Bruder Johannes-Baptist Freyer

Wie die Franziskaner das Kreditwesen in Europa revolutionierten

Die Geschichte der "Monti di Pietà"

Neben den Großbanken gibt es in Deutschland ein weit verbreitetes Netz von Genossenschaftsbanken. Die Ansätze derselben gehen auf die Grundsätze der Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung von Franz Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Die Zwecke waren im Wesentlichen die Kapitalansammlung und Kreditgewährung für kleine Leute, die Unterstützung von kleinen Betrieben und die Schaffung von landwirtschaftlichen Genossenschaften, um kleineren landwirtschaftlichen Betrieben einen gemeinsamen Absatz und Einkauf zu ermöglichen.

International bekannt geworden sind auch die Mikrofinanzinstitute, die mit Kleinkrediten die Existenzgründung für Mittellose, oft Frauen, ermöglichen. Alle diese Institute arbeiten innerhalb der heutigen modernen Finanzsysteme.

Bereits im späten Mittelalter hatten die Franziskaner die Mikrofinanzierung ins Leben gerufen. Symbolbild Geldmünzen von Ugza auf Pixabay

Die zugrunde liegenden Ideen und Anliegen sind jedoch nicht neu. Bereits im späten Mittelalter ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts hatte die Franziskanische Bewegung Vorläufer der modernen genossenschaftlichen Institutionen und der Mikrofinanzierung ins Leben gerufen. In einer Epoche wirtschaftlicher Umwälzungen durch die städtische Bevölkerungsexplosion, die Verelendung der Landbevölkerung, den Niedergang des lokalen Handels infolge der Expansion des internationalen Handels drohte breiten Bevölkerungsschichten die Verarmung. Um dieser zu entgehen, wurden zur Absicherung des Arbeitsmarktes und für handwerkliche Existenzgründungen Kredite benötigt. Diese aber waren entweder mit horrenden Zinszahlungen – oft bis zu 40 Prozent und mehr – verbunden oder scheiterten an der Frage der Kreditwürdigkeit.

Seelsorger dieser kleinen Leute in den Städten waren hauptsächlich die Brüder der Observanten, einer Reformbewegung innerhalb des Franziskanerordens, gemeinsam mit den Mitgliedern des 3. Ordens, die die karitativen Initiativen der Predigerbrüder unterstützten. Um der Finanznot der lokalen Handwerker, Händler und Arbeiter abzuhelfen, wurden diese Mitglieder der franziskanischen Familie aktiv. Animiert durch Schriften zur Ökonomie der franziskanischen Philosophen und Theologen, wie Alexander von Hales, Bonaventura und vor allem Petrus Johannis Olivi, von dem erste ausführliche Abhandlungen zur Ethik der Marktwirtschaft stammen, begannen sie, lokale Genossenschaften und Kreditinstitute auf „Non-Profit“-Basis zu gründen.

Diesen Institutionen gaben sie den Namen „Monte di Pietà“, wörtlich übersetzt „Berg der Frömmigkeit“ bzw. „Berg der Barmherzigkeit“. Der Name ist treffend. In der Finanzsprache des Mittelalters hat der Begriff „Monte“ (Berg) die Bedeutung von „eine Summe Geld“. Gleichzeitig ist er eine Anspielung auf die biblische Bedeutung des Berges als Ort der Gottesbegegnung. Der Begriff „Pietas“ bedeutet im mittelalterlichen Latein zunächst „Frömmigkeit“. In den Auslegungen der franziskanischen Schriften ist Frömmigkeit aber nicht nur eine Haltung des gläubigen Menschen vor Gott, vielmehr gebietet sie, dem anderen wohlwollend zu begegnen. Die Grundlage der Frömmigkeit ist das Bild Gottes im anderen. Sie befähigt die Menschen, sich daran zu erinnern, dass sie Brüder und Schwestern sind. Das Beispiel für diese geschwisterliche Frömmigkeit ist der heilige Franziskus. Er wurde in seiner Frömmigkeit so ergriffen, dass er den Aussätzigen, wie er selbst in seinem Testament schreiben ließ, in Barmherzigkeit begegnen konnte. Frömmigkeit und Barmherzigkeit werden so in der franziskanischen Leseweise zum Synonym.

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Konsequenterweise bedeutete es nun, den in wirtschaftliche Not Geratenen mit Frömmigkeit bzw. Barmherzigkeit zu begegnen, indem ihnen ganz konkret mit solidarischen Krediten geholfen wird. Da die wirtschaftliche Not kein Einzelfall war und sie sowohl strukturelle Ursachen im Ausufern des kapitalistischen Systems als auch im Zinswucher hatte, war mit Almosen allein keine Abhilfe zu schaffen. Daher sollte zum damaligen kapitalistisch ausufernden Kreditwesen eine Alternative geschaffen werden. So wurde 1462 in Perugia der erste „Monte di Pietà“ gegründet. Dem folgten innerhalb der nächsten fünf Jahrzehnte Institute in 17 weiteren italienischen Städten.

Diese von den Franziskanern gegründeten und von den Mitgliedern des 3. Ordens betriebenen Kooperativen und sozialen Kreditinstitute orientierten sich an den in der Franziskanerschule formulierten Prinzipien des Marktes. Das Marktgeschehen wurde als ein System von Beziehungen definiert, das auf gegenseitigem Vertrauen und Glaubwürdigkeit beruht. Als Beziehungsgeflecht sollte der Markt ein Treffpunkt der Wirtschaft sein, der auf einer soliden Gegenseitigkeit beruhend einen angemessenen Profit ermöglicht, der das Wohlergehen der einzelnen Beteiligten als auch der Allgemeinheit fördert. Dazu wurde ein Konzept der wirtschaftlichen und moralischen Produktivität gefördert, dass die ständige Zirkulation des Reichtums in gerechter Weise ermöglicht. Das durch Gewinne kapitalisierte Geld wurde als ein öffentlicher Schatz betrachtet, welchen die wohlhabenden Bürger investieren, um Armut zu begrenzen oder sogar zu beseitigen.

Die Regel der fließenden Zirkulation des Reichtums zur Förderung des Allgemeinwohls wurde als eine spirituelle Dimension des Marktes gedeutet. Das mag für heutige kapitalistische Ohren befremdlich wirken, dass dem Geld, wenn es dem Allgemeinwohl dient, eine spirituelle Dimension zuerkannt wurde. Die Gründung der „Monti di Pietà“ sollte der Verwirklichung dieser Vorstellung des Marktes dienen, und die Motivation dazu wurde anschaulich definiert.

  1. Ein Teil des Geldes, das Eigentum einzelner Personen war, sollte für den öffentlichen Gebrauch zur Verfügung stehen. So wird der Reichtum Einzelner für den sozialen Gebrauch umgewandelt und das Geld für den kollektiven Gebrauch auf dem Markt zur Verfügung gestellt, um durch Arbeit schaffende Maßnahmen die Vergrößerung des Marktes zu fördern.
  2. Den Menschen, die keinen Zugang zu herkömmlichen Krediten hatten, sollte ein günstiger Kredit angeboten werden, um aus einer wirtschaftlichen Notlage herauszukommen.
  3. Personen, die arm waren, aber es durch Ausbildungsmaßnahmen und Hilfen zur Existenzgründung schaffen konnten, sollte ein Zugang zum Markt ermöglicht werden.
  4. Die allgemeine wirtschaftliche Situation sollte zugunsten eines allgemeinen Nutzens verbessert werden.
  5. Die Kreditvergabe zu guten Konditionen sollte einen Beitrag leisten, um zu vermeiden, dass öffentliche Organisationen durch Wohltätigkeit oder Sozialhilfe einspringen müssen. Der Kredit basierte in der Regel wenn möglich auf einem Pfand, und eine Rückerstattung der Kosten für die erbrachte Leistung in Höhe von ca. fünf Prozent wurde erwartet.
  6. Ziel war die gemeinsame Wertschöpfung, indem durch die mit Krediten ermöglichte Fähigkeit und Tätigkeit der Armen ein Einkommen erzielt wurde, durch welches eine die Marktwirtschaft stärkende Beteiligung ermöglicht wird. Je mehr Bürger fähig sind, am Marktgeschehen teilzunehmen, desto mehr wächst und floriert ein Markt.
  7. Durch die Kredite sollte ein Bonum, ein Gut, mit Rückgabegarantie in Umlauf gebracht werden, das neues Leben hervorbringt, Existenzgrundlagen schafft, die Initiativen fördert und das Angewiesensein auf karitative Hilfen mindert.

Dabei ging es nicht nur um die Vergabe von Krediten, sondern darüber hinaus um Vertrauen schaffende Maßnahmen, die die Beziehungen zwischen allen Beteiligten stärken sollten. So waren die Zentren der „Monti di Pietà“ nicht nur Gebäude für die Kreditinstitute. Vielmehr waren die „Monti di Pietà“ auch kulturelle und religiöse Zentren, die die Kunst förderten, die Feier weltlicher und kirchlicher Feste organisierten, die Unterstützung von Kranken und Gebrechlichen anboten und auch für würdige Begräbnisse sorgten. Der gesellschaftliche und wirtschaftliche Gewinn wurde eben nicht nur im monetären Profit gesehen. Die Kreditvergaben waren Teil eines Gesellschaftsmodells, das den Gemeinschaftscharakter, Solidarität und ein Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellte, das möglichst vielen Menschen zugutekam.

Die finanzielle Existenz dieser „Monti di Pietà“ wurde unter anderem durch die Predigttätigkeit der Franziskaner gesichert. Sie predigten über die Werte der alternativen Ökonomie und sammelten Geld. Durch diese dem heutigen Fundraising vergleichbaren Predigertätigkeiten erhielten sie Stiftungen, Erbschaften, Beiträge und Investitionsgelder, die zum Startkapital der „Monti di Pietà“ wurden. Ehrlicherweise sollte nicht verheimlicht werden, dass es bei einer Minderheit von Predigern zu Exzessen kam. Diese hielten nicht nur Ansprachen zur positiven Verbreitung der Werte. Vielmehr hielten sie Höllenpredigten gegen den Zinswucher, da dieser viele Menschen in die Armut trieb. Dies mag noch verständlich sein. Jedoch verdammten sie dabei auch Kreditgeber unter den Juden, die damals mancherorts eine Art Kreditmonopol besaßen. Die Folgen bekam dann oft die ganze jüdische Gemeinde vor Ort zu spüren. Diese Prediger werfen einen Schatten auf die positive Geschichte der „Monti di Pietà“. Die historische Realität dieser sozialen Kreditinstitute und Genossenschaften bezeugt dennoch, dass alternative Wirtschaftsmodelle und eine am Gemeinwohl ausgerichtete Ökonomie möglich sind, wenn sich Menschen finden, die von entsprechenden Werten überzeugt sind und sich zusammenschließen, um neue Wege zu gehen.

 

Erstveröffentlichung in der Zeitschrift Franziskaner, Herbst 2023


Ein Kommentar zu “Wie die Franziskaner das Kreditwesen in Europa revolutionierten

  1. Lieber Br. Johannes-Baptist

    Vielen Dank für diesen interessanten Beitrag. Ich habe etwas Neues erfahren, obwohl ich schon reichlich franziskanische Literatur gelesen habe. Als gelernter Bankkaufmann finde ich das Thema ohnehin interessant.
    Spontan kam mir beim Lesen in den Sinn, dass Franziskus selbst das Geld als Eselsmist bezeichnet hatte. 200 Jahre später sind die Franziskaner am Kreditwesen beteiligt. Aber das soll hier nicht der Punkt sein. Ich sehe in diesem Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“ durch Kredite den richtigen Weg zur Bekämpfung der Armut in Afrika und Asien. Es kann NICHT die Lösung sein, die halbe Welt in Europa willkommen zu heissen – zumal wir ja sehen, was aus dem „Wir schaffen das“ der Ex-Bundeskanzlerin geworden ist (siehe Artikel „Schafft ihr das?“ von Br. Thomas Ferencik). Die Hilfe muss vor Ort geschehen und bei den Armen ansetzen. Dass die Milliarden an Entwicklungshilfe in den letzten Jahrzehnten so gut wie nichts bewirkt haben, jedenfalls nicht bei denen, die von Armut direkt betroffen sind, das steht fest. Das Geld ist in dubiosen Kanälen versickert, aber nicht bei den Hilfsbedürftigen angekommen. Aber was funktioniert, das sind Mikrokredite, die die Schaffung einer Existenzgrundlage ermöglichen. Das zeigen indische Frauen, die mit seinem solchen Kleinstkredit einen Laden eröffnen und damit ihre Familien und das Dorf unterstützen können. Warum – und das frage ich mich ganz ernsthaft und nicht polemisch – warum funktioniert das nicht in Afrika? Warum können afrikanische Frauen und Männer nicht mittels Mikrokrediten eine Existenz aufbauen? Mangelt es den Männern grundsätzlich am Willen zu Veränderungen? Oder liegt es daran (das vermute ich nun einmal), dass die wohl mehrheitlich muslimischen Frauen daran gehindert werden, in aller Öffentlichkeit zu arbeiten, z.B. in einem Lebensmittelladen?

    Als Banker (was ich Gott sei Dank nicht mehr bin!) habe ich gesehen, wie dreckig das Bankgeschäft ist. Einzig die Genossenschaftsbanken sind da einigermassen aussen vor. Und doch herrscht auch hier inzwischen das Prinzip der Gewinnmaximierung vor dem des Genossenschaftssinns. Gewinnmaximierung heisst hierbei: Nicht nur Gewinn erzielen – und schon gar nicht Gewinn auf dem gleichen Stand des Vorjahrens. Nein, es muss immer mehr sein als im Jahr zuvor. Ist dies mit dem üblichen Bankgeschäft (Zinsen, Wertpapierhandel u.ä.) zu erreichen, dreht man an der Gebührenschraube (auch zum Nachteil der eigenen Genossenschafter) oder entlässt Personal. Dass das nicht ewig funktionieren kann, müsste eigentlich jedem logisch denkenden Menschen klar sein. Der Kapitalismus schaufelt sich sein eigenes Grab. Vielleicht kommen wir dann eines Tages wieder auf die „Monti di Pietà“ zurück.

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