Kerstin Meinhardt

Verantwortliches Handeln für ein friedliches Europa

Papst ruft Christen zum Engagement für Europa auf

2018 trafen sich in Brüssel Vertreter der katholischen Bischofskonferenzen der Europäischen Union (COMECE) mit
Federica Mogherini, der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik in Brüssel: Bild von COMECE.

„Der erste und vielleicht größte Beitrag, den die Christen dem heutigen Europa bringen können, ist es, daran zu erinnern, dass es nicht eine Ansammlung von Zahlen oder Institutionen ist, sondern aus Menschen besteht. Leider ist festzustellen, wie sich jegliche Debatte oft leicht auf eine Diskussion über Zahlen reduziert. Es gibt nicht die Bürger, es gibt die Stimmen bei Wahlen. Es gibt nicht die Migranten, es gibt die Quoten. Es gibt nicht die Arbeiter, es gibt die Wirtschaftsindikatoren. Es gibt nicht die Armen, es gibt die Armutsgrenzen. Die konkrete menschliche Person wird so auf ein abstraktes, bequemeres und beruhigenderes Prinzip reduziert. Der Grund hierfür ist verständlich: Die Personen haben Gesichter, sie verpflichten uns zu einer realen, tatkräftigen „persönlichen“ Verantwortung; die Zahlen beschäftigen uns mit Gedankengängen, die auch nützlich und wichtig sind, aber sie werden immer seelenlos bleiben. Sie bieten uns den Vorwand, um uns nicht zu engagieren, weil sie niemals unser Fleisch anrühren. Zu erkennen, dass der andere vor allem eine Person ist, bedeutet, das wertzuschätzen, was mich mit ihm verbindet. Das Personensein bindet uns an die anderen, lässt uns Gemeinschaft werden.

Der zweite Beitrag, den die Christen zur Zukunft Europas beisteuern können, ist also die Wiederentdeckung des Sinns für die Zugehörigkeit zu seiner Gemeinschaft. Nicht von ungefähr haben die Gründerväter des europäischen Projekts gerade dieses Wort gewählt, um dem neuen politischen Subjekt, das sich gerade bildete, seine Identität zu geben. Die Gemeinschaft ist das stärkste Gegengift gegen die Individualismen, die unsere Zeit kennzeichnen, gegen die heute im Westen verbreitete Tendenz, sich als Einzelwesen zu begreifen und demgemäß zu leben. Man miss-versteht den Begriff der Freiheit, indem man ihn so auslegt, als wäre er die Pflicht zum Alleinsein, losgelöst von jeder Bindung. Infolgedessen hat sich eine entwurzelte Gesellschaft entwickelt, der der Sinn für die Zugehörigkeit und für das Erbe fehlt. (…) Person und Gemeinschaft sind also die Fundamente des Europas, zu dessen Aufbau wir als Christen beitragen wollen und können. Die Mauersteine dieses Baus heißen: Dialog, Inklusion, Solidarität, Entwicklung und Frieden.“

Papst Franziskus, 28. Oktober 2017, Auszug aus der Ansprache an die COMECE

 


Bei ihrer Vollversammlung im vergangenen Herbst riefen die Bischöfe der Europäischen Union zu einem verantwortlichen und reflektierten Handeln hinsichtlich der im Mai stattfindenden Europawahl auf. Durch die Teilnahme am politischen Leben sollten sich Christen und alle Menschen guten Willens für das Gemeinwohl einsetzen, Brücken des Dialogs bauen und ein integratives Europa fördern, das auf die ganzheitliche Entwicklung des Menschen, der Familien und ihrer Gemeinschaften ausgerichtet ist. Im Vorfeld der Europawahl sprachen wir mit Stefan Lunte, einem Mitarbeiter der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Union (COMECE ), der zugleich Generalsekretär von Justitia & Pax Europa ist.

Am 26. Mai finden bei uns in Deutschland zum 9. Mal die Direktwahlen zum europäischen Parlament statt. Die europäischen Bischöfe haben mit Blick auf die Europawahl zu einem verantwortlichen und reflektierten Handeln aufgerufen. Was steht gegenwärtig auf dem Spiel?

Es ist eine besondere Wahl. Nicht eine Europawahl, wie wir sie schon kannten, sondern eine Wahl, die in ganz Europa in hohem Maße Gegner der europäischen Einigung in den Wahlkampf ziehen lässt. Es ist schon so etwas wie eine Ja/Nein-EU-Wahl – vielleicht nicht unbedingt in Deutschland, aber in anderen Ländern ist das schon sehr stark ausgeprägt.

Wir erleben seit einigen Jahren eine Schwächung der europäischen Idee. Ausdruck davon sind – neben dem Brexit – auch der Aufschwung rechtspopulistischer Parteien in vielen europäischen Ländern, darunter auch in unseren Nachbarländern. Womit würden Sie im Gespräch mit Menschen werben, die eine europakritische oder gar europafeindliche Position haben?

Zunächst einmal würde ich den Menschen genau zuhören und ihnen sagen, dass die Europäische Union in der Tat viele der Versprechen, die sie gegeben hat, bisher nicht eingelöst hat. Da war, ganz am Anfang, die Rede von der wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsregion der Welt, dann ging es weiter zu einem sozialeren Europa, und schließlich war die Rede davon, Forschung und Entwicklung ganz nach vorne zu stellen. Doch dann kam die Finanzkrise dazwischen, und viele der Erwartungen sind nicht erfüllt worden. Die Währungsunion mit dem gemeinsamen Euro wurde auch als ein großes Projekt der Vertiefung der europäischen Union angekündigt. Doch Fakt ist für viele Menschen, dass dies Europa gespalten hat in Nord und Süd. 2004 wurde gesagt, „wir bringen den neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Wohlstand und schnelles Aufholen“ – auch das ist so nicht gelungen, im Gegenteil. Viele Regionen – vor allem Mittel- und Osteuropa – verlieren an Einwohnern, verlieren an Unternehmen, verlieren an jüngerer Bevölkerung. Sie verlieren auch an Kapital, das dort nicht investiert wird. Zu¬nächst einmal muss man den Menschen deshalb in vielen Dingen teilweise recht geben, dass Versprechen gegeben worden sind, die nicht eingehalten wurden. Aber nichtsdestotrotz macht die europäische Einigung weiterhin Sinn! Sie hat es seit 70 Jahren geschafft, dass es innerhalb der Europäischen Union keine Gewaltanwendung mehr gab, keinen Krieg. Es ist sehr wichtig, das nicht gering zu schätzen! Auch wenn wir erleben müssen, dass gelegentlich Spannungen hochkommen – wie aktuell zwischen Italien und Frankreich. Und zweitens kann kein einziges der Mitgliedsländer den globalen Wettbewerb alleine bestehen. Die großen Fragen der Digitalisierung oder die Fragen der Aufrüstung oder Abrüstung oder die Frage des Klimaschutzes – all das muss Europa gemeinsam angehen, alleine kommt da kein Land sehr weit.

Sehen Sie Chancen, dass die Europäische Union mehr wird als eine Wirtschaftsunion, dass die fehlenden sozialen Standards auch entwickelt werden? Es gibt zudem viel Unzufriedenheit wegen der Demokratiedefizite und wegen einer überbordenden Bürokratie…

Natürlich, diese Chancen zur Veränderung gibt es! Gerade jetzt wird über den nächsten Finanzrahmen verhandelt. Der wird erst nach den Europawahlen endgültig beschlossen werden. Danach legen die Mitgliedstaaten fest, wie viel Geld sie in die gemeinsame Kasse einzahlen und wie viel Geld davon in welche Politiken geht. Da kann man schon steuern und sagen, wir möchten einen Schwerpunkt setzen auf die Hilfe für benachteiligte oder schwächere Regionen Europas. Das ist nicht nur möglich, dafür wird man auch streiten müssen.

Man darf auch sagen, dass – bei aller Bestürzung über das Ausmaß der Finanzkrise von 2008/2009 – viele Dinge geschehen sind: Bankenüberwachung, Einbeziehung von privaten Gläubigern bei einer Bankenkrise … Politik ist immer auch die Möglichkeit, Dinge anders – besser! – zu gestalten.

Wie schätzen Sie die gegenwärtig zu beobachtenden Versuche ein, Europa stärker eine gemeinsame militärische Strategie zu verordnen? Die „Friedensmacht Europa“ wird oftmals als wichtiges, identitätsstiftendes Kriterium genannt. Wäre es da nicht eher zu erwarten, dass stärker auf Konfliktprävention gesetzt wird, auf die Entwicklung einer europäischen zivilen Konfliktbearbeitungsstrategie oder auch die Einrichtung eines Frühwarnsystems für Konflikte, die militärisch zu eskalieren drohen?

Ja natürlich. Das wird auch schon getan von der Europäischen Union. Viele der zivilen Optionen, darunter gerade auch die zur Vorbeugung von Konflikten oder im Bereich der humanitären Hilfe und der Entwicklungshilfe. In diesen Bereichen ist die Europäische Union gemeinsam mit den anderen Mitglied-staaten weltweit der größte Geber und Akteur. Sicher, da ließe sich noch mehr tun. Es muss allerdings auch in Rechnung gestellt werden, dass es in dieser Frage auch andere Wahrnehmungen gibt. Die Situation ist eine andere, wenn man nicht in der Mitte Europas lebt, in Deutschland, in Österreich oder auch Belgien und den Niederlanden, wo es keine europäischen Außengrenzen gibt, sondern beispielsweise im Baltikum oder in Griechenland, Zypern. Dort herrscht die Wahrnehmung, dass man es mit Nachbarstaaten zu tun hat, die massiv auf¬rüsten, die sich häufig nicht an Vereinbarungen halten, die aggressiv agieren – ich denke an Russland, ich denke an die Türkei. Aus so einer Position heraus entsteht das Bedürfnis, Stärke zeigen zu können. Ich glaube, es ist wichtig, das auch anzuerkennen.

Sehen Sie denn eine Perspektive für eine gemeinsame Militärpolitik? Wir haben ja nicht die Vereinigten Staaten von Europa, sondern eigenständige Nationalstaaten mit einer eigenen militärischen Politik …

Eine gemeinsame Militärpolitik würde heißen „eine gemeinsame Armee“. Dafür sehe ich keine Perspektive, auch wenn das von Frau Merkel oder Herrn Macron ins Spiel gebracht wurde. Wer wollte denn derjenige sein, der dann für ganz Europa entscheidet, ob wir eine Armee einsetzen oder nicht. Das ist eine ganz heikle und spezielle Frage. Da weiß ich nicht, wem wir das in Europa anvertrauen sollten.

Allerdings, wenn Sie von einer Verteidigungspolitik sprechen, was nicht das Gleiche ist wie eine Militärpolitik, dann kann man sicher manches gemeinsam tun, zum Beispiel die Zusammenarbeit verbessern, sich bei Auslandseinsätzen besser koordinieren, genauso wie es auch ein besser koordiniertes Beschaffungswesen geben könnte. Dies ist auch zu befürworten, wenn wir aus unserer katholischen Perspektive für Abrüstung sind, denn es macht keinen Sinn, dass es in Europa 20 verschiedene Flugzeugtypen gibt oder 14 verschiedene Panzertypen, 50 verschiedene Gewehre. Es ist sinnvoll, sich auf einen gemeinsamen Standard zu verständigen. Das gehört auch in den Rahmen von Verteidigungspolitik, das ist sicher ein Bereich, wo noch viel getan werden kann.

Herr Lunte, ich sprach vorhin davon, dass das Selbstverständnis Europas, Friedensmacht zu sein, identitätsstiftend sein könnte. Aber ganz nüchtern betrachtet: Fehlt nicht eigentlich eine europäische Identität? Wir haben keine gemeinsame Sprache in Europa, es gibt sehr große Ost-West- und Nord-Süd-Unterschiede. Was könnte eine gemeinsame Klammer sein? Es wurde gelegentlich gesagt, die Erfahrung der Shoa sei etwas, das uns alle in Europa tief geprägt habe, und die daraus resultierende Forderung „Nie wieder Auschwitz“ könne die Grundlage eines gemeinsamen Auftrags – einer gemeinsamen Zukunftsorientierung – sein. Wie schätzen Sie das ein?

Natürlich, „Nie wieder Auschwitz“, „Nie wieder Shoa“, das eint alle Europäer. Nicht alle tragen das gemeinsame historische Schicksal, die gleiche historische Verantwortung vor diesem Grauensdatum, aber bezüglich „Nie wieder Auschwitz“ sind sich alle einig in Europa.

Darüber hinaus gibt es die identitätsstiftende Erfahrung junger Menschen, die im Rahmen ihrer Studien durch Europa gereist sind, so zum Beispiel mit dem Erasmus-Programm. Und wir sollten uns die Tatsache vor Augen halten – das liegt mir sehr am Herzen –, dass wir ein gemeinsames historisches und kulturelles Erbe haben. Das wird sehr deut¬lich, wenn Sie zum Beispiel auf die Romanik, auf die Gotik, auf den Barock schauen. All das hat diesen Kontinent durch die Jahrhunderte geprägt, und zwar gemeinsam! Die Bauwerke der Romanik finden Sie überall in Europa, ebenso die des Barocks oder der Gotik. Auch das eint uns. Ich glaube, der Blick darauf macht uns allen stärker bewusst, dass wir zusammengehören. Wenn wir den Kölner Dom betrachten und dann ein vergleichbares Motiv auf einem Gemälde in Frankreich sehen, dann wird deutlich, dass wir aus einem gemeinsamen Erbe schöpfen.

Erzbischof Jean-Claude Hollerich, der Präsident der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Union sagte, „Christen sind keine Interessensgruppe, die lediglich zugunsten von Religionen sprechen, sondern europäische Bürger, die sich dem Aufbau Europas verschrieben haben, unseres gemeinsamen Hauses“. Wie kann der spezifische Beitrag der katholischen Bischofskonferenzen zum Friedensprojekt Europas sein – oder ganz allgemein: Was wäre der Beitrag von uns Christen zum Bewahren des Erbes, von dem Sie eben gesprochen haben?

Nehmen Sie sich ein Beispiel an Papst Franziskus, der sein Pontifikat auch europäisch geprägt hat. Inzwischen sind es sechs große Reden zur europäischen Einigung, die er gehalten hat. Das inspiriert alle Bischöfe und könnte auch alle Gemeinden und Ordensgemeinschaften inspirieren! Wir haben einen Papst, der erkannt hat, dass in diesem europäischen Einigungsprozess ein Zeichen für die Welt zu lesen ist. Immer wieder auf die Bedeutung dieses Einigungsprozess zurückzukommen, zum Dialog, zum Gespräch zu bitten, das ist ein wichtiger Beitrag, der Kirche, der Bischofskonferenzen. Sie können das noch mal ganz besonders tun, in dem Sie die Enzyklika „Laudato sí“ zum umfassenden Begreifen der Umweltfrage mit ins Gespräch bringen. Wichtig daran ist einerseits eine Infragestellung der unsere Welt prägenden Wirtschaftsmodelle und zugleich die Aufforderung an alle Europäer, darüber nachzudenken, wie wir eine Sozial- und Wirtschaftsform schaffen und wie wir einen Lebensstil fördern können, der den ökologischen Herausforderungen gerecht wird.

Papst Franziskus im Gespräch mit Vertretern der COMECE und deren neu gewählten Präsidenten
Erzbischof Jean-Claude Hollerich (2.v.l.) Bild von COMECE

Herr Lunte, vielen Dank für das Gespräch.

Erstveröffentlichung Zeitschrift Franziskaner / Frühjahr 2019


Stefan Lunte

COMECE

Die COMECE ist die Kommission der katholischen Bischofskonferenzen der Europäischen Union. Sie besteht aus delegierten Bischöfen der 28 Mitgliedstaaten. Bischof Franz-Josef Overbeck vertritt die deutsche Bischofskonferenz. Die COMECE begleitet den politischen Prozess der Europäischen Union und steht im Dialog mit EU-Politiker*innen, Parlamentsmitgliedern und leitenden EU-Beamt*innen. Zweimal im Jahr tagt die Kommission; die Kontinuität der Arbeit wird durch das Brüssler Sekretariat der COMECE gewährleistet.

Stefan Lunte ist Mitarbeiter der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Union (COMECE ) und zugleich Generalsekretär von Justitia & Pax Europa.


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