Im Bekehrungsprozess des Heiligen Franziskus von Assisi spielt das Kreuzbild der Kapelle San Damiano, das ihn anspricht, zusammen mit der Aussätzigen-Begegnung und dem in Portiuncula gehörten Evangelium von der Jüngersendung, eine entscheidende Rolle. Die nähere Betrachtung des Kreuzes erhellt, wie der weitere Lebensweg durch diese Ikone geprägt wird.
Nachdem sein Jugendtraum Ritter zu werden geplatzt war, seine Gesundheit durch einen längeren Kerkeraufenthalt nach einer verlorenen Schlacht angeschlagen ist und er in einer Sinnkrise nach neuen Werten sucht, soll Franziskus diese Worte vor dem Kreuzbild in der verfallenen Kapelle von San Damiano gebetet haben: „Erleuchte die Finsternis meines Herzens!“ Woraufhin ihn der Gekreuzigte angesprochen habe: Siehst du nicht, dass mein Haus in Verfall gerät? Geh also hin und stelle es mir wieder her!
Wenn von Franziskus selbst auch kein Bericht über dieses Ereignis überliefert ist, so wird es doch von den Biographen als eine der entscheidenden Begebenheiten seiner Bekehrungs- und Berufungsgeschichte erzählt. Zeitgleich ereignet sich die Begegnung mit den Aussätzigen, welche Franziskus selbst in seinem Testament als das entscheidende Bekehrungserlebnis anführt und im gleichen Atemzug mit seiner Verehrung des Kreuzes Christi an den Anfang seines Lebensrückblickes stellt. Da die Begegnung mit dem Gekreuzigten von San Damiano ein wichtiges Element für Franziskus’ Berufungsgeschichte darstellt, lohnt sich eine vertiefende Betrachtung dieser Kreuzikone.
Schon ein erster Blick auf dieses Kreuzbild lässt erkennen, dass es sich nicht um eine klassische Kreuzesdarstellung handelt, wie es uns in Europa vertraut ist. Tatsächlich handelt es sich um eine Ikone, die im Laufe des 12. Jahrhunderts von einem syrischen Mönch, der wohl dem orthodox-orientalischen Ritus angehörte, gemalt wurde. Eine größere Ansiedlung dieser aus dem Vorderen Orient aufgrund der Kriegshandlungen geflüchteten Mönche gab es auf dem Monteluco bei Spoleto. Dieser Berg wurde auch bis ins 15. Jahrhundert hinein der Monte Athos des Westens genannt. Von den Mönchen wurden viele dieser Kreuzikonen in Umbrien verbreitet.
Ikone des Johannesevangeliums
In der Spiritualität dieser orientalischen Mönche spielte die Theologie des Johannesevangeliums eine herausragende Rolle. So folgt die Darstellung der Ikone von San Damiano auch den großen Linien der Johannestheologie. Die wichtigsten Aussagen der Botschaft dieses Evangeliums sind auf diesem Kreuzbild unter dem Motto „die Verherrlichung des Christusmysteriums“ (Joh 17,1-8) dargestellt. Die Abbildungen folgen der Botschaft des Johannesevangeliums vom Wort Gottes, das als Licht der Welt durch die Liebe die Finsternis überwindet und alle, die an Christus glauben, zu Kindern Gottes macht (Joh Prolog sowie Kap. 15).
Fast wie ein Echo erklingt diese Kunde im Gebet des Franziskus: „Erleuchte die Finsternis meines Herzens und schenke mir rechten Glauben, sichere Hoffnung und vollkommene Liebe.“ Die verschiedenen Szenen des Kreuzbildes basieren besonders auf den johanneischen Abschiedsreden Jesu (Joh Kap. 13-17). Die Aussagen dieser Texte werden in den Schriften des Franziskus direkt oder indirekt zitiert, von ihm meditiert und in die konkrete Lebenssituation der Brüder und Schwestern übertragen. Dabei kristallisieren sich fünf große Themen heraus, die sich Franziskus wohl auch über die Betrachtung des Kreuzbildes erschlossen haben und die er in seine Lebensform übernahm:
Die Perikope von der Fußwaschung (Joh 13) liegt der Ausprägung der Autorität und der Ausübung von Ämtern als Dienst in der Gemeinschaft der Minderbrüder zugrunde; die Selbstaussagen Jesu „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ und ihre Ausdeutung durch den Evangelisten (Joh 14) prägen die Spiritualität der Gottesbeziehung der Brüder und Schwestern; das Liebes- und Freundesgebot (Joh 15) soll die Beziehungen zwischen den Brüdern und den Schwestern formen; der durch Jesus angekündigte Gottesgeist (Joh 16), auf dem Kreuzbild als ausgestreckter Finger Gottes dargestellt (nach der 3. Strophe des „Veni Creator Spiritus“ von Rabanus Maurus, 9. Jahrhundert), soll die Bruderschaft leiten und führen; das sogenannte hohepriesterliche Gebet Jesu für die Jünger (Joh. 17) beeinflusst nicht nur das Gebetsleben des Franziskus, seiner Brüder und Schwestern, darüber hinaus charakterisiert es auch die Beziehung zur und den Umgang mit der Welt, die eben nicht nur Gott zugewandt ist.
Evangelium und Aussätzige
Die Betrachtung der Kreuzikone in einer wichtigen Stunde seines Lebens scheint Franziskus veranlasst zu haben, sich tiefer mit der Botschaft des Johannesevangeliums auseinanderzusetzen. Vor allem die sogenannten Abschiedsreden Jesu, die auf dem Kreuz von San Damiano bildlich angedeutet werden, haben dann das Gebetsleben und den Lebensstil des ersten Brüder- und Schwesternkreises geprägt, wie es die Franziskusschriften deutlich belegen. Dabei wird auch offensichtlich, wie Franziskus sich dem Wort der Heiligen Schrift angenähert hat.
Er hat nicht den Schrifttext als solchen interpretiert, vielmehr übersetzt er die Botschaft des Evangeliums auf existenzielle Art und Weise in die damalige konkrete Lebenssituation der Brüder und Schwestern. So interpretiert er die eigene Situation im Lichte des Evangeliums. Daher wird ihm, wie er es in der Regel und in seinem Testament ausdrückt, das Evangelium zur Lebensform. Es geht Franziskus dabei nicht um eine Spiritualisierung des Lebens, sondern eher um eine Inkarnation, Fleischwerdung, des Geistes des Evangeliums im Handeln der Brüder und Schwestern und somit im konkreten Alltag. Dass er vom Kreuzbild angesprochen gleich zupackt und Steine für den Wiederaufbau der verfallenen Kapelle sammelt, bezeugt diese Grundhaltung, das gehörte und betrachtete Wort Gottes in die Tat umzusetzen.
Wenn wir so die Bedeutung des Kreuzes von San Damiano für die franziskanische Lebensform bedenken, dürfen wir dabei nicht vergessen, dass in einer existenziellen Krisensituation seines Lebens Franziskus dem Johannesevangelium in der Kreuzikone und mehr oder weniger in Koinzidenz auch den Aussätzigen begegnet und zu ihrem Freund wird. Auch dies ist eine existenzielle Begegnung, die ihn zum Handeln veranlasste. Zwar berichtet das Johannesevangelium selbst nicht direkt von einer Heilung der Aussätzigen durch Jesus, aber Franziskus mag dies durch die entsprechenden Perikopen der synoptischen Evangelien von Markus, Matthäus und Lukas bekannt gewesen sein. So verbindet er in seinem religiösen Bewusstsein die Aussätzigen mit dem Bild des auferstandenen Gekreuzigten der San Damiano-Ikone und erweist ihnen einen dem Evangelium gemäßen Liebesdienst, der seine eigene Gefühlswelt auf den Kopf stellt und zum Auslöser seiner Lebensveränderung wurde.
Die Betrachtung der Kreuzikone, die Begegnung mit den Aussätzigen sowie das dann in Portiuncula gehörte Evangelium von der Aussendung der Jünger bilden drei entscheidende Ereignisse im Bekehrungsprozess von Franziskus. Der als Abschluss dieses Prozesses der Lebensumkehr erwachsene missionarische Sendungscharakter der franziskanischen Berufung orientierte sich auch in den nachfolgenden Generationen der Brüder und Schwestern am dienenden Geist des „fleischgewordenen Wortes“, wie es im Johannesevangelium verkündet wird und auf der San Damiano-Ikone dargestellt wurde.