13.10.2015 Bruder Ibrahim Ibrahim Sabbagh, Aleppo, Syrien

Man raubt Syrien die Fachkräfte und die Zukunft

Ein Brief von Bruder Ibrahim, Pfarrer in Aleppo (Syrien)

Bruder Ibrahim (vorne links) auf den Strassen von Aleppo im Frühjahr 2015
Bruder Ibrahim (vorne links) auf den Strassen von Aleppo im Frühjahr 2015

Syrien erlebt zur Zeit eine Tragödie und ist dabei, seine Zukunft zu verlieren. Das trifft in besonders deutlicher Weise hier auf Aleppo zu, einer Märtyrerstadt in diesem schmutzigen Krieg. Es gibt keine genauen Zahlen auf nationaler Ebene, aber in unserem örtlichem Umfeld sind in den letzten drei Monaten – den bisher schwierigsten – etwa 10% meiner Gemeindemitglieder weggegangen. Es ist ein unaufhaltsamer Prozess der Auswanderung innerhalb des Landes in andere Städte und außerhalb von Syrien.

 

In allen Strukturen der Zivilgesellschaft sehen wir eine Verarmung des Landes, vor allem von jungen Männern: Ingenieure, Ärzte, Schuldirektoren und Lehrer aller Stufen. Auch in unserer Pfarrei St. Franziskus sehen wir dieses endlose Abtröpfeln, das alle Pfarrgruppen und Verbände betrifft. Ein kleines Beispiel: In den vergangenen Monaten mussten wir neue Chorleiter ernennen, an Stelle derer, die uns nach und nach verlassen haben. Wir mussten uns mit Personen zufrieden geben, die eine geringere Ausbildung besitzen. Jetzt wissen wir, was es bedeutet, Mangel an erfahrenen Mitarbeitern zu haben, die für viele Jahre in der Pfarrei „den Karren gezogen haben“.

Diese Migration, die so viele Menschen und ganze Familien betrifft, findet spontan und ungeordnet statt. Die Menschen, die fliehen, setzen sich nicht weniger großen Gefahren aus als diejenigen, die in Aleppo unter den Bomben bleiben; selbst auf die Todesgefahr hin, wie es die Tragödien belegen, die sich auf dem Meer oder auf den Landwegen ereignen. In mehreren Fällen von Familien, die ausgewandert sind und sich in Sicherheit befinden, erfolgt ein „Bruch“ innerhalb der Familie, weil es den Eltern nicht gelingt, die sehr harte erste Phase der Anpassung, der wie ein „Kulturschock“ ist, zu überwinden. Oder weil die plötzliche Änderung der Lebensbedingungen ernsthaft die psychische Sphäre beeinträchtigt. Mit dem Verlust des inneren Friedens werden die Personen stark verletzbar.

Wir Franziskaner, die für diese Pfarrei in Aleppo verantwortlich sind, versuchen das Unmögliche zu tun, um dieses Ausbluten zu stoppen, indem wir sowohl die Einzelnen als auch die Familien auf jede mögliche Weise unterstützen. Aber wir können niemanden zwingen zu bleiben und noch weniger andererseits jemand ermutigen wegzugehen. Mit dem Fortbestand dieser chaotischen Lage und des Mangels an Sicherheit, Strom, Wasser, Treibstoff, Nahrung und Arbeit ist es sicherlich nicht schwer zu verstehen, warum so viele sich entscheiden wegzugehen.

Europa muss das offene und direkte Wort von Papst Franziskus zur Kenntnis nehmen, der immer wieder darum gebeten hat, die Flüchtlinge aufzunehmen. Zugleich zeigte er die Notwendigkeit auf, die wahren Gründe dieser Migration zu erkennen, um versuchen zu können, die dramatischen Probleme von der Wurzel her zu lösen. Dies ist fundamental wichtig, weil es bedeutet, die Art, Politik zu machen, zu ändern, indem man durch eine tiefgreifende „Bekehrung“ des Denkens und Handelns geht. Leider jedoch bleiben verschiedene Länder – wenn sie es umsetzen – nur beim Hören des ersten Teils des Aufrufes vom Papst stehen. Sie verschließen sich und ignorieren völlig den zweiten Teil, der in der Umsetzung viel schwieriger ist.

Ein Bild aus glücklicheren Tagen: Bruder Ibrahim mit Schulkindern (Archivbild)
Ein Bild aus glücklicheren Tagen: Bruder Ibrahim mit Schulkindern (Archivbild)

In Bezug auf das Thema der Aufnahme der Flüchtlinge sind wir der Meinung, die auf Erfahrung gründet, dass es notwendig ist, die Liebe zum Ausdruck zu bringen, aber die Liebe in der Wahrheit. Es ist notwendig, die Grenzen zu öffnen und sich aller Menschen anzunehmen, die sich in Not befinden, Aber es ist auch notwendig, nie damit aufzuhören zu unterscheiden und zu bewerten. Viele unserer christlichen Brüder, die sich nach Europa begeben haben, haben uns erzählt, dass sie sich im Verlauf ihrer Reise in der Nähe von Personen befunden haben, die in sich den „Samen“ des Islamischen Staates getragen haben, und diese waren sich so sicher nicht bestraft zu werden, dass sie davon mit lauter Stimme und ohne Skrupel gesprochen haben.

Wir werden nicht müde zu wiederholen, dass wenn man Syrien seinem Schicksal überlässt, so wie den ganzen Nahen Osten, es eine Tragödie für die ganze Menschheit wäre. Aber auch dass diese Situation bereits ein unkalkulierbarer Schaden an dem Zeugnis der historischen Gegenwart Christi ist und eine stechenden Wunde an der Botschaft des Evangeliums, die nie aufhören sollte, in diesem Land zu erklingen. Niemandem hat der Herr die Erlaubnis gegeben, den Baum des Christentums, der hier vor zweitausend Jahren eingepfropft wurde und verwurzelt ist, auszureißen. Er ist bewässert durch das Blut der Märtyrer und das Zeugnis unzähliger Heiliger. Wenn ich sage „Niemand“, dann beziehe ich mich nicht nur auf den islamischen Fundamentalismus, sondern auch auf uns, die wir die zweitausendjährige Kirche des Ostens sind.

Mit dieser Weisung ist in uns die Gewissheit gegeben, dass Gott auch heute gegenwärtig ist, auch hier in den Trümmern von Aleppo, und dass „die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen werden“ und dass der Herr immer ein „Mehr“ des Guten für den, der ihn liebt, hervorquellen lässt, auch aus dem Bösen.

Wir werden weiterhin unsere Leute ermutigen, „zu hoffen gegen alle Hoffnung“, indem sie mit Mut das Kreuz eines jeden Tages tragen.

Wie der heilige Johannes Chrysostomus in einem Brief, den er in seinem letzten Exil geschrieben hat, sagte, verkünden die dunklen Wolken und Stürme, die durch die gesamte Geschichte der Kirche ziehen, schon das „schöne Wetter“ des nächsten Tages. In unserem ständigen Gebet finden wir die Energie, um weiterhin mit den Augen des Herzens zu sehen, dass es etwas Schönes und Leuchtendes gibt, das nach diesem Sturm die Kirche des Nahen Ostens erwartet: Es ist eine Erwartung, keine vergebliche, einer neuen Zeit des Zeugnisses und der Ausbreitung des Reiches Gottes.

 

Brief von Pater Ibrahim Sabbagh OFM, Pfarrer in der St. Franziskus Gemeinde, Aleppo/Syrien am 12. Oktober 2015. Erschienen in der italienischen Zeitung Avvenire. Übersetzung aus dem Italienischen von Pater Paul Waldmüller OFM


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