden das auch nicht nur mit Worten versuchen, sondern mit Sendungen von Hilfsgütern etc., in der Hoffnung, dass dies die Stimmung auf der Straße knapp unter dem Siedepunkt hält.

Doch was in den nächsten zwei, drei Monaten mit diesem Siedepunkt passiert, das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Es ist ähnlich wie bei dem Konflikt mit der Hisbollah im Norden. Es ist ein sehr ausgeklügeltes Spiel. Selbst ein Erdogan, der eine unglaubliche Polemik an den Tag legt, hat kein Interesse an einem israelisch-türkischen Konflikt. Und das ist Teil des großen Problems der Palästinenser: Es gibt viele Lippenbekenntnisse, es gibt viele Solidaritätsbekundungen, aber die Palästinenser sitzen zwischen den Stühlen, zwischen der Hamas auf der einen und Israel auf der anderen Seite, und keine Hilfe ist in Sicht.

Thomas Meinhardt: Israel hat vor allem zwei Ziele seiner Bodenoffensive in Gaza formuliert: die vollständige Zerstörung der Organisationsstruktur der Hamas und die Befreiung aller Geiseln. Widersprechen sich nicht beide Ziele ein Stück weit, da die Hamas – wenn sie die Geiseln nicht mehr als Tauschobjekte einsetzen kann – sie als menschliche Schutzschilde einsetzen könnte? Und ist ein monatelanger Krieg in den Tunneln und Gassen eines dicht besiedelten Gebietes zu gewinnen ohne unvorstellbar viele zivile Opfer? Und kann sich Israel dem schon jetzt starken internationalen Druck – insbesondere auch ihres Hauptverbündeten USA – lange widersetzen?

Till Steiner: Die israelische Regierung sagt, dass ohne den Druck einer Bodenoffensive es keine zielführenden Verhandlungen über die Befreiung der Geiseln geben könne. Und die israelischen Streitkräfte glauben, die Möglichkeit zu haben, Geiseln zu befreien, wie es ja gerade erst in einem Fall passiert ist. Eine andere Frage ist: Was ist am Tag nach dem Krieg? Und da hat Israel innenpolitisch als auch außenpolitisch momentan keine andere Wahl, als zu erklären: Die Hamas wird nach diesem Krieg nicht mehr im Gazastreifen herrschen. Das ist, nicht nur aufgrund des 7. Oktobers, sondern auch wegen der Raketenangriffe aus Gaza seit mittlerweile zig Jahren ein andauerndes Thema in der israelischen Gesellschaft. Immer wenn Raketen fliegen, fragen vor allem die Anwohner des Südens, warum es keine Bodenoffensive gibt, die die Terror-Herrschaft der Hamas beendet und den Bewohner im Süden Israels ein Leben in Frieden ermöglicht. Der 7. Oktober war jetzt der Punkt, an dem die Regierung nichts anders mehr sagen konnte als »Ja, wir gehen mit einer Bodenoffensive rein«.

Das Problem dieses Krieges bzw., der ausgerufenen Ziele ist folgendes: Israel wird erst den Gazastreifen besetzen müssen; ansonsten hat die Armee keine Möglichkeit, die Hamas von ihrer Machtposition zu entfernen. Gehen wir mal davon aus, dass Israel den Gazastreifen besetzt und kontrolliert, aber die Hamas, bzw. ihre Anhänger und viele ihrer Kämpfer werden dann immer noch dort sein. Dann kommt das nächste große Problem Israels. Israel sagt deutlich: Wir haben kein Interesse, aus dem Gazastreifen eine zweite Westbank zu machen. Sie wollen nicht dauerhaft Gaza besetzen und die Herrschaft übernehmen. Das ergäbe auch allein schon aufgrund der demografischen Entwicklung gar keinen Sinn für Israel. Aber: Wer wird sich dann um Gaza kümmern? Weder Ägypten noch Jordanien wollen und werden das tun, sie haben genug eigene Probleme. Die einzige Option, die jetzt noch übrig zu bleiben scheint, wäre, dass die Fatah das Gebiet übernimmt. Sie herrscht momentan in den autonomen Gebieten in der Westbank. Doch man darf nicht vergessen, dass die Hamas nach einem Bürgerkrieg 2007 die Macht im Gazastreifen an sich gerissen und der Fatah entrissen hat. Die Fatah und die Hamas sind – trotz mehrerer Versuche einer Einigung – doch weiterhin konkurrierende, ja verfeindete Gruppen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft. Wenn also Israel nach dem Krieg Gaza wieder verlässt und an die Fatah übergibt, würde das vielleicht wieder zu einem Bürgerkrieg im Gazastreifen führen. Und selbst nach so einem Krieg gegen Israel würde wohl die Hamas, realistisch betrachtet, diesen Bürgerkrieg wieder gewinnen. Dann wäre die Situation im Endeffekt wieder wie vorher, und alles ginge von vorne los.

Eine Möglichkeit, die auch noch debattiert wird, ist, dass ein anderer arabischer Staat die Verantwortung für den Gazastreifen übernimmt. Ich gebe zu, das klingt jetzt weit hergeholt. Aber ich könnte mir vorstellen, dass gerade im Zuge der Normalisierung der Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und Israel das saudische Königshaus ein Interesse daran haben könnte, als starke Regionalmacht diese Verantwortung zu übernehmen: Also, Saudi-Arabien verwaltet den Gazastreifen, steckt Geld in die Infrastruktur und regiert im Gazastreifen. Das ist im Augenblick schwer vorstellbar, aber es gibt aus meiner Sicht momentan keine realistischere Möglichkeit.

Wenn man bedenkt, dass Saudi-Arabien seine Machtposition im Nahen Osten ausbauen möchte, das saudische Königshaus eine sehr enge Verbindung mit den USA hat, weiterhin militärische Hilfe und einen Atomreaktor von den USA möchte, eine Normalisierung der Beziehungen mit Israel anstrebt und immer wieder betont, dass man eine Lösung für die Palästinenser braucht, dann kann ich mir vorstellen, dass Saudi-Arabien im Rahmen einer Normalisierung mit Israel sagt: »Wir übernehmen für eine Übergangszeit die Regierungsverantwortung für den Gazastreifen.« Eine solche Entwicklung würde bei den Palästinensern sicherlich keine große Begeisterung hervorrufen, aber eine zufriedenstellende Lösung gibt es vermutlich derzeit nicht.

Thomas Meinhardt: Wäre da nicht eine Regierungsübernahme durch die Fatah vielleicht mit Hilfe arabischer Staaten beim Staatsaufbau nicht doch ein realistischerer Weg, damit die Palästinenser sich selber regieren können und die Option eines palästinensischen Staates – also die international geforderte Zweistaatenlösung – möglich wird?

Till Steiner: Aber die Fatah verliert selbst zunehmend ihrer Machtposition in der Westbank. 75% der Palästinenser in der Westbank wünschen sich eine Absetzung von Mahmud Abbas, des palästinensischen Präsidenten und Vorsitzenden der Fatah. Ein Grund, warum es so lange in der Westbank keine Wahlen gab, ist auch, dass seine Partei gegen die Hamas verlieren würde. Die Hamas hat auch in der Westbank immer noch sehr viel Unterstützung. Und wir sehen in den letzten Monaten zunehmend, dass die Fatah ihr eigenes Gebiet nicht mehr verteidigen kann. So waren im Norden der Westbank, in Jenin, über mehrere Monate die Sicherheitskräfte der Fatah gegenüber neu gegründeten Milizen unterlegen und hatten keine Chance, die Region zu kontrollieren. Das heißt, die Fatah ist selbst unglaublich geschwächt. Sie wird nur noch zusammengehalten durch Präsident Abbas und seine Vetternwirtschaft.

Thomas Meinhardt: Hat nicht auch die israelische Regierung in den letzten Jahren alles dafür getan, die Fatah und die Palästinensische Autonomiebehörde zu schwächen, und die Hamas geschont, um mit dem Argument, es gäbe keinen eindeutig legitimierten Partner, nicht über einen palästinensischen Staat verhandeln zu müssen?

Till Steiner: Ja, das war ein Grundfehler der Politik von Benjamin Netanjahu. Seine Zugeständnisse an die Hamas haben zugleich die Fatah geschwächt. Er hoffte, vielleicht so die Spaltung des palästinensischen Volkes dauerhaft zu vertiefen.

Thomas Meinhardt: Geschieht nicht genau das aktuell wieder in der Westbank? In der Presse – zum Beispiel auf tagesschau.de – wird von täglichen bewaffneten Überfällen israelischer Siedler – teils in Militäruniform (Reservisten) – berichtet, um weitere Palästinenser von ihrem Land und aus ihren Dörfern in der Westbank gewaltsam zu vertreiben? Da die Sicherheitskräfte der Autonomiebehörde nicht eingreifen können, werden diese doch systematisch vorgeführt.

Till Steiner: In der Westbank versuchen Siedler die Situation auszunutzen. Man muss aber auch sagen, dass da zumindest die Israelischen Streikräfte und der Staat Israel reagieren und versuchen, Siedler festzusetzen und die von ihnen ausgehende Gewalt zu verhindern.

Br. Johannes Roth: Ich würde gern noch einmal den Blick auf die Lage in Gaza richten. Wir sehen teilweise schon jetzt, zu Beginn der Bodenoffensive, die fürchterlichen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung in Gaza. Wie wird sich das auf die Bevölkerung in Gaza auswirken?

Till Steiner: Die großen Verlierer in diesem Krieg sind die Zivilisten im Gazastreifen. Für sie geht gerade die Welt unter. Sie sind in einem riesigen Gefängnis. Keiner hilft ihnen. Keiner wird sie da rausholen. Die, die flüchten wollen und können, werden aus dem Norden in den Süden des Gazastreifens flüchten. Der Rest kann oder will nicht flüchten; viele, weil die Hamas sie nicht flüchten lässt, was ein Drama an sich ist. Also haben sie das Problem, dass die Hamas sich ihnen entgegenstellt. Und wenn sie dann bleiben, haben sie das Problem, dass Israel mit Gewalt den Norden des Gazastreifens massiv bombardiert, um sicherer und einfacher mit der Bodenoffensive voranzukommen. Die Zivilisten in Palästina sind gefangen zwischen allen Fronten und haben keine Möglichkeit sich zu verteidigen. Das muss man auch deutlich sagen: Sie sind die Opfer des Krieges im Gazastreifen. Und das lässt sich nicht schönreden. Das ist eine humanitäre Katastrophe. Da werden noch furchtbare Bilder auf uns zukommen von sterbenden Kindern, von getöteten Kindern, von toten Familien.

Die Palästinenser ringen um ihr Überleben gegen die Hamas und gegen die israelischen Streitkräfte ohne Unterstützung von irgendjemandem. Da kann Erdogan in der Türkei noch so großartige Reden halten oder as-Sisi in Ägypten. Keiner kümmert sich um die Palästinenser. Sie sind traurigerweise Kanonenfutter und werden von der einen Seite als Schutzschild benutzt und von der anderen Seite als Kollateralschaden definiert.

Die schwierigere Frage ist die Frage, was macht das jetzt mit der israelischen Gesellschaft? Die Regierung hat sehr klar kommuniziert, und das wurde auch von der Bevölkerung akzeptiert, dass ein langer Krieg bevorsteht – ein Krieg, in dem viele Söhne und Töchter des israelischen Volkes sterben werden. Doch breite Bevölkerungsschichten – natürlich nicht alle – sind der Überzeugung, dass es hier um das Überleben Israels geht. Für viele erinnert der 7. Oktober an den Holocaust und die Pogrome, und sie denken, dass jetzt die Existenz des Staates Israel verteidigt werden muss.

Thomas Meinhardt: Der US-amerikanische Präsident Biden fordert von der israelischen Regierung immer eindringlicher eine Antwort auf die Frage nach den langfristigen Zielen des Gaza-Krieges und spricht sich – wie auch die EU und andere – für ernsthafte Verhandlungen mit dem Ziel einer Zweistaatenlösung aus. Aber ist das aus israelischer Sicht überhaupt noch eine Option und wenn nicht was dann?

Till Steiner: Die Zweistaatenlösung, die von den USA und der EU angemahnt wird, ist aus meiner Sicht leider schon länger politisch tot. Denn für eine Zweistaatenlösung bräuchte es einen zweiten Staat. Die Palästinensische Autonomiebehörde ist ein fragiles Gebilde, dem die Palästinenser selbst nicht mehr vertrauen. Aus meiner Sicht wäre derzeit ein palästinensischer Staat ohne die Hilfe eines anderen Staates nicht lebensfähig. Sie bräuchten aus meiner Sicht dann Israel oder einen Staat X, der hilft, staatliche Strukturen aufzubauen. Das heißt aber am Anfang auch, dass die Palästinenser ihre Autonomie für eine Zeit lang aufgeben müssten. Aus eigener Kraft können die Palästinenser den Neuanfang nicht schaffen, da die Strukturen durch die Besatzung und durch die palästinensischen Führungseliten selbst runtergewirtschaftet sind.

Daher denke ich, dass das Reden von einer Zweistaatenlösung eine schöne diplomatische Floskel ist, um darauf hinzuweisen, dass Gerechtigkeit geschaffen werden muss. Den Weg dahin, den kennt keiner, und den will auch keiner kennen, weil alle Lösungen unglaubliche Probleme mit sich bringen.

Die traurige Realität ist, dass eine Zweistaatenlösung weit entfernt ist und es keine andere irgendwie hoffnungsvolle Perspektive für das palästinensische Volk zu geben scheint. Wenn man von einer idealen Welt reden würde, hätte Israel eigentlich die Verantwortung, den palästinensischen Staat aufzubauen. Aber im Angesicht von Terror und Sicherheitsfragen wird Israel diesen Schritt nicht wagen. Und dann sind wir wieder beim Ausgangsproblem: Wenn Israel dies nicht wagt, und Israel ist am engsten verbunden mit den Palästinenser, dann wird es auch kein anderer wagen.

Thomas Meinhardt: Muss nicht trotz all dieser schwierigen Vorzeichen von der internationalen Gemeinschaft, aber auch von Israel und den arabischen Nachbarstaaten nach Wegen gesucht werden, die ein besseres und selbstbestimmteres Leben für die Palästinenser ermöglichen? Nicht nur aus Gründen der Gerechtigkeit, sondern auch um nicht in ein paar Jahren eine neue, vielleicht noch schlimmere Gewaltexplosion zu erleben mit schrecklichen Folgen für die Menschen in Israel und Palästina und der Gefahr eines Flächenbrandes für die ganze Nah- und Mittelostregion.

Till Steiner: Ihre Frage zielt ja auf eine Hoffnungsperspektive ab, und ich würde Ihnen gerne eine Hoffnungsperspektive aufzeigen. Aber ich glaube, Israel ist an Ruhe gelegen. Israel hat kein Interesse daran, einen palästinensischen Staat zu ermöglichen. Das ist traurige Realität. Israel will Sicherheit und Ruhe haben. Und wenn das bedeutet, die Palästinenser kleinzuhalten, dann ist das die Zukunft. Und das ist keine schöne Hoffnungsperspektive. Es braucht ein kleines Wunder im Nahen Osten – traurigerweise.

Br. Johannes Roth: Ich würde gerne noch einen anderen Aspekt ansprechen: Die Christen sind zwar in Palästina und Israel eine Minderheit, sind aber in gewissen Bereichen des Landes, gerade im sozialen Sektor, ein nicht unbedeutender Faktor. Welche Rolle können sie in dieser Situation spielen?

Till Steiner: Die Christen in Israel und in den palästinensischen Gebieten sind eine sehr kleine Minderheit, die in diesem Nahostkonflikt zwischen beiden Stühlen sitzt. So gesehen müssen sie sehr gut aufpassen, dass sie nicht zerrieben werden in diesem Konflikt. Die christlichen Gemeinden werden keine Vermittlungsposition zwischen den Kriegsparteien einnehmen können. Aber die Christen haben die Chance zu sagen, dass sie als Teil beider Gesellschaften trotz allem aufgrund ihrer religiösen Überzeugung daran glauben, dass Frieden möglich ist. Ich glaube, dass, was Christinnen und Christen am besten machen können in diesem Kontext, ist unablässig öffentlich für Frieden zu beten, ohne auf das Tagesgeschäft des Krieges einzugehen.

Br. Johannes Roth: Und welche Möglichkeiten gibt es für Christen und Kirchen in Deutschland in dieser Lage hilfreich zu sein?

Till Steiner: Ich glaube, für viele Pilgergruppen und Gemeinden, die das Heilige Land sehr gut kennen, sind das sehr schwierige Tage. Ich weiß von vielen Leuten, dass sie täglich am Liveticker sitzen, alles lesen und verzweifelt sind. Sie erleben diesen Krieg aus der Ferne mit. Und man ist natürlich angesichts dieser Bilder nicht nur vom 7. Oktober, sondern auch von den aktuellen Bildern aus Gaza einfach hilflos und möchte etwas machen. Und ich glaube, was man zuallererst machen kann – und das ist nicht wenig –, ist einfach im Gebet öffentlich für Frieden einzutreten und dabei aufzupassen, dass es nicht politisch wird. Dass man Sicherheit für die Menschen erbittet. Das ist ein wichtiges Zeichen, glaube ich, denn in dem ganzen Hass, der jetzt auch auf deutschen Straßen zutage tritt, braucht es Menschen, die ihre Stimme für den Frieden einsetzen. Viele Menschen im Gazastreifen beten auch um Frieden. Viele Israelis beten für einen sicheren Frieden. Und sich diesem Gebet anzuschließen, ist ein bedeutsames Symbol.

Die christlich geprägten Hilfsorganisationen sind derzeit zudem auf jeden Cent angewiesen, um weiterhin sagen zu können: Wir stellen uns gegen diesen Konflikt, wir helfen den leidenden Menschen und hoffen auf eine friedliche Zukunft. Daher kann man auch durch Spenden helfen; zum Beispiel an die Franziskaner im Heiligen Land, die mit ihrer Arbeit in Kinderheimen und anderen Sozialeinrichtungen in der Westbank, in Gaza und auch in Israel Menschen helfen, die vom Krieg betroffen sind; oder mit Spenden an den Deutschen Verein vom Heiligen Lande Heilig-Land-Verein, der sehr gute und wichtige Sozialarbeit vor Ort leistet.

Thomas Meinhardt: Sie sagten, man solle für den Frieden beten und aufpassen, dass man sich nicht politisch positioniert. Das ist erst mal einleuchtend. Die Frage ist: Ist ein Friedensgebet nicht in der aktuellen Situation schon eine Positionierung? Oder wird es zumindest als eine solche empfunden, aufseiten Israels oder der jüdischen Gemeinden? Also nach dem Motto: Die beten für Frieden, wo wir uns im Gazastreifen wehren müssen gegen die Hamas und diese ausschalten müssen.

Till Steiner: Christen in Europa erleben gerade eine gewisse Hilflosigkeit. Sie wollen etwas machen. Und der Kern unseres Glaubens ist der Glaube an diesen einen allmächtigen Gott. Und in der Hilflosigkeit, das lehren uns die Psalmen, ist die letzte Möglichkeit das Gebet zu Gott. Und wenn ich um Frieden bitte, kann das schnell falsch verstanden werden. Sollen wir um einen Waffenstillstand beten, auch wenn das für Israel keine Option ist? Ein Gebet ist weder ein politischer noch ein diplomatischer Akt, doch wie in der Politik und der Diplomatie muss man die eigenen Worte mit Bedacht wählen. Gebete sind eben nichts einfach Dahingesagtes. Man muss die passende Sprache finden. Das ist die große Herausforderung. Zum Glück gibt es da die Psalmen: Sie reden zu und über den Gott des Friedens, wie Paulus unseren Gott nennt, als jemandem der »den Bogen zerbricht, die Lanze zerschlägt; Streitwagen im Feuer verbrennt«. Vater unser im Himmel, wann zerbrichst Du endlich die Waffen, mit denen die Menschen sich töten? O Gott, wann schenkst Du uns Deinen ewigen Frieden? – Wir müssen eine Sprache finden, mit der wir Gott darum bitten, dass eine friedliche, sichere Existenz für die Menschen möglich ist. Als Christen dürfen wir gegenüber Gott und der Welt nicht sprachlos bleiben. Wir müssen eine Sprache für uns und in der Öffentlichkeit finden, mit der wir Gott darum bitten, dass eine friedliche, sichere Existenz für alle Menschen möglich ist, auch wenn die politische Situation, der Krieg uns täglich vor Augen führt, dass dies unmöglich sei.

 

Dieser Artikel erschien in gekürzter Form in der Zeitschrift „Franziskaner“ Winter 2023


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